Suzanne Collins - Der Tag bricht an (Englisch) (Audible-Hörbuch) (Englisch)
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Ich war ja schon bei "Of Songbirds and Snakes" (hier rezensiert) ziemlich skeptisch, wie viel Sinn ein Prequel zu den Tributen von Panem macht. Ich wurde dann von der Qualität von Collins' Schreibe eines Besseren belehrt. Daher habe ich meine Skepsis gegenüber der Idee einer Origin Story von Haymitch Abernathy auch beiseitegeschoben und mich einfach gefreut, wieder von ihr in die Welt von Panem entrückt zu werden. Ich wurde nicht enttäuscht. Aber bevor wir in die Besprechung des Buches gehen, sehen wir uns die Handlung an.

Der 16-jährige Haymitch Abernathy lebt in Distrikt 12 mit seiner verarmten Mutter und seinem jüngeren Bruder Sid. Der Fluchtversuch eines Tributs endet tödlich während der Ernte für den zweiten Quarter Quell, bei dem alle Distrikte die doppelte Anzahl an Tributen stellen müssen – zwei Jungen und zwei Mädchen. In einem Vertuschungsmanöver ernennen Beamte des Kapitols – darunter Drusilla Sickle und der Kameramann Plutarch Heavensbee – Haymitch als Ersatz und inszenieren die Ernte neu. Die anderen Tribute aus Distrikt 12 sind Wyatt Callow, Louella McCoy und Maysilee Donner.
Nach ihrer Ankunft im Kapitol werden die Tribute als „Außenseiter“ abgetan. Während der Tributenparade stirbt Louella bei einem Unfall mit einer Pferdekutsche. Danach wird Haymitch in die Heavensbee Hall gebracht, wo Präsident Snow auf ihn wartet. Nach einem Gespräch bringt Snow eine betäubte Doppelgängerin als Ersatz für Louella, die Haymitch bald „Lou Lou“ nennt. Da es keine lebenden Sieger aus dem Distrikt gibt, werden Mentoren aus früheren Spielen zugeteilt – Wiress aus Distrikt 3, Siegerin der 49. Hungerspiele, und Mags aus Distrikt 4, Siegerin der 11. Spiele. In Fernsehinterviews nimmt Haymitch eine trotzige „Lausbuben“-Persönlichkeit an, um Sponsoren zu gewinnen, obwohl seine Bewertung katastrophal niedrig ist.
Während des Trainings rekrutiert Beetee, ein früherer Sieger, dessen Sohn Ampert als Strafe für Beetees rebellisches Verhalten gezogen wurde, Haymitch für einen geheimen Plan zur Sabotage der Arena. Mit Unterstützung von Plutarch und noch vor Beginn der Spiele führt Haymitch ein bittersüßes Abschiedsgespräch mit seiner Freundin Lenore Dove, als er sich bereit erklärt, Sprengstoff im unterirdischen Wassertank zu zünden, um das System zu fluten.
Als die Spiele in einer Arena voller giftiger Gefahren beginnen, verlässt Haymitch das Bündnis mit den Nicht-Karrieretributen (den sogenannten „Newcomers“), um seinen Plan umzusetzen. Kurzzeitig begleitet von Lou Lou, die bald an giftigem Pollen stirbt, verbündet er sich mit Ampert, um eine Explosion in den Kanälen auszulösen, die genetisch veränderte Kreaturen („Mutts“) freisetzen. Zwar deaktiviert die Flut die Arena nicht vollständig, und die Mutts töten Ampert, doch Haymitch verschafft sich einen kurzfristigen Vorteil. Später, bei Auseinandersetzungen mit dem Karrier-Bündnis, rettet Maysilee ihm mit einem Giftpfeil das Leben, was ihre Partnerschaft erneuert.
Entschlossen, einen anderen Weg zur Zerstörung der Arena zu finden, überzeugt Haymitch Maysilee, den Rand zu erkunden. Sie treffen auf die Karrieretribute und ein Trio von Spielmachern; Maysilee und eine Karrieretributin namens Maritte töten die Spielmacher, bevor sie sich trennen. Am Rand der Arena entdecken sie einen von einem Kraftfeld geschützten Generator. Nach der Trennung werden Maysilee und Maritte von Mutts getötet, zur Strafe für den Mord an den Spielmachern. Haymitch sucht die letzte verbliebene Newcomerin Wellie. Nach einem kurzen Wiedersehen lässt er sie zurück, um Feuerholz zu holen, kehrt aber zurück und findet sie von der Distrikt-1-Tributin Silka getötet vor. In einer letzten Konfrontation nahe einer Klippe wird Silka unbeabsichtigt durch ihre eigene Waffe getötet, die vom Kraftfeld abprallt. Gleichzeitig wird der schwer verletzte Haymitch bewusstlos, als er versucht, eine letzte Sprengladung gegen das Kraftfeld zu zünden.
