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23. Alles hat ein Ende…! Über Zeit und Ewigkeit und einen Besenstrich.

Machen Sie sich und Ihrer Familie immer wieder klar: wie es jetzt ist, bleibt es nicht für immer. Alles, was Sie jetzt organisieren müssen, stemmen müssen, aushalten müssen, was Sie beengt und belastet, was Ihnen Sorgen macht und Sie vor große Herausforderungen stellt, ist eine vorübergehende Situation. Auch wenn sie länger dauert als wir uns bislang Krisen vorstellen konnten: es ist nicht der Zustand, in dem Sie für den Rest Ihres Lebens werden verharren müssen. Und auch Ihre Kinder werden nicht ihre gesamte minderjährige Zeit mit den Unwägbarkeiten leben müssen. Gehen Sie in eine gesunde Distanz zu medialen Dramatisierungen und wütenden Vorwürfen, die suggerieren können (manchmal auch sollen), wir würden „ewig“ eine Maske tragen, „für immer“ einen Impfpass vorzeigen müssen oder „nie wieder“ eng gedrängt dampfend in der Kneipe feiern. Sich diesen sachlich falschen und emotional toxischen Meinungen auszusetzen, bedeutet eine zusätzliche Ohnmacht. Sie führt zu Gegenwehr – niemand möchte „ewig“ damit leben und wir beginnen, die (vermeintliche Ewigkeit der) Maßnahmen zu bekämpfen, anstatt die Pandemie und wir drängen in Haltungen, die unsere Kräfte von dem abziehen, wo wir sie dringend brauchen – bei unserer Familie, bei unserem Alltag und bei unseren Alternativen.

Wechseln Sie die Perspektive. Pandemienverlaufen (auch) in Phasen, ein Virus verbreitet sich schneller, wenn wir ihm viele Gelegenheiten geben und langsamer, wenn wir sie ihm versagen. Es gibt Zeiten mit mehr Beschränkungen, Zeiten mit weniger Beschränkungen, Zeiten, in denen wir mehr raus gehen können und Zeiten, in denen sich das Leben jahreszeitenbedingt mehr in der Wohnung abspielt. Letztlich hängt die Länge einer pandemischen einschränkenden Situation auch davon ab, wie eine Gesellschaft sich der Pandemie stellt und daran hat jeder – so ohnmächtig wir uns auch fühlen mögen – faktisch einen Anteil, den man nicht zeitlich konkret fassen kann, außer in der Sicherheit, dass sie nicht ewig dauern wird.

Untermauern können wir das mit dem, was ich Akzeptanz der Komplexität nennen möchte. Die meisten von uns sind nicht Wissenschaftler und Forscher, die entweder am Virus oder an den gesellschaftlichen Prozessen und politischen Dynamiken forschen und damit eine tiefere fachliche Einsicht haben. Wir sind darauf angewiesen, die wichtigen Informationen übermittelt zu bekommen und wir haben als Menschen ein Bedürfnis, zu verstehen und einordnen zu können, was um uns herum passiert. Eine Pandemie (v.a. weltweit) ist allerdings eine komplexe Situation, die von sehr vielen Faktoren abhängt, sich für uns unkalkulierbar und dynamisch darstellt und wenig einfache Vergleichbarkeiten und Orientierungen geben kann. Auch hier ein Perspektivwechsel: akzeptieren Sie das. Im Rheinland sagt man: et is wie et is (es ist, wie es ist). Das ist nicht immer leicht – und schon gar nicht, wenn viele orientierende Faktoren unseres Alltags fragil geworden und nicht einfach ersetzbar sind. Akzeptieren Sie, dass Erkenntnisse über die Pandemie, das Virus, die Wirkung von Maßnahmen etc. einem wissenschaftlichen Prozess unterliegen – also erst nach und nach sicher beantwortet werden können und Politik dem nachhängt und auch Fehler macht. Das führt zu Kurskorrekturen. Die komplexen Phasen einer Pandemie erfordern variierende Reaktionsweisen, wir aber brauchen Sicherheit. Diese Diskrepanz müssen wir aushalten und das gelingt uns besser, je sachlicher wir darüber nachzudenken bereit sind.

Die Dynamik für sich zu nutzen und – ähnlich wie alle Entscheidungen, Erkenntnisse, Entwicklungen – das Leben in der Pandemie in kürzeren berechenbaren Phasen zu gestalten, mehr im Hier und Jetzt als im Morgen oder Gestern zu sein, kann helfen, ohnmächtige Gefühle und Ängste zu reduzieren, den empfundenen Kontrollverlust in Grenzen zu halten und vor allem Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit zu erfahren und damit Ent-lastung.

Von der Politik werden zu Recht Perspektiven erwartet. Wer unsere Geschicke lenkt, muss uns sagen, wohin die Reise geht. Das gelingt den Politikern aus verschiedenen Gründen nicht (immer). Manche Gründe sind in der Tat kritikwürdig, manche der Dynamik der Pandemie geschuldet (s.o.). Perspektiven eröffnen Ziele und Handlungsmöglichkeiten, geben Orientierung und Sicherheit. Im Alltag sind wir Lenker unseres familiären Geschickes und können uns selbst Perspektiven schaffen, wenn wir kürzer planen, die sich in Zeitabständen verändernden Bedingungen annehmen und uns jeden Tag die Frage stellen: Was wird heute in meinem eigenen Wirkungskreis für mich und meine Familie möglich sein? Wechseln Sie die Perspektive von der Sorge vor der „Ewigkeit“ der Pandemie zu den kürzeren Zeitfenstern, die sie selbst gestalten können.

Kennen Sie das Buch „Momo“ von Michael Ende? Erinnern Sie sich an Beppo, den Straßenkehrer? Der, der vor der langen Straße, die unendlich (ohne Ende) zu sein schien stand und sie kehren musste? Eine überlastende Aufgabe, die kein Ende zu finden schien, überlastender, als selbst ein erfahrener Straßenkehrer schaffen kann. Sein erfolgssichernder Umgang mit dieser endlos wirkenden Überlastungssituation war der Perspektivwechsel: nicht auf die lange Straße in die unendliche Ferne blicken und sich der Ohnmacht des „das schaffe ich nie“ ergeben, sondern auf den nächsten Schritt, den Stein, den Meter direkt vor ihm: ein Schritt, ein Besenstrich, ein Schritt, ein Besenstrich…

Seine Sie ein bisschen wie Beppo in allen Bereichen Ihres Alltags, die das hergeben. Sagen Sie sich (und sprechen Sie in der Familie darüber), was die Situation ist. Verbieten Sie sich (sanft) ein "aber...". Das wird nicht weiterführen. Ermutigen Sie sich selbst und Ihre Familie, von dem "das ist jetzt so" weiterzudenken, was Sie daraus machen können. Bekämpfen Sie nicht das, was "jetzt so ist", sondern besprechen Sie, wie Sie als Familie damit umgehen können. In den letzten 23 Tagen haben wir hier eine Menge Möglichkeiten gesammelt, die auf dieser veränderten Perspektive aufbauen können.

Ein bewältigter Besenstrich und ein weiterer Schritt sind selbstwirksame Erfolgserlebnisse. Ein gut bewältigter Tag in der Familie ist ein selbstwirksames Erfolgserlebnis. Eine kreative Lösung für ein Problem ist ein selbstwirksames Erfolgserlebnis. Ein Perspektivwechsel, der uns plötzlich eine neue Erfahrung ermöglicht ist ein selbstwirksames Erfolgserlebnis. Eines nach dem anderen. Jede Straße ist endlich. Und auch die Pandemie.

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