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12. Türchen: Hinter den Kulissen!

Einen großen Teil der öffentlichen Diskussion in Politik und Fachwelt nimmt das Thema „Bedürfnisse von Kindern/Jugendlichen“ ein. Wir Eltern kennen das – die Bedürfnisse unserer Kinder. Wir sind in der Familie damit konfrontiert, nehmen sie wahr, befriedigen sie –und geraten auch in Konflikte.

Je jünger ein Kind ist, umso weniger kann es benennen, welches Bedürfnis gerade unbefriedigt ist. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, worum es dem Kind geht und es dabei zu unterstützen. Dieses „Herausfinden“ gerät immer weiter in den Hintergrund familiärer Wahrnehmung, je älter Kinder werden, weil wir zunehmend gewohnt sind, dass sie ihre Bedürfnisse verbal formulieren können. Ein normaler Reifungsprozess. Bedürfnisse werden aber nicht immer (vielleicht sogar in den wenigsten Fällen) von Kindern so klar kommuniziert, wie wir uns das wünschen würden – oft erkennen Kinder ihre Bedürfnisse selbst nicht klar. Ihr Bedürfnis sucht sich viele andere und von verbaler unmittelbarer Sprache unterschiedene Ausdrucksformen wie Wunschäußerungen, Verhalten(sweisen) uvm. Bedürfnisse stehen in direkter Verknüpfung zur Umgebung des Kindes, zu seinen Bedingungen in jeder Situation und seine Ausdrucksweise reagiert darauf.

Hinter jedem „Wunsch“ steht ein Bedürfnis, hinter jedem Verhalten steht ein Bedürfnis, hinter jeder Ausdrucksweise steht ein Bedürfnis. Je älter Kinder werden, umso mehr konzentriert sich der Blick der Erwachsenen auf die Wünsche (die man erfüllt oder nicht), auf die Verhaltensweisen (die man lobt oder an denen man herum erzieht), auf die Ausdrucksweisen (die man weniger am Bedürfnis als mehr an der Situation misst) und der Blick auf die dahinterliegenden Bedürfnisse geht verloren.

An einem Beispielwill ich das (überspitzt) deutlich machen: Ein Kind äußert den Wunsch nach einem neuen hochmodernen und angesagten Paar Schuhe, sie sind unfunktional, empfindlich und teuer. Wie gehen wir als normal-gestresste, im Alltag eingefahrene Eltern darauf ein? Spontane Antworten bitte :-)

Ich denke, die meisten werden in dieser Situation spontan auf ganz andere Dinge reagieren als auf ein Bedürfnis, das hinter diesem Wunsch steckt. Wir sagen „ja“ oder „ja, aber zu Weihnachten“ oder „ja, aber (teilweise) vom Taschengeld“, wir sagen „nein, weil…“. Aber wir gehen mit keinem Wort auf das dahinterliegende Bedürfnis ein.

Schauen wir uns an, welche Bedürfnisse Kinder haben – die Literatur beschreibt sie ausführlich. Ich fasse das in Keypoints zusammen:

Kinder haben körperliche Bedürfnisse, wie Nahrung, Schlaf (regelmäßig, ausreichend), Körperpflege, Gesundheit und körperlichen Kontakt.

Sie haben emotionale Bedürfnisse wie Fürsorge (Verlässlichkeit), Schutz (Krankheiten, Gefahren, Gewalt), Förderung (ihrer Entwicklung), Wertschätzung ihrer Person und das Eingebundensein in eine Gemeinschaft.

Hinter dem Wunsch der tollen Schuhe steht – unabhängigdavon, ob die Schuhe dem Kind rein ästhetisch gefallen – das Bedürfnis, „dazuzugehören“, anerkannt und wertgeschätzt zu werden, sich in einer Gemeinschaft (hier der Peergroup) eingebunden und akzeptiert zu fühlen. Verweigern wir ihm (aus durchaus nachvollziehbaren Gründen) diese Schuhe, verweigern wir ihm die (aus Sicht des Kindes mit den Schuhen mögliche) Befriedigung des dahinterliegenden Bedürfnissen, das aber gar nicht auf unsere Person und unsere Beziehung zueinander gerichtet ist, dessen Erfüllung aber in unserer (finanziellen, erzieherischen) Macht steht. Ein komplexer Prozess für das Kind. Je tiefer es das Bedürfnis empfindet (also je größer seine „Not“ ist), umso intensiver (bis aggressiver) wird es dem Ausdruck verleihen. Sie können sich denken (und kennen das vielleicht sogar), welche Eskalationsspirale eine solche Situation nehmen kann. Warum? Weil das Bedürfnis dahinter nicht erkannt und thematisiert wird.

