Theoretisch bin ich ein Massenmörder!
Wenn meine Blicke töten könnten, wäre die Menschheit ernsthaft in Gefahr ausgerottet zu werden. Das wäre natürlich fatal für die Wirtschaft in unserem Lande. Der Gedanke, eine ganze Welt nur für mich zu haben, ist zwar einerseits verlockend, doch bei näherer Betrachtung, könnte es auf Dauer auch fad werden.
Schon Robinson Crusoe hatte es sich zwar auf seiner einsamen Insel gemütlich eingerichtet, doch schon bald musste er feststellen, dass es ihm an persönlicher Ansprache fehlte. Tagein und tagaus sich nur mit sich selbst unterhalten, ist wenig ergiebig, da es ihm an interessanten Gesprächsthemen fehlte. Das musste er nach ein paar Jahren im Inselexil feststellen. Deshalb war er auch sehr erfreut und dankbar, dass ihm sein schriftstellerischer Schöpfer, Daniel Defoe, Freitag zur Seite stellte. Damit hatte er zwar einen Diskutanten, doch Freitag war, eher von geringer schulischer Bildung und in einer ganz anderen Sprachenfamilie beheimatet.
Das war natürlich dramaturgisch nicht gut durchdacht von Herrn Defoe. Vielleicht hätte er doch besser Donnerstag oder Samstag auf die Insel geschickt oder wenn Robinson Crusoe religiös interessiert gewesen wäre, dann könnte Sonntag ein veritabler Gesprächspartner sein. Doch Defoe hatte sich für Freitag entschieden. Gesellschaftlich klaffte zwischen den beiden einsamen Helden eine gewaltige Lücke. Crusoe, dem englischen bestens vertraut und Freitag, ein Meister der seltsamsten Lautmalerei. Wäre nun Freitag ebenfalls aus dem englischsprachigen Raum gewesen, was hätten sich nicht für wunderbare Dialoge ergeben können. Doch im Nachhinein betrachtet, erscheint es mehr als wahrscheinlich, dass Daniel Defoe keine guten Dialoge schreiben konnte. Für einen Schriftsteller, der auf Weltruhm aus ist, sind das keine guten Voraussetzungen. Und so ersann er sich diesen cleveren Schachzug, indem zwei Menschen aufeinandertreffen, die sich nichts zu sagen haben, weil sie sich ja ohnehin nicht verstehen. Damit, so dachte er jedenfalls, wäre er aus dem Schneider und niemand würde bemerken, wie schlecht seine Dialoge sind, weil, da waren ja keine. Doch dann hat ihm dieser Robinson einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ohne Rücksprache zu halten, begann er plötzlich eigenmächtig, Freitag Englisch beizubringen. Und somit wurde er zu dem ersten, historisch nachgewiesenen, Nachhilfelehrer. Ein bis dahin völlig unbekannter Beruf, der sich bis in die heutige Zeit gehalten hat. Ohne Robinson Crusoe würden heute tausendfach Kinder sitzen bleiben und nicht weniger Studenten, müssten sich einen anderen Nebenjob suchen. Noch heute wird die Geschichte des ersten Nachhilfelehrers gerne gelesen. Dutzende Male wurde es bereits verfilmt. Allerdings weniger wegen der Geschichte, sondern wegen der geringen Produktionskosten. Man braucht ja nur eine Insel und zwei Darsteller! Und schon hat man den günstigsten Blockbuster ever.
Wenn sie sich nun die Augen reiben und zu Recht fragen, wo der Zusammenhang zwischen Defoe, Crusoe, Freitag und dem Titel dieser Geschichte ist, der sieht mich genau so ratlos, wie es dem Leser wohl auch ergeht. Die einzige Antwort, die ich dazu liefern kann, die lautet wie folgt: Wenn Daniel Defoes Frau in der Lage gewesen ist, mit Blicken töten zu können und versehentlich ihren Mann, beispielsweise vor dem Traualtar angeschaut hätte, wäre es ihm, wegen seines plötzlichen Todes, nicht möglich gewesen die Geschichte von Robinson Crusoe zu schreiben, und der Beruf des Nachhilfelehrers, wäre bis heute unentdeckt. Dann müssten, heute überforderte semiintelligente Eltern, versuchen, ihrer Nachkommenschaft, die binomischen Formeln, die Weimarer Republik, die Entstehung des Urknalls, die dritte Person Singular in Präsenz setzen, die Photosynthese, das Periodensystem, die Werke Sophokles, die alttestamentarischen Familienzusammenhänge, sowie die Dichter der Aufklärung, erklären, erläutern, vermitteln und analysieren.
