Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) The French left needs to urgently learn the art of compromise

Die neuesten politischen Entwicklungen in Frankreich bieten wichtige Lehren, auch für Deutschland. Emmanuel Macrons Projekt, die traditionellen politischen Lager zu überwinden und eine neue mittige Sammlungspartei zu etablieren, ist gescheitert. Trotz des Überraschungserfolgs seiner Partei „Renaissance“ als zweitstärkste Kraft bei den Neuwahlen landete das linke Bündnis „Nouveau Front Populaire“ (NFP) auf dem ersten Platz. Die Wahl hat Frankreich in drei Blöcke aufgeteilt: links (NFP), Mitte (Macrons Koalition) und rechts (Rassemblement National, RN). Obwohl der RN nicht regieren wird, bleibt er die stärkste Partei. Das NFP muss nun die Herausforderung meistern, eine stabile Mitte-Links-Koalition zu bilden. Jean-Luc Mélenchon von der radikalen Linken beansprucht die Führungsrolle innerhalb des Bündnisses und fordert die Ernennung eines Premierministers aus den NFP-Reihen. Die Zukunft der französischen Politik ist ungewiss. Macrons Kalkül könnte zu mehr Instabilität führen, aber auch eine Chance bieten, die politische Landschaft neu zu strukturieren. Für den Erfolg des NFP ist die Fähigkeit zum Kompromiss entscheidend. Andernfalls könnten die Reformisten Allianzen mit zentristischen Parteien und dem sozialdemokratischen Flügel von Macrons Bewegung eingehen. Diese Situation zeigt, dass stabile politische Strukturen wichtig sind, um extremen Parteien entgegenzuwirken. In Deutschland sollte die Union weiterhin eine starke, maßvolle Rolle spielen, um den Aufstieg der AfD zu begrenzen und politische Stabilität zu gewährleisten. Die Lehren aus Frankreich unterstreichen die Bedeutung einer stabilen und moderierenden politischen Mitte, um den Herausforderungen des politischen Extremismus zu begegnen. (Sylvie Kauffmann, Financial Times)

Das ist genau das, was ich den Kommentaren zum letzten Vermischten angesprochen habe: Mélenchon ist aus deutscher Sicht außenpolitisch betrachtet die Traufe von Le Pens Regen. Soweit das mein beschränkter Überblick zulässt, sind seine Haltungen für uns und die EU nicht sonderlich viel erbaulicher. Die Frage, wenn es um die Bewertung der beiden radikalen Alternativen geht (ein Vergleich, der uns bei der nächsten Präsidentschaftswahl hoffentlich erspart bleibt) ist die der Demokratie. Ich habe immer noch bei weitem nicht genug Sachkenntnis über französische Innenpolitik, um eine vernünftige Bewertung abgeben zu können und schreibe diesen Punkt vor allem, um meine Maßstäbe deutlich zu machen: ich bevorzuge die von zwei Alternativen, die die Demokratie nicht zerstören will, oder doch zumindest am wenigsten Bedrohung für sie darstellt. Gibt es da keinen Unterschied bevorzuge ich aus Policy-Gründen vermutlich (erneut: nicht genug Sachkenntnis) die linke Alternative, kann mich dann aber auch nicht beschweren, wenn andere die rechte bevorzugen. Ich sehe nur in Le Pen eine größere Gefahr, weil sie den viel größeren und organisierteren Block unter sich hat. Was man gerade schon sehen kann ist ja das übliche Muster, dass die radikale Linke viel zu blöd dafür ist, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Von daher wäre die Hoffnung, dass sich eine Mitte-Regierung herausbildet und wir alle diese Phase der gestärkten Ränder überstehen und bald Kolumnen über die Renaissance der demokratischen Mitte lesen können...