Niemand würde sagen, dass Bedürfnisse von Kindern nicht befriedigt werden sollten – das brauchen Kinder und das wissen wir (und wollen wir auch). Und dennoch geraten wir so oft in Konflikte, weil der Erkenntnisschritt vom Wunsch zum Bedürfnis nicht geleistet wird und bestimmte erzieherische Sichtweisen (bspw. nicht verwöhnen) unbewusst unser Handeln bestimmen. Die Nichterfüllung von Bedürfnissen muss von Kindern erst gelernt werden – Frustrationstoleranz wird aufgebaut. Je jünger ein Kind ist, umso unfähiger ist es dazu. Je älter ein Kind ist, umso mehr kann es aushalten und verstehen, dass Bedürfniserfüllung aufgeschoben werden kann und manchmal muss. Schädigend für Kinder (im Grunde ebenso für Erwachsene) wird es, wenn Bedürfnisse dauerhaft nicht erfüllt werden und/oder gar nicht wahrgenommen und anerkannt werden. Nicht jede Aufschiebung richtet Schaden an, WENN (substantielle Bedingung!) das Bedürfnis dennoch anerkannt und im bestem Fall thematisiert wird (s.u.). Auch das muss wahrgenommen werden und kollidiert oft mit überkommenen Erziehungsgrundsätzen.

Gesetzlich sind Eltern (losgelöst vom gelebten Familienmodell) verpflichtet, die Bedürfnisse des Kindes abzudecken, ihnen also Nahrung, Fürsorge, Gesundheitsschutz, Wertschätzung und Förderung zu gewähren. Viele dieser Bedürfnisse werden oft außerhäusig von fremden Personen erfüllt – das regelmäßige Mittagessen in der Kita bspw., das Spielen mit anderen Kindern, Persönlichkeitsentwicklung in der Theatergruppe, die Entfaltung kognitiver Fähigkeiten in kindgerechter Didaktik und Methodik des Schulunterrichtes usw.

In der Pandemie haben Kinder unveränderte Bedürfnisse. Alles oben Beschriebene findet weiterhin statt – verändert hat sich die Erfüllungsumwelt der Kinder. Finden Schule und Theatergruppe nicht mehr in gewohnter Interaktion statt, bleiben die dort erfüllten Bedürfnisse dennoch bestehen. Ist die Kita geschlossen und bietet kein Mittagessen an, bedarf das Kind dennoch regelmäßiger Nahrung. Die Bedürfnisse richten sich immer auf die Erfüllungsumgebung der Kinder. Eltern sind plötzlich mit der umfassenden Befriedigung der Bedürfnisse konfrontiert, von denen viele vorher nicht mehr in der Familie erfüllt wurden und manche auch IN der Familie nicht erfüllt werden können (bspw. Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen).

Zusätzlich vermissen Kinder (und auch wir Eltern) in der Pandemie unter Einschränkungen, Schließungen und Kontaktbeschränkungen unsere gewohnten Lebenssituationen/sozialen Situationen, Freunde, Hobbies… hinter dem Ausdruck des Vermissens stehen die Bedürfnisse nach Regelmäßigkeit, Förderung und Stabilität, Wertschätzung und Gemeinschaft.

Langer (Vor-)rede – kurzer Sinn:

Der erste wichtige Perspektivwechsel, zu dem ich anregen möchte, ist der, dass wir anerkennen, dass in der Pandemie mehr Bedürfnisse unserer Kinder (wieder) zurück in die Familie verlagert sind – im Übrigen auch die von uns Eltern. Das bedeutet im Räderwerk einer getakteten Familiensituation mächtiges Knirschen. Nehmen wir es als real gegeben wahr.

Der zweite Perspektivwechsel bedeutet, dass wir jedes (in der Pandemie vielleicht wahrnehmbar veränderte) Verhalten daraufhin prüfen, welches unerfüllte Bedürfnis dahinter steht. Je massiver der Ausdruck des Kindes ist, umso tiefer ist seine Not des unerfüllten Bedürfnisses. Es gibt keine negativen Bedürfnisse, Kinder manipulieren nicht (in dem moralisch verwerflichen Sinne, den wir dieser Taktik gerne unterstellen), sie benutzen uns nicht (s. Klammerbemerkung vor), sie lehnen uns nicht ab und sie wollen uns auch nicht beherrschen, tyrannisieren oder ausspielen. Das Einzige, was Kinder tun ist, ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen und jede Möglichkeit zu nutzen, sie zu erfüllen. Das ist legitim, folgerichtig und hat die Menschheit überleben lassen.

Also – halten Sie inne, wenn Ihr Kind einen Wunsch äußert, ein auffälliges Verhalten zeigt, etwas einfordert, streitet, quengelt, nervt, nicht still sitzen kann, aggressiv wird… halten Sie inne und fragen Sie sich: welche Not hat mein Kind gerade, welches Bedürfnis (nicht Wunsch!) steht hinter dem Ausdruck, mit dem ich gerade konfrontiert bin. Warum wird es so massiv? Was fehlt ihm?

