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16. Türchen: Ich bin selbst wirksam!

Eine der größten Wirkungen der Pandemie auf uns ist das Gefühl des Kontrollverlustes. Als 2020 das Land das erste Mal herunterfuhr, verstanden wir das als Schutzmaßnahme, die uns gegen das unbekannte Virus half, aber auch bedeutete, den Schock, den die Welt bekam, zu bewältigen.

Viele empfanden die verordnete Ruhe als wohltuend, hoffend, dass damit die Pandemie einer schnellen Kontrolle unterliegen könnte. Man suchte sich neue Hobbies, es entstand in vielen Familien das Gefühl „endlich Zeit für…“ – ein konstruktiver Umgang. Wir hatten genug Kraft für den Beginn. Aber die Pandemie endete nicht nach dem ersten Lockdown, den wir bravourös hinbekommen und für den wir in der ganzen Welt gelobt wurden. Mit den Monaten entpuppte sich das Pandemiemanagement als Gummiband, dass mal mehr, mal weniger gespannt unser Leben im Griff hat – und das ist der Punkt. Nicht wir haben unser Leben um Griff, sondern eine Mischung aus Virus, Politik, Befürwortern und Gegnern, Maßnahmenverschärfungen und -lockerungen. Allein das Warten auf die nächste (kurzfristige) Schulmail und spontanes Reagierenmüssen gab und gibt uns nicht unbedingt das Gefühl, das Leben unserer Familie selbst im Griff zu haben. Das zehrt an unseren Kräften, die irgendwann aufgebraucht sind, wenn die Bilanz zwischen Bedarf und Nachschub in Schieflage gerät. Wir werden pandemiemüde, wir werden mütend.

Dazu kommt ein allgemeines Gefühl des Kontrollverlustes unserer bekannten Welt, wenn wir aus eigenem oder anderen Ländern immer wieder eine starke Ausbreitung der Pandemie erleben. Jeder von uns hat in irgendeiner Form eine Meinung dazu, wie mit der Pandemie umzugehen sei, jeder hat Kritik an der einen oder der anderen Strategie – aber keiner von uns kann das Gefühl entwickeln, mit seiner Meinung wirklich Kontrolle zu erlangen.

Kontrollverlust bedeutet Stress, Menschen können unterschiedlich darauf reagieren. Die Einen nehmen hin, was kommt. Andere geraten in Konflikte, weil sie sicheren Boden unter den Füßen brauchen. Für sie ist es schwierig, das Nicht-kontrollierbare als momentane Stellgröße des eigenen Lebens zu akzeptieren. Kinder sind in besonderem Maße auf das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit angewiesen und sollten das (und suchen das) vor allem in der Familie finden, im Halt bei den Eltern, umso mehr, wenn um sie herum strukturierende und orientierende Begleitlebensumstände ausfallen.

Es ist also Zeit, einen Perspektivwechsel vorzunehmen - vom "ich kann nichts tun" zum "ich kann etwas tun". Dem Kontrollverlust hat die Psychologie das Konzept der Selbstwirksamkeit entgegengestellt. Der Begriff dürfte heutzutage jeder Familie schon über den Weg gelaufen sein, in Entwicklungsgesprächen der Kita, beim Elternabend, im Gespräch mit dem Sozialarbeiter oder dem Kinderarzt… Selbstwirksamkeit ist eine wichtige kindliche Entwicklungserfahrung, für die es eine Flut von Ratschlägen und Tipps, Ideen und Reflexionen gibt. Traue deinem Kind etwas zu, stelle es vor Situationen, von denen du ausgehst, dass dein Kind sie erfolgreich (selbstwirksam) bewältigen kann und gestärkt daraus hervorgeht.

Selbstwirksamkeit ist eine der Säulen der Resilienz, also der Fähigkeit, Belastungen standzuhalten. All dies erlebten wir auch schon vor der Pandemie als wichtigen Teil der Entwicklung unserer Kinder.

Die Pandemie ist diesbezüglich die aktuell größte Herausforderung und wir können erfahren, wie gut und tragfähig unser jahrelanges „resilienzförderndes“ Erziehungs- und Entwicklungsmodell ist. Sind wir stark genug? Sind unsere Kinder stark genug? Achten wir darauf, dass sie ihre Fähigkeiten einsetzen (können), um die sie betreffenden Herausforderungen der Pandemie zu bewältigen? Was können wir jetzt dafür tun, dass sie die nächsten Phasen der Pandemie gut überstehen?

Wissenschaftlich konnte nachgewiesen werden, dass vergangene Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und das Sich-daran-erinnern angesichts neuer Herausforderungen einen entscheidenden Einfluss auf die Bewältigung der neuen Situation haben. Wir sammeln sozusagen wie auf einem Sparbuch selbstwirksame, resilienzbewirkende Erfahrungen, dessen Zinsen und Guthaben wir bei Bedarf nutzen können, wenn die Kompetenzen und Haltungen gefordert sind.

Ein Kind hat erst ein kleines Sparbuch, Erwachsene im Idealfall ein größeres. In allen Altersstufen kann die „Einzahlung“ auf das Sparbuch beeinträchtigt sein, wenn Situationen scheitern, wenn wir überfordert waren oder ungünstige Entscheidungen zur Krisenbewältigung getroffen haben. Dann ist das Polster zu gering und die aktuelle Herausforderung zu groß.

Wie können wir nun auch in der Pandemie, die uns eher vom Sparbuch abheben statt einzahlen lässt, dennoch unseren Kindern Selbstwirksamkeit ermöglichen und damit ein Stück gefühlter Kontrolle über die Situation (zurück-)geben?