2) The European Union in Search of Its Own Mythology

Der Einfluss von Mythen und ihrer Gestaltung auf die ideologische und identitäre Agenda wurde lange Zeit unterschätzt. Mythen beeinflussen das Verhalten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene erheblich. Ein funktionierendes Staatsmodell, sei es durch strategische Planung oder durch fest verankerte Mythen, nutzt diese als treibende Kraft. In der Europäischen Union (EU) zeigt sich die Bedeutung von Mythen besonders stark. Nach den Verträgen von Amsterdam und Lissabon basiert die EU auf den Werten der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Diese Werte wurden nach zwei verheerenden Weltkriegen zum zentralen Mythos der EU, um unter dem inoffiziellen Motto „Nie wieder“ Frieden, Harmonie und Kooperation zu fördern. Jedoch hat die EU trotz ihrer wirtschaftlichen und politischen Erfolge Schwächen, besonders in der ideologischen Plattform, die sie anfällig für äußere Einflüsse macht. Die Frage bleibt, ob die EU eine starke mythologische Grundlage hat, um gegen ideologisch aktive Gegner wie Russland und China bestehen zu können. Mythen sind für die menschliche Wahrnehmung notwendig, um kulturelle oder soziale Phänomene zu vereinfachen oder zu systematisieren. Die EU muss sich der Herausforderung stellen, eine gemeinsame europäische Identität zu entwickeln, die über nationale Unterschiede hinweggeht. Die Symbolik der EU, wie der „Tag Europas“ und das Motto „In Vielfalt geeint“, betonen diese Einheit, doch es fehlt an einem einheitlichen, starken Mythos, der die unterschiedlichen nationalen Identitäten zusammenführt. Die derzeitige geopolitische Lage erfordert die Konstruktion eines neuen, stärkeren Mythos, der die EU-Mitgliedsstaaten angesichts externer Bedrohungen vereinen kann. Eine solche symbolische Grundlage muss mit etablierten nationalen Kulturen konkurrieren und die EU als kohärente Einheit darstellen. Dies ist besonders wichtig angesichts des Aufstiegs rechtsextremer Parteien, die nationale Agenden vorantreiben und die zentrale europäische Mythologie schwächen könnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die EU im postkalten Krieg nicht aktiv pan-europäische Mythen gefördert hat. Ihre Attraktivität basiert auf ihrem wirtschaftlichen und sozialen Modell sowie auf dem nationalen kulturellen Erbe ihrer Mitgliedsstaaten. Der Mangel an einer einheitlichen, entwickelten Mythologie führt dazu, dass die Menschen die europäische Geschichte leicht als Folklore abtun. Die EU befindet sich in einer Krise der Selbstidentifikation und muss neue bedeutungsvolle Mythen finden, um den aktuellen globalen und internen Herausforderungen zu begegnen. (Olena Pogotilo, Österreichische Gesellschaft für Europapolitik)

Gerade in Deutschland, aber auch auf Ebene der EU neigen wir dazu, die Bedeutung von Mythen zu unterschätzen. Die Mythen, die wir haben, verleugnen wir gerne und sehen sie als losgelöst von der Politik. Da sind die meisten unserer Nachbarn viel besser. Mythen sind natürlich erst einmal wertneutral: es gibt gute und schlechte Mythen, beziehungsweise: man kann Mythen zu guten wie schlechten Zwecken einsetzen. Die Nazis waren Meister im Einsetzen von Mythen und haben damit Genozid und Angriffskrieg, Unterdrückung und Terror legitimiert, während die Alliierten ihrerseits Mythen zur Verteidigung der Demokratie in Stellung brachten. Der Punkt ist nur: es braucht sie, weil das Herz in der Politik eben auch eine große Rolle spielt. Und die EU ist nun einmal eine Kopfgeburt, die ihren Bürger*innen recht wenig emotionalen Bezugspunkt bietet.

