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10. Sie sind das Vorbild, wie man durch Krisen kommt!
In einer Krise – sei es eine familiäre oder globale – orientieren sich Kinder mehr denn sonst daran, WIE ihre Eltern das denn machen. Das geschieht unbewusst, unreflektiert, aber wirkmächtig. Es gibt keine (anderen) Erfahrungswerte, keine Blaupause, keine Hintergrundfolie, von der Kinder und Jugendliche auch nur ansatzweise abnehmen könnten, wie man emotional und praktisch mit einer solchen Situation umgehen kann. Auch wenn wir Erwachsenen gleich wie unsere Kinder vor einer neuen erschreckenden und lähmenden Situation standen/stehen, so bringen wir doch Lebenserfahrung und Wissen mit, die ein Stück Souveränität bedeuten können. Machen Sie sich klar: so wie Sie selbst mit der Situation umgehen, so gräbt sich tief ins Bewusstsein Ihrer Kinder ein, welchen Krisenmodus sie ausdrücken.
Schauen wir auf die Pandemie: Welche Werte sind Ihnen selbst wichtig? Wie möchten Sie selbst behandelt werden, wenn Sie… gefährdet wären, Hilfe bräuchten, Angst hätten? Wie gehen Sie selbst mit „Regeln“ um – vor allem dann, wenn keiner sie kontrolliert? Wie hoch ist Ihre Einsichtsfähigkeit, Ihre Selbstdisziplin, Ihre innere moralische Instanz?
Fragen Sie sich: Feiere ich den Kindergeburtstag entgegen der Kontaktbeschränkungen, wenn ich sicher sein kann, dass es keiner mitbekommt? Und weiter: WAS lernen meine Kinder, wenn ich es tue und sie wissen, dass wir gegen Regeln verstoßen, die - wenn auch vielleicht fehlerhaft sind - doch eine ansteckende Krankheit eindämmen sollen und dazu da sind, unsere Nachbarn, unsere Freunde und Verwandten und die Gesellschaft zu schützen?
Wie stehen Sie zu politischen Entscheidungen? Welches Verhältnis haben Sie zu Medien, zur Wissenschaft, zur #falsebalance? Wie steht es um ihr Demokratieverständnis? Tragen Sie mit, was Mehrheitsbeschluss/Beschluss gewählter Vertreter ist? Engagieren Sie sich selbst? Wofür stehen Sie? Tragen Sie Ihre Maske, weil sie andere schützt oder weil sie sonst nicht einkaufen dürfen?
Machen Sie sich nichts vor: Ihre Kinder spüren das, was Sie auf all diese Fragen antworten würden, auch wenn Sie es nicht konkret aussprechen oder vor sich selbst rechtfertigen.
An all diesen Fragen entscheidet sich, wie Sie selbst durch die Pandemie gehen, ob Sie „ausflippen“, weil sie einige Zeit nicht zum Friseur gehen können oder gelassen mit einem Youtube-Tutorial mal selbst zur Schere greifen. Genügsamkeit ist eine Eigenschaft, die zu Gelassenheit führen kann – Selbstgenügsamkeit ist etwas, das (kleinere) Kinder uns voraus haben. Wenn wir als Erwachsene (selbst-)genügsam sind, erkennen wir, was wir wirklich brauchen – und was gesellschaftliches/kulturelles/erlerntes/angewöhntes Beiwerk ist. Wenn Sie Ihre „Würde“ in der neuen Haartönung sehen (ja, das stammt aus realen Gesprächen), geraten Ihr Alltag und Ihre Stimmung natürlich schnell ins Wanken. Wünschen Sie auch für Ihre Kinder, dass Würde eine Frage dieser Äußerlichkeiten ist?
Worüber regen Sie sich am meisten auf? Regen Sie sich überhaupt auf? Über Einschränkungen, über Wissenschaftlerstreit, über die Pandemie – das Virus? Über den Nachbarn, der trotz Kontaktbeschränkungen einen Skatabend macht? Über Nasenpimmel? Über Maßnahmen, Zugangsbeschränkungen, das geschlossene Lieblingsrestaurant? Über Impfpflicht oder Impfgegner?
Denken Sie nach: Was ist die eigentliche Situation? Was sind Ursache und Wirkung? Wo liegen Verantwortlichkeiten und was können Sie selbst tun, um das Unabänderliche erträglicher zu machen?
