Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) White Supremacy Is a Dangerous Threat Because Republicans Use It

It is true that Americans of any race have a statistically tiny chance of being murdered by a white supremacist. But the main threat of white supremacy is not random terrorist violence. It is that the movement is gaining actual political and state power. [...] All these stories are horrifying, but none of them are surprising. Organizations and ideas that were once too far from the political system to have any hope of influence, or didn’t even exist at all, have gained a foothold in the system. They have allies in the security system and a voice in the conservative movement’s political network. So no, maybe white supremacists don’t kill as many people as regular street crime. It is nonetheless true that the threat it poses to Americans is profound and growing. And the conservatives who refuse to acknowledge it, and who complain about Biden invoking the danger while doing nothing to marginalize the extremists in their midst, are complicit. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Ich glaube, der zentralste Unterschied zwischen Links- und Rechtsextremismus, abgesehen von seiner Häufigkeit, ist hier zu finden. Gefährlich sind beide; ob ich von der RAF oder vom NSU ermordet werde, macht wenig Unterschied. Aber wenn dieser Extremismus einen Zugang zu staatlichen Institutionen findet, hat das schnell brutale Folgeeffekte. Das beste Beispiel dafür ist Weimar: sowohl die Kommunisten als auch die Freikorps verübten (auch tödliche) Gewalt gegen ihre politische Gegner, aber die Freikorps taten es in einem staatlichen Rahmen, weswegen ihre Mordraten drastisch höher und ihre Konsequenzen drastisch niedriger waren. Diese Normalisierung politischer Gewalt erlaubt es dann ihren Verursachern, sich als die Lösung zu präsentieren. Niemand hatte Ernst Thälmann abgenommen, in seiner Kanzlerschaft die Lösung für politische Gewalt zu sehen. Hitler wurde das geglaubt.

So weit sind wir natürlich in den USA noch nicht, aber die Problematik mit solchen Situationen ist immer, dass wenn es einmal soweit ist, sie wahnsinnig schwer wieder rückgängig zu machen sind. Und die USA haben Erfahrung mit solchem Terrorismus und seiner Normalisierung. In den 1870er Jahren formierte sich unter anderem mit dem Ku-Klux-Klan ein rechtsextremer, rassistisch motivierter Terror, der direkt mit den staatlichen Institutionen verwoben war und bis in die Gegenwart fortwirkt. Das Problem der Polizeigewalt in den USA lässt sich bis in diese Zeit zurückzuverfolgen, weil solcherlei staatlichen Einflüsse riesige Beharrungskraft haben (weswegen übrigens auch der direkte Kulturimport der Black-Lives-Matter-Proteste nach Deutschland so wenig Sinn macht).

2) Machbarkeit in der Multi-Krise –Für mehr Technologie-Realismus

Wenn wir ein paar Jahre in die Zukunft blicken, wird sich ein heute schon deutlich abzeichnender Trend verstärken: Alle – unzweifelhaft notwendigen – Maßnahmen zum Klimaschutz werden keine im Alltag spürbaren Effekte auf das Klima haben. Das immer weitere Aufschieben der notwendigen Umstellungen hat dazu geführt, dass, um auch nur die ambitionslosen Klimaziele aus den internationalen Verpflichtungen nicht um eine Größenordnung zu verfehlen, hohe Investitionen und drastische Veränderungen notwendig sind. Dies bringt jedoch ein hartes Dilemma mit sich: Die Überforderung der Bevölkerung und öffentlichen Haushalte durch die Gleichzeitigkeit der erforderlichen Maßnahmen. Derzeit findet diese Anpassung halbherzig und unter dem Radar, betrieben von weitblickenden Stadtplanern und Bauingenieuren statt. Dabei ist es unumgänglich diese Investitionen jetzt zu tätigen. [...] Dass Teile der Klimabewegung immer noch eine Diskussion über Klimawandel-Mitigation verweigern, wird weltweit Millionen unnötige Opfer fordern, nicht irgendwann, sondern in unser Lebenszeit. Technologie-Realismus bedeutet, realistisch einzuschätzen, was mit aktuell und in naher Zukunft verfügbarer Technologie ganz praktisch möglich ist – unter Betrachtung von Produktions- und Installationskapazitäten, ökonomischen Möglichkeiten, sozialen Auswirkungen, absehbaren Ungerechtigkeiten und tatsächlichem  Nutzungsverhalten. Die absehbaren Probleme unverstellt anzusprechen und dafür pragmatische, realistische Lösungen zu suchen, schafft am Ende mehr Vertrauen und Mitwirkungs-Willen als selektiver Technologie-Optimismus oder gar berechtigte Einwände pauschal als Klimawandel-Leugnen zu diskreditieren. (Frank Rieger, Realitätsabzweig)

