Sehr geehrte Kultusminister und Kultusministerinnen, verehrte Frau Prien,
vor zwei Wochen habe ich hier schonmal gestanden und Sie persönlich angesprochen. In diesen zwei Wochen ist die Situation nicht um einen Deut besser geworden, im Gegenteil, der Anteil infizierter SuS steigt unermesslich. Sie wie wir wissen, dass das ein hochriskantes Unterfangen ist, weil weder Sie noch irgendjemand, nicht einmal die Fachspezialist:innen, Kindern und Eltern garantieren können, dass eine Infektion immer glimpflich und v.a. OHNE Spätfolgen abläuft. Die Realität zeigt gerade, worüber seriöse Wissenschaftler:innen seit Monaten sprechen, eine hohe Zahl an Infektionen bedeutet auch eine entsprechend anteilig höhere Zahl an problematischen Erkrankungs- und LongCovid-Fällen. Aber die Schulen bleiben weiter offen mit dem Konzept „beten und lüften“ und versinken von Tag zu Tag tiefer im Chaos. Stundenentfall wie nie zuvor, Vormittage aus reinen ratlosen Vertretungsstunden, jeden Tag neue Infektionen, neue verunsicherte Kinder, Chaos in den Schulen und Familien. So haben Sie sich das vorgestellt? Das sind Ihre offene Schulen zum Wohle der Kinder?
Dass Ihre Narrative spätestens jetzt, wo die Schülerinnen und Schüler selbst sichtbar werden und sich zu Wort melden, wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, ist Ihnen so klar wie wir es lange gehofft haben. Schüler:innen sind KEINE Hygienefilter, sie sind KEINE Bremsklötze und Schulen sind NICHT sicher, auch nicht relativ. Das wussten wir Eltern und das wussten die Kinder seit langem und das wissen wir auch heute. Und Sie, verehrte Kultusminister und Kultusministerinnen wissen das auch.
Schule waren in der Pandemie noch nie sicher, außer in den Phasen der Niedriginzidenz, mit zumindest einigen Maßnahmen, die auch ein niedriges Infektionsgeschehen niedrig unter Kontrolle hielten. Diese Chance haben Sie aber sehenden Auges verpasst, wir haben den Eindruck, dass die aktuelle Situation durchaus bewusst in Kauf genommen wird.
Für alle Kinder ist das eine unzumutbare Situation, für eine Gruppe ist das allerdings ein existentielles Desaster – für die Risikokinder und Risikofamilien, für die Schattenfamilien, also Familien, in denen Kinder oder im Haushalt lebende Angehörige Risikopatienten sind.
Einige Zahlen dazu
1. In Deutschland leben über 452.000 Kinder und Jugendliche von 12-17 Jahren, etwa 11% der Altersgruppe, die selbst eine covid-19-relevante Vorerkrankung nach STIKO-Klassifizierung aufweisen.
2. In Deutschland leben ca. 200.000 Kinder unter 12 Jahren, die eine entsprechende Vorerkrankung aufweisen.
3. In Deutschland leben etwa 5,7 Millionen vorerkrankte Menschen ü18 in Familien mit Kindern.
Wir haben es nach diesen Daten insgesamt mit über 6,5 Millionen Menschen zu tun, die im Kontext eines Familienlebens mit Kindern zu den schützenswerten #Risikogruppen gehören. In der politischen Diskussion wird gerne vom „Schutz der Risikogruppen“ gesprochen, der zu wenig verfolgt würde. Dann frage ich Sie, verehrte Kultusminister und Kultusministerinnen, wie werden diese 6,5 Millionen Menschen, die direkt vom Schulgeschehen betroffen sind geschützt?
Im Informationsdienst Wissenschaft sowie vom BVKJ werden noch höhere Zahlen allein unter den u18-Jährigen genannt. Dort werden 11% der Mädchen und 16% der Jungen als vorerkrankt im Sinne der Pandemie benannt. In konkrete Zahlen umgesetzt bedeutet das 740.000 vorerkrankte Mädchen und über 1,1 Millionen vorerkrankte Jungen.