Je souveräner, selbstgenügsamer und reflektierter Sie selbst die Situation akzeptieren, Ihnen Wirkzusammenhänge klar sind, Sie Seriöses von Unseriösem unterscheiden können, je mehr Sie selbst über die Situation wissen und akzeptieren, umso sicherer werden sich Ihre Kinder fühlen.
Informieren Sie Ihre Familie – bspw. morgens beim Frühstück: Was sind die Neuigkeiten aus den seriösen Medien und welche Bedeutung haben sie für den vor Ihnen liegenden Tag?
Die vielbesprochenen „Lockdown“-Schäden von Kindern sind keine Schäden des Lockdowns. Machen Sie sich klar, dass diese Sichtweise politisch benutzt wird. Es sind die Schäden der Unsicherheit und Haltlosigkeit in einer durch eine Pandemie aus den Angeln gehobenen Welt. Um diesen Schäden zu begegnen, müssen wir weder die Pandemie verharmlosen noch die Maßnahmen bekämpfen. Wir müssen Kindern in dieser Zeit Halt geben. Ich ermutige Sie zu einem Perspektivwechsel: schauen Sie auf den Grund der Veränderungen und nicht auf die Veränderung selbst und überlegen Sie von dort aus, wie Sie mit Ihren Kindern einen schadlosen Umgang finden können. Kontaktbeschränkungen und Einschränkungen des Lebensumfeldes wirken sich natürlich aus, sie sind folgerichtiger Teil der veränderten Welt und bewirken Unsicherheit. Verstärken Eltern/Bezugspersonen diese Unsicherheit noch durch Zweifel, Ablehnung, Spekulationen und Misstrauen, verlieren Kinder das, was sie am Dringendsten brauchen: den festen Grund einer sicheren Bindung, Unterstützung in den Herausforderungen, Hilfe beim Aushalten dessen, was unabweislich ist. Sie verlieren das, was ihnen den dringend benötigten, Resilienz bildenden, letzten Halt gibt: verlässliche Eltern, die das Schifflein der Familie durch das Wildwasser der Pandemie steuern. Sie als Eltern haben Aufgabe und Chance, Ihren Kindern das Wichtigste zu vermitteln, was sie brauchen: Krisenkompetenzen, solidarisches Handeln und Resilienz. Damit legen Sie in Ihren Kindern etwas an, was im besten Fall für ein ganzes Leben Wirkung hat.
Sie stellen damit auch Ihre eigene Krisenfestigkeit auf die Probe. Krisen sind Zeiten des Prüfens, was Bestand hat, was Bedeutung hat. Das kann schmerzhaft und heilsam sein. Wir können scheitern oder mit neuer Erfahrung (s.o.) daraus hervorgehen.
Was aber, wenn Sie selbst nicht so krisenfest sind, wie sie es sein wollen? Wenn Sie an der Grenze des Aushaltbaren entlang balancieren? Wenn Sorgen überhand nehmen und Sie keine Ruhe mehr finden? Wenn Sie nicht mehr können und die Familie nicht mehr den Halt bieten kann, den alle in ihr brauchen?
Auch dann können Sie für Ihre Kinder Vorbild sein: zeigen Sie, dass man sich Hilfe holt, wenn man hilflos ist. Sprechen Sie eine der vielen Beratungsstellen, den Kinderarzt, die Lehrer:innen, die Pfarrerin, den Schulsozialarbeiter etc. an. Rufen Sie die Telefonseelsorge an, wenden Sie sich an das kommunale Krisentelefon. Besprechen Sie das mit der Familie. Haben Sie keine Angst: Stärke bedeutet nicht, alles alleine machen und aushalten zu müssen. Stärke bedeutet nicht, am Rande der Erschöpfung entlang zu balancieren und das letzte Bisschen Kraft in die Anklage der Zustände zu verwenden. Stärke bedeutet, zu wissen, wenn man Unterstützung braucht und um diese nachsucht, ganz gleich, worum es sich handelt.
Auch das ist etwas, was Ihre elterliche Stärke ausmacht und worin Sie Vorbild sein können. Auch das ist ein Teil der Krisenkompetenz, die Ihre Kinder für ihr Leben von Ihnen "abgucken" können: ich kann nicht mehr und ich hole mir Hilfe.
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