Haymitch erwacht im Kapitol und muss an mehreren öffentlichen Auftritten teilnehmen. Allmählich erkennt er, dass die Fernsehversion der Spiele stark bearbeitet wurde, um Anzeichen von Rebellion zu entfernen. Nach seiner Rückkehr nach Distrikt 12 findet er sein Zuhause niedergebrannt, seine Mutter und sein Bruder sind tot. Ein Wiedersehen mit Lenore Dove auf einer stillen Wiese endet tragisch, als sie unbeabsichtigt eine vergiftete Süßigkeit isst – ein Anschlag von Präsident Snow. Lenore stirbt in seinen Armen, nachdem sie ihn auffordert, einen weiteren „Sonnenaufgang der Ernte“ zu verhindern.
Gezeichnet von seinen Verlusten zieht sich Haymitch in das Siegesdorf zurück und distanziert sich aus Angst um deren Sicherheit von alten Freunden. Während der Siegestour wird er jedoch durch Plutarchs Ermutigung motiviert, weiterzukämpfen. Im Epilog, der nach der Originalreihe spielt, öffnet sich Haymitch gegenüber Katniss und Peeta über seine Vergangenheit und findet Trost darin, sich um begabte Gänseeier zu kümmern – im Gedenken an Lenore Dove.
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Collins hat es bereits in "Songbirds and Snakes" geschafft, die eigentlich etwas absurde Prämisse der Hungerspiele, die bereits in der Originaltrilogie so herausragend zur Behandlung einiger ebenso relevanter wie verstörender Topoi genutzt wurde, unter einem neuen Blickwinkel zu nutzen und eine scharfe Kritik totalitaristischer Staaten, ihrer inneren Funktionsweise und der Kollaboration des medialen Komplexes zu entwerfen. Ähnliches gelingt ihr hier.
Die Herausforderung eines solchen Prequels ist es ja immer, ein bekanntes Ergebnis - Haymitch Abernathy wird die 50. Hungerspiele gewinnen, indem er das Kraftfeld ausnutzt, und der einzige Sieger aus Distrikt 12 bleiben - dazu zu nutzen, eine interessante Geschichte zu entwerfen, als nur einige Fragen zu beantworten, die nie jemand gestellt hat, wie das so viele Prequels tun (woher hat Han Solo eigentlich seinen Namen?). Und genau das gelingt Collins mit Bravour, die damit zum zweiten Mal dem Fluch der Prequels entgeht, weil sie einfach eine verdammt gute Schriftstellerin ist.
Durch die personale Erzählperspektive - ohnehin eine ihrer größten Stärken - haben wir als Lesende immer mehr Wissen über Haymitch als dieser selbst (sofern wir nicht Neulinge in der Serie sind, aber wer liest das zweite Prequel, ohne wenigstens die Filme gesehen zu haben?). Wir wissen, dass er siegen wird; wir wissen, dass Maysilee die Spiele nicht überleben wird; wir wissen, dass Haymitch am Ende ein einsamer Alkoholiker ist. Was wir nicht wissen, ist warum, aber Collins' großer literarischer Trick ist, dass wir das überhaupt nicht wissen wollen. Das unvermeidliche Ende hängt viel mehr wie ein permanentes Damoklesschwert über der gesamten Handlung: wir wissen, dass dieser Moment kommen wird, aber wir wünschen uns, er möge ausbleiben.
Collins schafft es auch wieder, schnell richtig düstere Themen aufzubauen. Der Missbrauch durch das Kapitol ist in den 50. Hungerspielen viel flagranter, offener und brutaler, als er das bei den 74. Hungerspielen ist. Haymitch ist keine männliche Version von Katniss. Anders als ihr geht es ihm nicht so sehr darum, zu gewinnen; er ist in seinem Mindset viel näher an Peeta, versteht auf einem grundlegenderen Level die Notwendigkeit der Präsentation im medialen Schauspiel des Kapitols. Er will sich in seinen letzten Stunden nicht vor seiner Community blamieren.