3) Deutsche glauben immer noch zahlreiche E-Auto-Mythen

Eine aktuelle Online-Befragung des Marktforschungsunternehmens Appinio im Auftrag des Ökostromanbieters Tibber ergab, dass über 60 Prozent der Deutschen keinen größeren Nutzen in E-Autos im Vergleich zu Verbrennern sehen. Mehr als die Hälfte der Befragten schließt den zukünftigen Kauf eines Elektroautos aus. Hauptgründe sind die geringe Reichweite (42,1 %), die vermeintlich höhere Pannenanfälligkeit (60,2 %), unzureichende Ladeinfrastruktur (29,7 %) sowie hohe Strompreise (27,3 %) und Anschaffungskosten (34,2 %). Tibber widerspricht diesen Vorurteilen und betont, dass E-Autos tatsächlich weniger pannenanfällig sind als Verbrenner, wie eine Erhebung des ADAC zeigt. Zudem ergab eine Auswertung des Vergleichsportals Verivox, dass das Laden von E-Autos im ersten Halbjahr 2024 48 Prozent günstiger war als das Tanken von Benzinern und 40 Prozent günstiger als das von Dieselfahrzeugen. Dennoch glaubte die Mehrheit der Befragten, dass das Laden teurer sei. E-Autos spielen eine wichtige Rolle bei der Energiewende. Sie können nicht nur zu günstigen Zeiten geladen werden, sondern auch als Stromspeicher dienen. Tibber-Kunden könnten in Zukunft sogar Geld verdienen, indem sie ihren steuerbaren Stromverbrauch nutzen, um die Netze zu entlasten, was in einigen Ländern bereits möglich ist. Die hohen Anschaffungskosten von E-Autos relativieren sich durch die niedrigeren Betriebskosten (inklusive Steuern, Versicherung, Wartung und Energiekosten), wie der ADAC feststellt. Trotz gestiegener Reichweiten, die mittlerweile bei einigen Modellen über 600 Kilometer betragen, bestehen in Deutschland immer noch viele Vorbehalte gegenüber der Technologie von Elektroautos. (Ecomento)

Mich wundert das keine Sekunde, gegen die eMobilität läuft ja auch eine Kampagne. Dabei sind ja einige Kritikpunkte durchaus valide: die Reichweite ist (noch) definitiv kürzer, und die Infrastruktur könnte, höflich ausgedrückt, besser sein. Wie in so vielen Fällen sind natürlich die Überbringer der schlechten Nachrichten gleichzeitig die Täter: es gibt seitens gewisser Gruppierungen ja ein Interesse daran, dass dieser Zustand erhalten bleibt. Mich erinnert das an die Kritik an den Zuständen der Bahn: ich finde auch niemanden, der die toll findet, aber wenn man sagt, dass es an diesen Stellen hapert, wo bleibt dann die Gegenmaßnahme? Wie passt es dazu, die Erneuerbaren zu sabotieren, die Förderung abzuschaffen, keine Investitionen in die Infrastruktur zu betreiben und die gesamte Zukunftsindustrie anderen Ländern zu überlassen (man denke nur an Batterien!)?

4) The American migration crisis

Die aktuelle Migrationskrise an der US-Mexiko-Grenze ist ein dominierendes Wahlkampfthema in den USA. Am 19. Dezember 2023 kamen rekordverdächtige 12.000 Migranten ohne Genehmigung an der Grenze an. Die USA sind ein Hauptziel für Migranten aus Mittel- und Südamerika, die vor Krisen fliehen. Die Biden-Administration hat versucht, regionale Abkommen zur Migrationssteuerung zu fördern, aber die Ressourcen sind begrenzt. Ein umfassender Plan, der 4 Milliarden Dollar über vier Jahre vorsieht, reicht nicht aus, um die Ursachen der Migration zu bekämpfen. Während Trumps Vorschlag, alle nicht autorisierten Migranten zu deportieren, als autoritär und unrealistisch gilt, erkennt die Biden-Administration zumindest die Notwendigkeit regionaler Stabilisierung an. Ohne ernsthafte Investitionen in die Entwicklung der Herkunftsländer wird die Migrationskrise anhalten. Langfristige Lösungen erfordern mehr Ressourcen und eine fokussierte politische Strategie, um die Migrationsursachen wirksam anzugehen. (Adam Tooze, Chartbook)