Meine Augen, dass haben mehrere Versuche ergeben, sind leider nicht in der Lage zu töten. Selbst wenn ich mich stark konzentriere und es mir sehnlichst wünsche. Auch Fachärzte mussten mir diese unangenehme Diagnose mitteilen. Dabei hatte ich so sehr gehofft, einer dieser Kapazitäten würde mir helfen können. Doch noch, wie sie mir versicherten, ist die Wissenschaft noch nicht so weit. Aber ich soll die Hoffnung nicht aufgeben. Ich wäre ja noch jung und die Erforschung eines Heilmittels wäre bereits weit fortgeschritten. Nach eingängigen und intensiven Untersuchungen stellten sie bei mir eine erblich bedingte Dysfunktion fest.
Ein herber Schock! Denn ohne die Möglichkeit mit meinen Augen töten, zu können, geht mir etwas an Lebensqualität verloren. Ich kann zwar durchaus sehr böse schauen, doch letztlich ist es ohne Wirkung. Das ist vergleichbar mit einer Vasektomie, der Sterilisation des Mannes, meist auf Anraten seiner Frau. Funktional kann man dann zwar noch, doch es führt zu keinem Ergebnis. Wie ein toter Baum, der zwar noch dasteht, aber ohne Äpfel, oder Birnen, je nach seiner Befähigung.
Momentan bleibt mir nun nichts anderes übrig, als mit dieser körperlichen Einschränkung zu leben. Das beeinträchtigt mich massiv in der Entfaltung meiner Persönlichkeit, denn ich bin im Umgang mit Handfeuerwaffen, diversen Giften oder in Seilknüpftechniken nicht bewandert. Sonst könnte ich ja darauf ausweichen, bis meine Augen blicktötend ausgebildet sind, durch beispielsweise eine Operation oder wenigstens ein wirkungsvolles Zäpfchen. Sobald es mir allerdings möglich sein wird und ich kontrolliert meine Augen einsetzen kann, werde ich auch sofort loslegen. Probanden, an denen ich meine Fähigkeiten austesten kann, die habe ich bereits ins Auge gefasst. Eine entsprechend vorbereitete Excel Tabelle liegt bereits zuhause.
Die wartet nur darauf abgearbeitet, zu werden. Täglich erweitere ich sie, um sie auf dem aktuellen Stand zu halten. Denn wenn es losgeht, möchte ich keine Zeit verlieren und sofort meinen neuerworbenen Blick ausprobieren. Wahrscheinlich muss ich erst etwas üben, ehe ich ein hundertprozentiges Ergebnis erziele.
Eben komme ich vom Augenarzt, zur jährlichen Routineuntersuchung. Eine niederschmetternde Diagnose droht nun mein Vorhaben in weite Ferne zu rücken. Ich schiele!
Das ist eine Vollkatastrophe für mich. Eine Amputation diverser Gliedmaßen wäre nicht annähernd so schlimm. Jetzt bringt es mir nichts mehr, auf die Fähigkeiten des tötenden Blickes zu warten, denn wenn ich beispielsweise Frau Müller treffen möchte und Frau Maier, die neben ihr steht, tot umfällt, nur weil ich schiele. Das wäre ja dann zutiefst ungerecht. Höchstens wenn beide Frauen mich nerven, dann könnte ich ja beide abwechselnd ansehen.
Eigentlich schade, dass ich nicht in der Zeit der griechischen Mythologie lebe! Da gab es diese Medusa. Bei der fielen die Leute reihenweise um und wurden zu Stein. Und das, obwohl sie sich ganz Passiv verhielt. Die war einfach nur hässlich! Das hat genügt.
Selbst wenn es heute die Möglichkeit noch geben würde, Menschen in Stein zu verwandeln, ich könnte es nicht. Ich bin einfach, objektiv betrachtet, zu schön! Schönheit kann eben auch zu einer Belastung werden! Und mich belastet das sehr.
Na ja, was bleibt mir nun anderes, als mit meinen Handicaps zu leben. Niemand hat je behauptet, dass Leben sei einfach!
Sollten sie einmal zufällig mich irgendwo entdecken und ungefragt anquatschen, wenn ich sie dann nicht ansehe, können sie sicher sein, ich habe ein Auge auf sie geworfen.
Und dann Gnade ihnen Gott!
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