Gleichzeitig allerdings wird er durch Zufall - ähnlich wie Katniss - zur Hoffnungsfigur einer revolutionären Bewegung. Auch hier wissen wir, dass daraus nichts werden kann, dass sie scheitern muss. Schließlich ist Haymitch 24 Jahre später ein absoluter Zyniker und Plutarch und Beetee müssen noch 25 Jahre warten, ehe sie mit Tributen eine Arena sprengen können. Aber erneut ist es gerade dieses Wissen, das dem Ganzen eine eigene Tragik gibt. Uns ist klar, dass Haymitch es eben nicht schaffen wird, ein Zeichen zu setzen, dass der Versuch ihn alles kosten wird. Und die Kosten sind gigantisch. Nicht nur verliert er seine ganze Familie und die Liebe seines Lebens; er muss danach für den Rest seines Lebens dem Kapitol dienen und alle Menschen von sich stoßen - ein Schicksal, das er mit allen anderen Siegern teilt.
Und hier sieht man die Brillanz Collins' in den Details am Werk. Relativ am Anfang der Romanhandlung gerät Maysilee mit Drusilla Sickle aneinander und wirft ihr an den Kopf, dass sie gewinnen und ihr so ein Schnippchen schlagen wird. Hasserfüllt erwidert Drusilla, dass sie hoffe, dass Maysilee gewinne, weil diese keine Ahnung habe, was das bedeute. Weder sie noch Haymitch kümmern sich um diese Bemerkung, aber als Leser der Originaltrilogie kommt mir sofort das Schicksal Finnicks in den Kopf, der von Snow als 14jähriger Sexsklave verkauft wurde. "Niemand gewinnt je die Hungerspiele, es gibt nur Überlebende." Ein solcher Satz würde bei vielen Autor*innen nicht funktionieren, wäre zu plakativ, zu pathetisch, aber in Collins' Händen, in dieser Handlung, lässt er einem einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.
Überhaupt, das Worldbuilding. Wie bereits bei "Songbirds and Snakes" gelingt es ihr ausgezeichnet, die Epoche der Hungerspiele - nun in ihrem 50. Jahr - deutlich sowohl von den technisch ausgefeilten und raffinierten 74. und 75. Hungerspielen mit Katniss Everdeen als auch von dem groben und kaum entwickelten, experimentellen Massaker der 10. Hungerspiele abzuheben. Die 50. Hungerspiele sind schon wesentlich fortgeschrittener, aber die Erinnerung an die alten, kruden Zeiten ist noch wach, als etwa Wachen Haymitch sagen, dass die Tribute "früher" in Viehwaggons transportiert wurden. Noch sind die Inszenierung des Kapitol-Luxus' und des Trainingscenters nicht in einer solchen Antithese zu dem folgenden Gemetzel, ist das Kapitol noch etwas ehrlicher in seiner Behandlung der Tribute, noch nicht so feinsinnig unterwegs. Diese Unterschiede sind subtil, aber merklich, und zeigen erneut Collins' Handwerkskunst.
Zuletzt sind auch die Prequel-Elemente sehr gut eingebaut. Bereits "Songbird and Snakes" gelang es sehr gut, Distrikt 12 zu verwenden, ohne ihn einem Retcon zu unterziehen. Er ist der ärmste Distrikt, der Underdog, und Lucy Gray, Haymitch und Katniss/Peeta werden die einzigen Sieger*innen des Distrikts bleiben. Die Zeitabstände sind groß genug um realistisch zu machen, dass Snow Distrikt 12 insgesamt dreimal unterschätzt - in insgesamt 65 Jahren ist das absolut vertretbar. Auch der langsame Untergang der Covys gehört zu den Worldbuilding-Elementen, die Collins subtil in den Hintergrund einfließen lässt: Katniss kennt sie nicht, und sie kommen in der Original-Trilogie nicht vor; sie müssen also verschwinden. Die Erwartung, dass Haymitchs Sieg damit zu tun hat, erfüllt sich auf brutale Weise.
Wie Collins' Bücher vorher ist daher auch "Sunrise on the Reaping" absolut zu empfehlen. Jenseits von "Andor" gibt es eigentlich keine Fantasy oder Science Fiction, die prägnante politische Themen auf diese großartige Art und Weise zu behandeln weiß. Unbedingte Empfehlung, und ich kann nur hoffen, dass das Buch genauso wie "Songbirds and Snakes" zeitnah eine Verfilmung erfahren wird.
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