Sprechen Sie mit Ihrem Kind, äußern Sie Ideen, welches Bedürfnis betroffen sein könnte. An unserem Beispiel mit den Schuhen könnte ein Gespräch sich darum drehen, wo hast du die Schuhe gesehen? Hat einer deiner Freund solche? Oder der Sänger, den du so gerne hörst? Habt ihr darüber gesprochen? Finden andere die auch so toll wie du? … Nicht immer gelangen wir sofort an die „Basis“ dieser Wünsche, Kinder lernen (leider) auch mit aufwachsendem Sich-Behaupten in der Gesellschaft, dass sie Rechtfertigungen brauchen, weil sie keine Alternativen (gelernt) haben und die Bedürfnisse nicht losgelöst wahrgenommen und befriedigt werden. Sprechen Sie das beobachtete Verhalten an und formulieren Sie kindgerecht fragend, welches Bedürfnis betroffen sein könnte.

Unerfüllte Bedürfnisse betreffen unsere tiefste Basis, auf der wir stehen: Bindung, Selbstwert, Kontrolle und Lust/Freude. Was ist betroffen? Finden Sie es heraus – das gelingt in ruhigem Gespräch mit Offenheit für das „hinter den Kulissen“? Versuchen Sie, zusammen mit Ihrem Kind den Vorhang beiseite zu schieben, zu erfahren, welches Bedürfnis zugrunde liegt und welche (alternativen) Erfüllungsmöglichkeiten es gibt. Weiten Sie den Blick zusammen mit Ihrem Kind. Sie vermitteln Ihrem Kind damit auch – Lernen fürs Leben – die Kompetenz, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und von Wünschen unterscheiden zu können.

Ist eine Befriedigung des Bedürfnissen nicht möglich, finden sich keine Alternativen, so bedeutet das eine Herausforderung der Frustrationstoleranz. Auch diese kann und wird und muss gelernt werden. Das gelingt umso gesünder, je ehrlicher und wertschätzender das Bedürfnis erkannt und anerkannt wird – auch wenn es nicht erfüllt werden kann, das Kind aber in seiner Frustration aufgefangen wird.

In der Konsequenz möchte ich Sie ermutigen, die Bedürfnisse Ihres Kindes in der Pandemie wahrzunehmen und in der Familie ernstzunehmen. Achten Sie darauf, erfüllen Sie nicht jeden Wunsch, aber nach Möglichkeit jedes Bedürfnis. Unterscheiden Sie das – Kinder, denen (fast) jeder Wunsch erfüllt wird, aber ihre Bedürfnisse trotzdem unbeachtet und unerfüllt bleiben, leiden darunter, sie sind „wohlstandverwahrlost“ und entwickeln erhebliche psychische Folgen und Störungen ihrer (Persönlichkeits-)entwicklung. Das Kind mit den Schuhen würde sich diese (vielleicht) gar nicht wünschen, wenn sein dahinterliegendes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung auf andere Weise befriedigt würde.

Gehen Sie achtsam damit um, dass Kinder, deren Bedürfnisse vor der Pandemie (auch) außerhalb der Familie Erfüllung fanden, diesen „Switch“ schmerzhaft erleben und dem zusätzlich Ausdruck verleihen. Überlassen Sie Ihre Kinder nicht sich selbst, weder hinsichtlich der Grundbedürfnisse noch bezüglich der Herausforderungen einer veränderten Beschulung oder der (pandemischen) Freizeit. Ersetzen Sie so gut es geht, die außerfamiliäre Lebenswelt der Kinder, die wir ihnen vor der Pandemie ja sehr selbstverständlich zugeteilt haben. Viele Grundbedürfnisse, die sich auf die familiäre Lebenswelt beziehen, sind durch die frühe institutionelle Betreuung vieler Kinder ausgelagert (das ist schon vor der Pandemie ein Problem) – aber JETZT fallen sie zurück in die Familien. Zudem fallen JETZT auch die nach außen gerichteten Bedürfnisse in die familiäre Situation. Das stellt als Gesamtkomplex Eltern vor enorme Herausforderungen.

Kinder sind in widrigen Umständen, wie es die Pandemie für sie bedeutet, mit enormen Anpassungserfordernissen konfrontiert. Je besser wir ihre Bedürfnisse erkennen, achten und befriedigen, umso besser gelingt Kindern die notwendige Anpassung und umso mehr Resilienz können sie entwickeln. Ein Kind, dass den größten Teil seiner Grundbedürfnisse körperlicher wie emotionaler Art IN der Familie befriedigt findet, kann mit widrigen Umständen und dem zeitweisen Fehlen des außerfamiliären Umfeldes resilient und unbeschädigt umgehen. Dass Kinder ihre Hobbies vermissen, richtet keinen Schaden an. Wenn die dahinter liegenden Bedürfnisse unerfüllt bleibt (Förderung, Wertschätzung, Gemeinschaft), kann das durchaus Schaden anrichten.

Beziehen Sie alles ein, was möglich ist – Familie, Freunde (abhängig von Kontaktbeschränkungen, die aber in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nie zu Isolation führen mussten) und v.a. achtsame bedürfnisorientierte Gespräche und bedürfnisorientierte Betätigungen auch und gerade außer Haus/in der Natur.

Und das Wichtigste bei allem: Schauen Sie hinter die Kulissen!

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