Der Entscheid der EU-Kommission, Atomkraft und Erdgas befristet und mit Auflagen als nachhaltige Energieträger für Investoren zuzulassen, schlägt hohe mediale Wellen. Dabei gerät so manches durcheinander, und es wird übersehen, was der Entscheid bedeutet: einen politischen Kompromiss mit Symbolgehalt, aber überschaubarer Wirkung. Denn die Energiepolitik wird nach wie vor in den Mitgliedsstaaten gemacht.
Ein Kontinent erfindet sich neu, nachdem er vor zweieinhalb Jahrhunderten das Anthropozän eingeleitet hatte, das Zeitalter, das den Planeten Erde verwandelt wie ein Meteoriteneinschlag. Artensterben, Klimawandel, der exzessive Verschleiss nicht erneuerbarer Ressourcen, ein Lebensstil, der schon ab Frühherbst, wenn die erschöpfte Mutter Erde immer noch mehr Fettreserven anzapfen muss, um das masslose Riesenbaby Mensch zu nähren, darauf ausgelegt ist, alles noch schlimmer zu machen. Und nun soll alles besser werden. Der «Green Deal « der Europäischen Union ist ebenso ein Versprechen wie die nationalen Aktionspläne der europäischen Staaten. Sie alle haben das Ziel, bis zur Jahrhundertmitte auszubrechen aus dieser Teufelsspirale, die aber eben auch genährt wird vom Versprechen eines ewigen Wohlstandes. Da fällt das Loslassen schwer. Alle wollen und sollen es gut haben, neuerdings auch jene, um die sich die Europäer nie sonderlich gekümmert haben, die sie früher «Entwicklungsländer» genannt haben und heute die «Verwundbaren» nennen. Sie versprechen ihnen, dass sie es nun ernst meinen mit der Weltgerechtigkeit, die sie so lange zu ihren Gunsten ausgelegt haben.
Es ist wie in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als die europäischen Politiker der Grossmächte sich wie Schlafwandler gebärdeten und die Welt sehenden Auges in die Katastrophe führten. Sie dachten und handelten in militärischen Kategorien, die angesichts von neuen Massenvernichtungswaffen längst Makulatur waren und berauschten sich an der Eroberung der Welt. Heute stecken alle Verantwortlichen in einem ähnlichen Dilemma. Sie verteidigen einen Lebensstil, der sich als unhaltbar erwiesen hat und versprechen, ganz im Sinne der industriellen Revolution, technische Lösungen, um bloss nicht darüber sprechen zu müssen, dass es an der Zeit ist, bescheidener zu werden.
Drei Jahrzehnte sind seit der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio verstrichen, als der Begriff «Nachhaltigkeit» um die Welt ging, ein Vierteljahrhundert seit der Klimakonferenz von Kyoto, als niemand, allen voran die Politikerinnen und Politiker, mehr bestreiten konnte, dass es ernst wird mit dem Klimawandel, dass die Welt handeln muss, und die entwickelte, industrialisierte Welt vorangehen muss. Die Europäische Union nahm, im Gegensatz zu den USA und China, diese Vorreiterrolle an und zählt bis heute an allen Klimagipfeln zum Block der Progressiven, will stets weiter gehen als der Rest der Welt. Und doch ist es nicht weit genug. Bei weitem nicht. Wer den Koalitionsvertrag des deutschen Ampelbündnisses zum Massstab nimmt, der so ambitioniert klingt, in praktisch allen entscheidenden Fragen aber im Vagen bleibt, wird ebenso ernüchtert sein wie über die Kehrtwende des französischen Präsidenten Emanuel Macron, der nicht mehr, wie zu Beginn seiner Amtszeit vor fünf Jahren, vom schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie, sondern im Gegenteil von einer unvermittelt wieder golden erscheinenden Zukunft spricht.
Es ist Ausdruck der Ratlosigkeit, die die Regierenden in den beiden grössten Mitgliedsstaaten der EU erfasst hat. Emanuel Macron lernte seine Lektion bei der Protestbewegung der Gelbwesten, die sich gegen höhere Steuern auf fossile Brennstoffe zur Finanzierung der Energiewende richtete, der neue Bundeskanzler Olaf Scholz biss sich am wirtschaftsliberalen Koalitionspartner FDP die Zähne aus, der durchsetzte, dass die Schuldenbremse ein geplantes gigantisches staatliches Investitionsprogramm für die Energiewende praktisch verunmöglicht. Das spiegelt die gesellschaftliche Realität in Frankreich und in Deutschland. Und nicht nur dort. Österreich, das derzeit mit einer Klage vor dem EU-Gerichtshof droht, verschlief 20 Jahre lang die Energiewende trotz einer der besten Ausgangslagen in ganz Europa mit einem sehr hohen Anteil an Wasserkraft, und ob die Grünen im Verbund mit der mächtigen, in Energiefragen zerstrittenen ÖVP, die nun ehrgeizigen Pläne (CO2-Neutralität bis 2040) auch durchsetzen können, ist alles andere als gewiss. Auch das Nicht-EU-Mitglied Schweiz, in den 1990er-Jahren noch ein solarer Pionier, verschlief 20 Jahre und steht heute, nachdem an der Urne ein Gesetz zur Förderung erneuerbare Energien abgelehnt worden ist, praktisch vor einem Neuanfang. Polen ist so abhängig von der Kohle wie Frankreich von der Atomkraft, und auch im sonnenverwöhnten südlichen Europa geht der Ausbau erneuerbarer Energien zu langsam voran. Atomkraft, Erdgas und auch Kohle bleiben auf der energiepolitischen Agenda.