Frank Riegers Artikel ist viel länger und berührt viel mehr Themen als die hier zitierten Ausschnitte, ich empfehle ihn zur gänzlichen Lektüre. Rieger ist, kaum überraschend, wenig begeistert von den aktuellen Politikvorschlägen, rechts wie links. Ich stimme ihm völlig zu, was die Dringlichkeit der Maßnahmen anbelangt; ich habe ähnlich ja auch bereits argumentiert. Everything and the kitchen sink ist kaum mehr vermeidbar in meinen Augen. Nur beschreibt Rieger den entscheidenden Nachteil: es überfordert beinahe zwangsläufig. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit Überforderung vermeidbar ist, denn die letzten Monate haben gezeigt, dass selbst die Idee eines Gasheizungsneueinbauverbots oder eines Tempolimits die Republik maßlos überfordert. Es gibt ja schlicht überhaupt keine Maßnahme, die in irgendeiner Weise keinen Konflikt bedeutet (und wer glaubt, das wäre beim CO2-Preis anders, ist ein naiver Träumer). Ich glaube daher auch, dass es zwar gut und richtig ist, transparent und pragmatisch alles anzusprechen, aber das wird am Widerstand nichts ändern. Eine Lösung dafür habe ich nicht.

3) Eine Umwälzung wird so oder so stattfindenm (Interview mit Bob Blume)

Wie verhindert man, dass Schüler ChatGPT zu Hause falsch einsetzen und dabei nichts lernen?

Wenn der Lernprozess nach Hause verlagert wird und dort auf ChatGPT trifft, bekommen wir meiner Meinung nach auch eine Revolution, aber eine, die wir nicht wollen. Denn erst basale Grundfertigkeiten, die in der Schule gelernt werden müssen, ermöglichen komplexe kognitive Vorgänge, die von der KI angestoßen werden. Diesen Zusammenhang, diese Haltung müssen wir den Schülern vermitteln. Wenn Schüler nicht verstehen, warum sie sich etwas aneignen sollen, was die KI doch viel besser kann, ist es für sie viel verführerischer, sich die Arbeit von ChatGPT oder einem anderen Programm abnehmen zu lassen. [...]

Zwingt ChatGPT zu besserem analogen Unterricht?

Ja. Der Lernprozess muss in Zukunft konsequent in die Schule verlagert werden – Konzepte wie Flipped Classroom, die es schon sehr lange gibt und bei denen der Input nicht in der Klasse, sondern zuhause geschieht, sehen das auch schon vor. Man kann den Schülern ja als Hausaufgabe mitgeben: Schaut euch ein Video darüber an oder fragt ChatGPT, wie man eine Kurzgeschichte schreibt, notiert euch Fragen, die offen geblieben sind. In der Schule werden diese dann beantwortet, die Interpretation wird in der Klasse vorgenommen. Diese Entwicklung wird durch ChatGPT aus meiner Sicht forciert. (Uwe Ebbinghaus, FAZ)

Bob spricht hier ein Grundproblem an, ohne allerdings die Konsequenzen wirklich komplett auszubuchstabieren. Denn unser aktuelles System stellt ja eben die "basalen Grundfertigkeiten" oft nicht bereit, unser aktueller Unterricht stößt ja eben keine "komplexen kognitiven Vorgänge" an. Das hat viele ineinander verwobene Ursachen, von den Bildungsplänen zur Stundentafel zur Prüfungskultur zur Lehrkräfteausbildung zur Didaktik. Aber mein Punkt ist immer: wenn die KI deine Aufgabe problemlos lösen kann, ist das Problem nicht die KI, sondern die Aufgabe.

4) How the Right and the Left Switched Sides on Big Business

Of course, Sanders and his allies never came close to amending the Constitution and overturning Citizens United. But if they had, I wonder how the left would feel about the change now, as Republican politicians go after companies that take progressive stands. [...] None of this is to say that the right and left have completely switched places. There are many issues on which the GOP remains more aligned with corporate interests and many elected Republicans who remain sympathetic to corporate power. But neither coalition is reliably aligned with or opposed to the power of corporations. The relationship, on both sides, tends to be issue-specific, transactional, and opportunistic, with the left more likely to be closely aligned on social issues and the right more likely to be aligned on fiscal issues. [...] In turn, I suspect that the more those corporations articulate values that Republicans dislike, the more Republican politicians will try to use the power of the state to constrain corporations, even as they themselves keep raising as much as they can from corporate donors. Finally, corporations will sometimes be targeted by both the right and the left, as when conservatives and progressives scrutinize content-moderation policies at big social-media companies. (Connor Friedersdorf, The Atlantic)

Hier zeigt sich, was für Prinzipien generell gilt: Die allerwenigsten Leute wenden sie immer gleich an. Deswegen sind principled stands against all corporate influence auch kaum vorhanden. Die Unabhängigkeit der Notenbank fanden Konservative und Liberale auch nur bis zur Eurokrise immer total wichtig, während die linke Kritik an ihr plötzlich stark abnahm. Das betrifft JEDES Prinzip. Man pocht auf die Einhaltung der Verträge, die man gut findet, und will die revidieren, die man schlecht findet. Man findet Gründe für die Politiken, die man unterstützt, und Gründe gegen die, die man ablehnt. So funktionieren wir nun mal.