Selbstwirksamkeit beginnt mit dem Satz „Ich kann etwas tun.“ Und in der Pandemie können wir eigentlich sehr viel tun – es gibt entsprechend der Swisscheese-strategy eine Menge Käsescheiben (Maßnahmen), die wir selbst nutzen können: halte ich zu anderen Menschen Abstand, habe ich das Gefühl, den anderen oder mich selbst nicht zu gefährden (also Kontrolle über die Ansteckungsgefahr der Situation zu haben), Gleiches kann ich durch das korrekte und konsequente (lieber einmal zu oft als einmal zu wenig) Tragen der Maske erlangen, das Entscheiden, diesen oder jenen Kontakt NICHT zu gewähren, diese oder jene Veranstaltung/Termin abzusagen, mich eigenständig testen zu lassen, bevor ich mit anderen Menschen zusammentreffe, mich impfen zu lassen…

All dies sind Handlungsweisen der Selbstwirksamkeit in der Pandemie. Sie sind anstrengend – ja. Und an manches hat man sich immer noch nicht gewöhnt – ja. Und Politik macht es einem nicht leicht, sich zu gewöhnen; das Zerren um Verschärfung und Lockerung lässt kaum ein langfristiges Ziel erkennen und umso schwieriger auch im Privaten entscheiden, wie man selbst damit umgeht. Auch das ist eine Form des Kontrollverlustes, dem zu begegnen ist (und dem begegnet werden kann), indem wir bspw. die Maske tragen, auch wenn es gerade für ein paar Wochen Lockerungen gibt (was der größte Teil der Schüler:innen in den kurzen Phasen des „Maske-ab“ in NRW z.B. selbstwirksam und eigenverantwortlich gemacht hat).

Die Akzeptanz und Befolgung der Regeln in der Pandemie sind EINE Möglichkeit, Selbstwirksamkeit und Kontrolle zu erlangen – auch und gerade für Kinder. Ich gestehe jedem seine Meinung zu den nicht immer einsichtigen und oft verunsichernden Maßnahmen an Kitas und Schulen und im Freizeitbereich der Kinder zu, aber wir müssen uns Eines klar machen: die Regeln und das Verständnis der Kinder, welchen Schutz und Sinn sie machen, geben den Kindern ein Stück Selbstwirksamkeit in die Hand und das beschädigen wir, wenn wir sie (aus eigener Ablehnung oder der Sichtweise, Kinder dürften nicht belastet werden) darin nicht unterstützen. Wir können die Pandemie nicht von den Kindern abkoppeln. Wir stürzen sie in Konflikte und nehmen ihnen die Möglichkeit, über ihr Leben in der Pandemie und die Kontakte zu ihren Freunden und Familienangehörigen ein Stück Kontrolle zu erlangen. Kinder von Maßnahmen freizusprechen, entzieht ihnen das wichtigste Stück Pandemiebewältigung, das sie haben und das hat Folgen für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Krisenkompetenz. Ein Virus rast um die Welt, sehr viele Menschen sterben, sehr viele erkranken schwer – nicht NUR die Alten, sondern auch Väter und Mütter, überall gibt es drastische Veränderungen, aktuell sind am stärksten die Kinder durch Infektionen betroffen, sie stehen mitten im Wirbel – in dieser Situation ist kaum etwas wichtiger, als Kindern tragfähige Möglichkeiten zu geben, Teil der Strategie zu sein. Darauf haben sie ein Recht, denn sie sind Teil dieser Welt, Teil dieser Pandemie, sie sind betroffen und haben Anspruch auf Schutz und selbstwirksame Handlungsmöglichkeiten.

Das Beste, was Sie tun können, ist, sie darin zu unterstützen, ihnen Handlungsoptionen an die Hand zu geben, kindgerecht, angepasst, angemessen kommuniziert. Selbstwirksame Erlebnisse der Vergangenheit stärken uns für die Gegenwart und Zukunft. Sprechen Sie mit Ihren Kindern über Vergangenes, was sie gestärkt hat, das Kind, die Familie und schlagen Sie eine Brücke: das schaffen wir jetzt auch. Wir können zukunftsgerichtet unsere Kinder jetzt darin unterstützen, selbstwirksam mit der Pandemie umzugehen, um ein späteres: „Das haben wir überstanden.“ zu ermöglichen.

Beeindruckend fand ich – mal wieder – in meinen Gesprächen die Sichtweise der Kriegsgeneration: „Wir haben schon ganz anderes überlebt...“  und mit diesen Worten wurde lässig die Maske im Gesicht gerichtet. Ich konnte es nachvollziehen – das Überleben der schlimmsten Katastrophe des 20. Jahrhunderts kann – trotz Traumatisierung, trotz unvorstellbaren Verlusten, trotz des Nicht-mehr-daran-denken-wollens und Nicht-aushalten-könnens – Überlebenswillen und das Gefühl, selbst größte Herausforderungen bewältigen zu können, stärken.

Neben allem pandemischen selbstwirksamen Handeln können wir Kindern (und uns selbst!) ganz allgemein Raum für Selbstwirksamkeit bewusst schaffen – wir geben Möglichkeit, aufs Sparbuch einzuzahlen. In der Familie (s. das Türchen, hinter dem ich über Haushaltsstruktur und Verteilung von Familienaufgaben sprach), in sozialem Engagement, mit dem auch Kinder das Gefühl bekommen können, ihre Stärken für Schwächere einsetzen zu können, in Freizeitaktivitäten, die Herausforderung und Lösung beinhalten… Darauf sollten wir in dieser Zeit besonders achten – denn wir als Familien werden noch eine ganze Weile vom Sparbuch abheben müssen und wir sollten mehr denn je darauf achten, dass genug drauf ist, auch und gerade auf dem unserer Kinder.

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