Ich empfinde es als kaum erträglich, dass es 2 Jahre Pandemie (davon 1,5 Jahre OHNE Impfmöglichkeit) braucht, bis #Risikofamilien wahrgenommen werden. Weder Medien noch Politik haben dem bislang eine nennenswerte Bedeutung beigemessen. Zahlen werden kaum bis gar nicht erhoben und entsprechende Nachfragen bei relevanten Stellen (bspw. die Anfrage des @wdr im Kultusministerium NRW) ergeben weder inhaltliche Antworten noch Aufmerksamkeitsinteresse bezüglich vorerkrankter Kinder. Seit mehr als 1,5 Jahren kursiert dieser Begriff, es gibt verschiedenste #Initiativen, die sich aus Risikofamilien gegründet haben und mit ungeheurer Energie daran arbeiten, sichtbar zu werden. Diverse demokratisch gewählte Landeselternschaften bringen das Thema in Medien und Landespolitik ein. Schon länger bestehende Vereine und Patientenorganisationen aller möglichen Erkrankungen, seriöse Ärzt:innen, Wissenschaftler:innen und Fachverbände weisen seit Beginn der Pandemie auf diese Thematik hin. Das Netz ist voll von Beiträgen – in den Äußerungen der Politiker:innen fand das so gut wie keinen Widerhall, man will sie nicht wahrnehmen. Zu klein, zu unspektakulär, zu brav, zu leise, zu sehr Minderheit, zu unangenehm das Thema…
Sämtliche Bundestagsabgeordneten des alten wie des neuen Bundestages, verschiedenste Landtage und ihre Abgeordneten wurden mehr als einmal schriftlich auf diese Thematik hingewiesen, Ministerien wurden angeschrieben, Zeitungen, Fernsehsender, Nachrichtensendungen, Talkshows, einzelne Journalist:innen… die Liste ließe sich fast beliebig verlängern.
Es gibt einen Aspekt, für den die #Schattenfamilien plötzlich eine Rolle spielten: bei der Empfehlung der #Impfung. Da wurden sie zu einer mathematischen „Größe“ zur Bestellung von Impfstoffen, zur Frage, wann, wo und wie sie geimpft werden können. Die Kriterien für einen schweren Verlauf wurden zu Kriterien der Impfpriorisierung. Zu Kriterien von Schutzmaßnahmen wurden sie zu keinem Zeitpunkt der Pandemie. So blieben die #Schattenfamilien bislang vergessen im Wahnsinn einer überforderten Pandemiepolitik, die seit dem 1. LD nicht mehr weiß, was sie tun soll. Schon gar nicht, um diejenigen zu schützen, die nicht hinter den Toren der Pflegeheime leben, sondern in die Schule gehen, beim Kinderturnen Purzelbäume schlagen und an einem sonnigen Nachmittag mit ihren Freunden über den Spielplatz toben möchten.
Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass gefährdete erwachsene Risikopatienten hinter den Mauer von Pflegeheimen leben und jüngere Vorerkrankte höchstens in Förderschulen sitzen. Die Pandemie hat einen neuen Patientenbevölkerungstyp generiert: covid-19-relevant vorerkrankte Menschen gab es als GRUPPE vor der Pandemie nicht. Und so laufen alle Schutzmaßnahmen, die sich auf hergebrachte Vorstellungen „vulnerabler“ Gruppen beziehen, ins Leere. Sie erreichen diejenigen nicht, die es zu schützen gilt. Millionen Menschen mitten in der Gesellschaft, im Klassenraum der Grundschule um die Ecke, im Fechtverein, in der Musikschule, beim Kindergeburtstag, im Schwimmbad, im Restaurant am Nebentisch, in der Schlange an der Kasse vor uns… Kaum jemand bspw. in Schulen trug seine Vorerkrankung vor der Pandemie auf einem Silbertablett vor sich her, oft wissen weder LuL noch SuS, dass der Sitznachbar oder die Sportkameradin eine Vorerkrankung haben. Wir brauchen einen Perspektivwechsel und eine Anerkenntnis dieser Gruppe. Wir brauchen Schutzmaßnahmen, die dort greifen, wo diese Kinder leben. Mitten unter uns.
Die Schülerinnen und Schüler, die seit einigen Tagen unter #WirWerdenLaut sehr, sehr hörbar und sichtbar werden, stehen für eine sichere Schule und fordern wissenschaftsbasierte Maßnahmen zum Schutz aller in Bildungseinrichtungen. Das würde eine Situation schaffen, die auch Risikokindern ermöglicht, Bildung und Teilhabe ohne Lebensgefahr zu erleben.
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