Davon einmal abgesehen ist das ganze auch ein tolles Beispiel für das alte Sprichwort des be careful what you wish for: die Republicans haben jahrzehntelang für die "Meinungsfreiheit" von Unternehmen getrommelt (unvergessen Mitt Romneys "corporations are people, my friend") und die Democrats das erbittet bekämpft. Jetzt geht es plötzlich nicht mehr um die Bäckerei, die homosexuellen Hochzeitspaaren den Kuchen nicht machen will (gut), Baumärkte die keine Krankenversicherung mit Abtreibungsoption zahlen (gut), sondern um Unternehmen, die gendern (schlecht) oder diverse Beschäftigtenpolitik haben (schlecht). Geändert hat sich am Prinzip nichts, nur ist die "Freiheit", die du Unternehmen vorher eingeräumt hast, weil sich ihre Ziele mit deinen deckten, auch noch da, wenn die Ziele das plötzlich nicht mehr tun. Funktioniert natürlich in die umgekehrte Richtung genauso: ein Staat, dem ich viel Macht gebe, hat diese Macht auch, wenn die andere Seite rankommt.

Was ich bei dem ganzen Käse überhaupt nicht sagen kann ist, ob diese Entwicklung gut oder schlecht ist. Ist es positiv, dass die Republicans die Möglichkeit in ihren Kanon aufgenommen haben, dass Unternehmen nicht immer total dufte sind? Ist es positiv, dass die Democrats sie nicht automatisch als Feind betrachten? Vermutlich? Sind die Gründe dafür so ziemlich die dümmstmöglichen, und damit auch die Auswirkungen? Vermutlich auch.

5) Prometheus geht in den Ruhestand

Ein entscheidender Grund für das unausgegorene Hals-über-Kopf-Heizungsgesetz liegt aber neben Habecks angestrengtem politischem Selbstverständnis auch in einem andauernden Dilemma der deutschen Klimapolitik. Diese sitzt fest in einem Schraubstock, der eine bewegliche, strategische und gleichzeitig realistische Klimapolitik erschwert. Auf der einen Seite sind auf allen Ebenen die Verzögerer und Aufhalter einer notwendigen ökologischen Transformation unseres Wirtschaftens und Konsumierens. Denn seien wir ehrlich: Die Unionsparteien, die FDP und Teile der Wirtschaft lassen diesbezüglich keine Gelegenheit aus, die vielen strukturellen Bremsen nicht lösen zu müssen. Auf der anderen Seite sind die Postwachstumsideologen, die die Wirtschaftsleistung um bis zu 90 Prozent reduzieren wollen und keine Probleme damit hätten, dass auch der wissenschaftliche Fortschritt und die soziale und äußere Sicherheit entsprechend schrumpfen und der Rest der Welt fassungslos und feixend auf das verarmte Museum Deutschland schauen würde. Forciert wird dieser weltanschauliche Irrweg durch die in der Öffentlichkeit ständig wiederholte Autosuggestion, Deutschland könnte das Klima, die Welt, die Menschheit retten. [...] Eigentlich ist doch alles ganz einfach. Wir brauchen mehr Strom. Und der Preis für Strom muss runter. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)

Ich bin total bei Rheinbergs Kritik der Degrowth-Leute. Mit der These kann ich überhaupt nichts anfangen. Nicht nur ist es in meinen Augen völlig wirklichkeitsfremd (siehe auch den Stichpunkt der Überforderung aus Fundstück 2); es ist schon so schwer genug, irgendwelche Änderungen durchzusetzen. Das mit einem PLANMÄSSIGEN Absenken des Lebensstandards zu verbinden, ist ein politisches Todesurteil. Selbst den Lebensstandard künstlich stagnieren zu lassen ist schon eine ordentliche Herausforderung, die nur Diktaturen überhaupt unternehmen (und davon abgesehen auch nicht gerade erstrebenswert). Es ist auch nicht zielführend, denn die Mitigation der Folgen der Klimakrise sollte eigentlich ja auch Wachstum hervorrufen. Werden wir Ressourcen umschichten müssen? Sicher. Macht es vielleicht Sinn, die wildesten Auswüchse der geplanten Obsoleszenz zu begrenzen und zu nachhaltigerem Wirtschaften überzugehen? Klar. Aber Degrowth? Fuck that shit.

Resterampe

a) Überraschendste Schlagzeile des Jahres.

b) Spannendes Interview mit zwei Ökonomen über die Energiepolitik.

c) Anne Rabe zur Debatte um ostdeutsche Identität.

d) Achim Truger kritisiert (Überraschung!) die Haltung der FDP in der Finanzpolitik.

e) Sehr gute Kolumne in der Wirtschaftswoche mit Rundumschlag gegen alle in der Klimapolitik (vorrangig aber gegen Habeck und die Grünen).

f) Ginge es um eine rechte Dozentin, wäre es Cancel Culture.

g) Progressive Reform mit regressiven Untertönen

h) Austerity budgeting? Really?

i) Meine Haltung zur Razzia bei der Letzten Generation.

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