Faszinierend, wie ähnlich die strukturellen Probleme der Migrationskrisen in Europa und den USA wie auch den Antworten darauf sind. Ich möchte noch einmal betonen, dass wir es definitiv mit einer politischen Krise zu tun haben, und meine progressiven Freunde können noch so oft irgendwelche Statistiken bemühen, die zeigen, wie viele Leute wie schnell einen Job finden, dass die Zahlen gar nicht so hoch sind im Vergleich und so weiter und so fort. Die Wahrnehmung der Leute ist die einer Migrationskrise, und gegen diese Wahrnehmung kommt nichts an, schon gar keine volkswirtschaftlichen Statistiken. Das ist hüben wie drüben dasselbe. Wenn es die Mitte-Parteien nicht schaffen, dieses Thema vernünftig zu adressieren - und das wird leider vermutlich nur funktionieren, indem man den Menschen wehtut, Menschenrechte mit Füßen tritt und steigende Totenzahlen bewusst hinnimt - wird das auch nicht weggehen.

Man sieht aber in den USA ebenso wie in Europa auch, dass es gute Ansätze gäbe - nur, dass halt nicht genug Druck dahinter ist. Die Politik der Biden-Regierung ist der Trumps himmelweit überlegen, aber weil sie das tatsächliche Problem angeht, ist sie schwierig und kostet Geld, anders als wenn man Kinder von ihren Eltern trennt und im Land verteilt. Und von "Fluchtursachen bekämpfen", wofür die USA wesentlich mehr tun können als wir in der vergleichbaren Situation, wollen wir gar nicht erst anfangen.

5) Andere mussten für weniger gehen

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger steht aufgrund der Ernennung von Roland Philippi zum Staatssekretär unter Beschuss. Philippi, der zuvor die Abteilung »Grundsatzfragen und Strategie« leitete, wurde in internen Chats des Ministeriums zitiert, in denen er äußerte, dass Wissenschaftler aus Angst vor dem Verlust von Fördergeldern sich politisch nicht mehr äußern sollten, und bezeichnete verdiente Wissenschaftler als »verwirrte Gestalten«. Diese Personalentscheidung verstärkt die Kritik an Stark-Watzinger, die bereits wegen ihres Umgangs mit früheren internen Konflikten kritisiert wurde, wie der Entlassung der Staatssekretärin Sabine Döring. Stark-Watzinger wird vorgeworfen, eine intransparente Kommunikationsstruktur im Ministerium geschaffen zu haben, indem dienstliche Absprachen über private Chatgruppen abgewickelt wurden, die nicht offiziell dokumentiert werden. Die Situation sorgt für Vertrauensverlust in die Wissenschaft und erhöht den Druck auf die Ministerin, was auch für Kanzler Olaf Scholz relevant sein dürfte. (Miriam Olbrisch, Spiegel)

Je länger diese Affäre dauert, desto schlimmer wird es. Wie immer in solchen Fällen kommen die Details schrittweise ans Licht. Halbgeheime Chatgruppen, die Besetzung mit linientreuen Gestalten und so weiter - nichts, das spezifisch für Stark-Watzinger wäre, so verhalten sich viele Leute in solchen Situationen. Nur ist Olbrischs Kernthese nun mal korrekt: andere mussten für weniger gehen. Und dass Stark-Watzinger keinerlei Fehlverhalten erkennen will, sondern im Gegenteil noch immer einen draufsetzt, lässt einen da nicht eben positiver auf die Geschichte blicken. Aber letztlich läuft es darauf raus, dass die FDP an ihrer Skandalministerin festhält und der öffentliche Druck recht überschaubar bleibt, von daher wird die Strategie wohl aufgehen.

Resterampe

a) Anne Rabe hat ein gutes Essay über Angela Merkel geschrieben.

b) The Starmer Model.

c) Alkohol: Karl Lauterbach will Verbot von »begleitetem Trinken« für Jugendliche. Macht Sinn, ist aber praktisch nicht kontrollierbar.

d) Media coverage of Trump.

e) Zum Stand der Debatte um politische Bildung. Ich halte das immer noch für überbewertet in der möglichen Auswirkung.

f) Mag auch eine Rolle spielen.

g) Wow. Die größte Wahrschinlichkeit für ein "Ja" zu Wahlmanipulation mit Abstand: christlicher Nationalismus.

h) Good news!

i) Manche Leute sind echt bekloppt.


Fertiggestellt am 13.07.2024

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