Die Invasion der Ukraine durch eine hochgerüstete russische Armee von Putins Gnaden zerreisst das ganze nach dem Ende des Kalten Krieges zusammengezimmerte geopolitische Netz der Checks and Balances. Nun scheint nichts mehr ausgeschlossen.
Ob es eine fehlgeleitete russische Rakete war oder gezielter Beschuss, der ein Schulungsgebäude des AKW Saporischschja im Südosten der Ukraine in Brand setzte, ist unbekannt. Man darf oder muss hoffen, dass es unbeabsichtigt passiert ist. Doch selbst wenn es so war, was wäre geschehen, hätte die Rakete ein Reaktorgebäude getroffen? Offensichtlich nehmen die russischen Invasoren solche «Kollateralschäden» in Kauf, wie schon kurz nach dem Einmarsch, als in der Sperrzone in Tschernobyl gekämpft wurde und eine Bombe ein Zwischenlager für Brennstäbe traf, offenbar ohne schwerwiegende Folgen. Die gestiegenen Strahlungswerte wurden auf den durch die schweren Kettenfahrzeuge aufgewirbelten Staub zurückgeführt. Allerdings gibt es seither keine Daten mehr. Die Verbindungen sind zusammengebrochen. Auch der Brand in Saporischschja konnte von heroischen Feuerwehren gelöscht werden, die selbst unter Beschuss geraten waren. Das ändert aber auch nichts daran, dass selbst Atomkraftwerke in diesem Krieg keine Tabuzonen sind für die Invasoren. Das AKW ist inzwischen von russischen Einheiten besetzt worden.
Zugleich wird an der psychologischen Kriegsfront die nukleare Karte in einem Tonfall gezogen, wie er selbst im Kalten Krieg nicht üblich war. Vladimir Putin hatte sich in einem Gespräch mit dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump in Anwesenheit von dessen Beraterin Fiona Hill, einer ausgewiesenen Kennerin Putins und seiner politischen Ambitionen, damit gebrüstet haben, Russland verfüge über Hyperschall-Raketen. Trump antwortete: «Nun ja, die werden wir auch bald haben.» Putins: «Sicher. Irgendwann. Aber wir sind die ersten.» Es war, so Hill in einem Interview mit Politico, eine klare Drohung, dass Russland bereit ist, diese Waffen auch einzusetzen. Sie zweifle auch nicht daran, dass Putin den Atomkrieg lostreten werde, sollten sich westliche Staaten aktiv auf Seiten der Ukraine militärisch engagieren. Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, wenn Putins Drohungen so ernst genommen werden, dass niemand aus den westlichen Staaten die Schwelle zum aktiven Eintritt in diesen Krieg überschreiten wird. Und ohne diese Hilfe ist der Ukraine nicht zu helfen. Der Westen hat das Land militärisch aufgegeben, wozu er auch nicht verpflichtet gewesen wäre, und den Krieg auf die wirtschaftliche und politische Bühne verlagert. Sie erinnert fatal an die sowjetischen Einmärsche in Ungarn 1956 und in die Tschechoslowakei 1968, als der Westen hilflos zusah. Doch damals waren die Interessenssphären klar abgesteckt. Im «Cordon Sanitaire» der Sowjetunion galt ein faktischer Nicht-Angriffs-Pakt. Nach dem Zusammenbruch des roten Riesenreiches 1991 wandten sich die ehemaligen Satellitenstaaten der EU und der Nato zu. Man konnte es ihnen vor dem Hintergrund der sowjetischen Gewaltherrschaft nicht verhehlen. Zurück blieb die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine, die die Unabhängigkeit erlangt hatte. Seither ringen der Westen und Russland um Einfluss in einer der am meisten von zwei Weltkriegen und Gewaltherrschaft verheerten Regionen. Die Hoffnung, diesen Konflikt friedlich zu lösen im Rahmen einer neuen europäischen Sicherheitsordnung, hat sich als Illusion erwiesen.
Es ist auch das Ende der atomaren Illusion. Vor dem Krieg sind auch Atomkraftwerke nicht gefeit. Mit diesem Krieg zerstiebt auch die Illusion, dass ein Atomkrieg unwahrscheinlicher denn je geworden ist. Es sieht ganz danach aus, dass die Friedensdividende der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts aufgebraucht ist. Ein Dritter Weltkrieg ist wieder denkbar geworden, und vielleicht stecken wir schon mittendrin. Es hat nicht mehr dazu gebraucht als einen entschlossen, brutal und irrational handelnden Diktator einer waffenstrotzenden Macht.