Das bringt praktisch alle europäischen Staaten ins Dilemma. Denn die Selbstverpflichtung, wie sie im Pariser Klimaabkommen, in den meisten nationalen Gesetzen und auch beim Green Deal der EU gilt, ist ja eigentlich Ausdruck einer kollektiven Einsicht: Bis zur Jahrhundertmitte muss Schluss sein mit fossilen Brennstoffen, die das Klima anheizen. Weltweit. Und es bleiben nur noch wenige Jahre, um dieses Ziel nicht vollends aus den Augen zu verlieren. 2030 ist das Schlüsseljahr. Bis dann müssen die entscheidenden Weichen gestellt sein. Das ist, so sagen die Expertinnen und Experten, rein technisch machbar. Doch gilt das auch politisch? Es sieht nur sehr bedingt danach aus. Überall in Europa.
Vor diesem Hintergrund ist, politisch betrachtet, die Entscheidung der Europäischen Kommission, Atomkraft und Erdgas (nicht aber Erdöl und Kohle) befristet als nachhaltig einzustufen und in die Taxonomie nachhaltiger Geldanlagen aufzunehmen – allerdings in einer Untereinstufung als drittklassig – so pragmatisch wie Macrons Renaissance der Atomkraft oder die Einsicht der deutschen Ampel-Koalition, dass es für den Übergang Gaskraftwerke brauchen wird. Und es ist auch die Einsicht, dass die Klimapolitik nach wie vor in den Ländern gemacht wird und nicht in Brüssel. Es muss noch nicht heissen, dass das Null-Emissions-Ziel damit nicht mehr zu schaffen ist. Aber es birgt die Gefahr, dass der Ernst der Lage weiter von breiten Kreisen verkannt wird. Und es birgt auch die Gefahr, dass die Zeit falscher Versprechungen noch nicht vorüber ist. Denn tatsächlich erfüllen ja weder die Atomenergie noch das Erdgas die Taxonomie-Kriterien der EU. Und sie rechnen sich auch finanziell nicht. AKW-Strom aus neuen Kraftwerken ist mehrfach teurer als Wind- und Solarstrom, und auch die explodierenden Preise für Erdgas lassen ebenso wenig Spielraum. Die jüngsten Erfahrungen beim Bau von europäischen AKW sprechen Bände. Niemand investiert in eine Technologie, die schlicht nicht mehr marktfähig ist - ausser der Staat hilft, wie in Grossbritannien und Frankreich, das in der atomaren Abhängigkeit gefangen ist, nach. Das ist die ökonomische Realität, und darüber wird auch jeder nachhaltige Investor nicht hinwegsehen. Der billige Strom der Zukunft fliesst ohne staatliches Zutun erneuerbar aus Windrädern und Solarzellen. Die staatlichen Investitionen braucht es für die Infrastruktur, Überlandleitungen, Ladestationen, Fördermittel für die Umstellung auf erneuerbare Energieversorgung von Liegenschaften, Industrie und Handel. Denn es gilt ja, nicht nur die Strom-, sondern die gesamte Energieversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen. Das ist eine gigantische Herausforderung, und es kann sein, dass Atomkraft und Erdgas ihren Beitrag als Brückentechnologie leisten müssen, um diese zu meistern. Doch der Umstieg wird so oder so nicht zu schaffen sein, wenn die Gesellschaften nicht mitzuziehen bereit sind. Dieser Übergang braucht Zeit. Zu viel Zeit, werden alle sagen, die den Ernst der Lage nicht verkennen. Aber es braucht eben auch solide politische Mehrheiten. Und die sind wohl erst in Sicht, wenn es gelingt, die neuen erneuerbaren Energien wirklich salonfähig zu machen, sie nicht einfach als unabdingbar darzustellen, sondern als günstige und nachhaltige Alternative zu den Technologien eines anderen Zeitalters, das auf unhaltbaren Versprechen beruhte. Und es muss auch gelingen, jene ins Boot zu holen, die nicht bereit sind, sich zu verabschieden vom vermeintlich goldenen Zeitalter der Nachkriegszeit, als für kurze Zeit alles für alle möglich schien. Dann, erst dann wäre auch an den nächsten Schritt zu denken: Weniger ist mehr, und weniger ist auch mehr für alle, die noch am wenigsten haben. Es wird viel Überzeugungsarbeit brauchen. Von oben und von unten.