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17. Türchen: Haben Sie Ihr Kind heute schon gelobt?
Die Pandemie verlangt von allen Menschen, von Familien, von Kindern Außerordentliches. Kaum ein Alltag ist nach knapp 2 Jahren noch oder wieder so, wie wir ihn vor der Pandemie kannten und lebten. Damit soll nicht gesagt sein, dass der vorpandemische Alltag ideal war und unbedingt wieder erstrebenswert sei, aber er war das, was wir alle kannten und in dem wir uns mehr oder weniger gut arrangiert hatten. Der Alltag war kalkulierbar, geplant, gewohnt. Das ist seit über 20 Monaten aufgebrochen und am Beginn der Pandemie hätten wir kaum vorraussagen können, was wir in dieser Zeit erlebt haben und was wir bewältigen mussten.
An fast jede Veränderung haben wir uns angepasst und einen einigermaßen guten Umgang gefunden. Dennoch sind alle müde und entkräftet, die Anstrengungen sind hoch. Das Gefühl, trotz großen Engagements nicht zur Ruhe zu kommen, belastet zusätzlich.
Ein wichtiges Mittel, diese Belastungen aufzufangen, ist Wertschätzung. Das kennen wir aus dem vorpandemischen Alltag. Wenn es stressig wird, tut es uns besonders gut, Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren. Das ist wie ein kurzes Aufatmen und Luftschöpfen. Kinder sind in besonderem Maße auf Wertschätzung angewiesen, sie vermittelt ihnen das Gefühl, „o.k.“ zu sein, auf dem richtigen Weg und den Herausforderungen gewachsen zu sein. Wertschätzung vermittelt Orientierung. Wertschätzung fördert Selbstvertrauen und Mut. Kinder spüren intuitiv, was sie leisten, wie anstrengend Dinge sind und sie spüren, ob die Reaktion des Gegenübers „angemessen“ ist.
Ich lade zu einem weiteren Perspektivwechsel ein, die Welt nicht aus unseren Augen, sondern durch die Augen der Kinder zu sehen – dieses Mal bezogen auf deren Leistungen in der Pandemie, ihr Bemühen, ihre Anpassung. In der öffentlichen Diskussion wird aktuell viel über die Belastungen der Kinder und Jugendlichen gesprochen – aber es wird über sie gesprochen und weder mit ihnen, noch durch ihre Augen geschaut. Die Reaktionsweisen gehen m.E. an dem vorbei, was Kinder brauchen: Anerkennung und Wertschätzung. Politische Entscheidungen haben zum Ziel, die Situation für Kinder möglichst „normal“ zu gestalten. Abgesehen davon, dass dies kaum gelingen kann, da „normal“ bedeuten würde, viele Infektionen zuzulassen, noch viel mehr, als wir jetzt haben und sehr viele Kinder davon betroffen sind (und noch viel mehr wären), fehlt diesem Ansinnen auch das, was eigentlich nötig wäre: Wertschätzung und Anerkennung.
Was aber heißt das für uns als Familien? Wir sind der Ort, wo Anerkennung und Wertschätzung den tiefen Kern der Person erreichen kann. Nichts lässt ein kleines Kind mehr strahlen als ein Lob von Mutter oder Vater – das Bedürfnis nach Anerkennung fremder Personen wächst erst mit zunehmendem Alter. Und dennoch bleibt noch sehr lange: die ehrliche und bedingungslose Wertschätzung aus der Familie wiegt ungleich mehr – Teenager finden das nach außen hin oft peinlich und signalisieren wenig Berührtheit. Aber dennoch brauchen sie unbedingt diese Anerkennung auch und gerade in den Jahren, in denen sie wie ein Kugelfisch anmuten.
Wertschätzung fängt im Kleinen an: Freundlichkeit und Höflichkeit auch in der Familie, auch Kindern und Jugendlichen gegenüber. Wollen wir, dass unsere Kinder höflich sind, ist es unsere Verantwortung, dies auch ihnen entgegen zu bringen, auch wenn sie stachelig oder trotzig sind und es ab und zu notwendig wird, die Leitlinien (auch des Umganges miteinander) klar zu kommunizieren. Konsequente Erziehung kann auch höflich sein, kann liebevoll und wertschätzend sein, freundlich und geduldig. Das ist das beste Vorbild und die beste „Schule des Lebens“, die wir ihnen bieten können. Und der beste Nährboden für Stärke und Selbstvertrauen.
Loben Sie Ihr Kind – für seine Geduld in der Pandemie, für seine Bemühungen und Anstrengungen in der Schule, die alles andere als normal ist, auch wenn alle jeden Morgen im Schulgebäude erscheinen. Benennen Sie, was es heute gut gemacht hat, bedanken Sie sich, wenn es (trotz vereinbarter „Selbstverständlichkeit“, s. Türchen 2) einen Anteil am Familienhaushalt übernimmt. Wertschätzen Sie als wichtige Aspekte, wenn Kritik geäußert wird an Abläufen, an Verhaltensweisen. Gerade in unserem durcheinander geschüttelten Familienalltag können Kinder daran wachsen, Selbstwirksamkeit erfahren und das Gefühl haben, wichtig zu sein und Teil der Lösung zu sein, die die Situation lebbar(er) macht.
In den 70ern gab es einen Aufkleber, den man an vielen Autos sah: „Haben Sie Ihr Kind heute schon gelobt?“ Er stand im Kontext einer zunehmenden Abkehr von sog. schwarzer Pädagogik, autoritärer Erziehung und einer Kommunikation der Korrektur statt Wertschätzung. Wie weit wir damit bis heute gekommen sind, kann jeder in seiner Familie herausfinden: wann reagiere ich mehr? Wenn etwas gut läuft oder wenn etwas nicht so gut läuft?
So banal die Frage nach dem Lob klingt, so tief ist seine Bedeutung und es geht nicht nur um ein einfaches ausgesprochenes „gut gemacht“, sondern um eine wertschätzende Grundhaltung. In der Pandemie brauchen Kinder dies in besonderem Maße, die lobenden Worte der Politik reichen nicht, zeigen aber, dass es eine besondere Anerkennung braucht. Sie brauchen die Anerkennung in erster Linie von denen, die ihnen am nächsten stehen. Und sie brauchen sie, um die Einschränkungen und die sie betreffenden Maßnahmen, das Masketragen, das Abstandhalten, das Wirrwarr um ihre Schule und den Verein zu ertragen und mehr noch – aktiv mitzugestalten. Wertschätzen sie verantwortungsvollen Umgang mit der Pandemie, anerkennen Sie das Befolgen der infektionseindämmenden Regeln. Kinder wissen, dass sie sich anstecken können und andere anstecken können – wenn sie sich rücksichtsvoll verhalten, verdient das ausdrückliche und ehrliche Anerkennung.
Schreiben Sie sich einen Zettel und kleben sie ihn an die Haustür und den Badspiegel: „Habe ich mein Kind heute schon gelobt?“ Und dann tun Sie es. Jeden Tag. Gerne mehrmals. Haben Sie keine Angst: Anerkennung kann man nicht übertreiben und Wertschätzung ist keine Verwöhnung.
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