Der Krieg in der Ukraine macht Energieimporte aus Russland zu moralischen fragwürdigen Geschäften, finanziert doch Russland seinen Militäretat wesentlich mit diesen Einnahmen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, braucht Zeit, und in mancherlei Hinsicht tauchen dann neue ethische Konflikte auf. Betrüblich bleibt, dass Sofortmassnahmen wie Temporeduktionen auf Autobahnen noch nicht einmal in Erwägung gezogen werden.
Eben hatten die zu einer seltsamen Religiosität neigenden Marktgläubigen noch das Hohelied auf die unsichtbare Hand Gottes gesungen, eine geheimnisvolle Kraft, die auf den nicht näher definierten «Märkten» alles wie von allein regelt. Und eben noch waren sich die Staaten Europas einig gewesen, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit, der Handel, den Frieden befördern – und natürlich auch die eigene Tasche füllen. Diese Politik hatte sich schon im zunehmend totalitären China als moralischer Tanz auf der Rasierklinge erwiesen. Doch China erscheint zumindest aussenpolitisch als einigermassen berechenbar, und die wirtschaftlichen Verflechtungen sind so eng geworden, dass jeglicher kriegerische Konflikt für China derzeit zumindest so nachteilig erscheint wie für seine potenziellen Gegner. So halten die grösste Wirschaftsmacht der Welt, die USA, und die zweitgrösste, China, ihren latenten Wirtschaftskrieg mit gegenseitigen Boykotten zum Schaden von beiden auf Sparflamme, wohl ahnend und wissend, dass sie noch auf längere Zeit voneinander profitieren, wenn sie Handel miteinander treiben.
Und jetzt das: Einer dieser Marktteilnehmer, der russische Staat, vertreten durch den Rohstoffkonzern Gazprom, zieht in einen ungerechten Krieg gegen den sich heldenhaft wehrenden Nachbarstaat Ukraine. Der grösste Flächenstaat Europas, denn Russland ist Teil Europas und dessen Geschichte, Politik und Kultur, will den zweitgrössten entwaffnen und zum Vasallen machen. Sein fast allmächtig gewordener Herrscher begründet dies mit einem Minderwertigkeitskomplex: Russland habe nicht mehr den Status der vergangenen Zarenreiche und der Sowjetunion, als respektierte und gefürchtete Weltmacht, und daran sei nicht etwa Russland Schuld, sondern der Rest der Welt, insbesondere die Nato und die Europäische Union, die sich fast aller ehemaligen Satellitenstaaten des sowjetischen Reiches bemächtigt hätten. Nur Belarus und die Ukraine sind noch im direkten Einflussbereich verblieben. Während in Belarus ein Autokrat im Stil der Sowjetzeit eine revolutionäre, keineswegs russophob gesinnte Demokratiebewegung vor zwei Jahren mit Wahlfälschung, Knüppeln, Gewehrschüssen, massenhafter Lagerhaft und logistischem Support aus Moskau niederschlug und sich damit endgültigen zum Vasallen des zunehmend von zaristischem Sendungsbewusstsein erfüllten Herrscher Russlands machte, war der demokratische Aufbruch in der von oligarchischen Machtkämpfen und russischen Störfeuern zerrissenen Ukraine durch die 2019 überlegen gewonnene Präsidentenwahl eines ehemaligen Komödianten und in Russland wie der Ukraine überaus beliebten Fernsehstars unübersehbar geworden. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung wollte sich, wie in Belarus, nicht mehr mit leeren Versprechungen abspeisen lassen, und niemand war mehr da, der das mörderische russische Spiel vom Teilen und Herrschen noch mitspielen wollte.
Doch die Ukraine ist nicht Belarus, die Ukraine hat ein demokratisches Fundament, das Machtwechsel an der Urne zulässt. Russlands Machtpolitik war aber in der Ukraine schon vor dieser Wahl gescheitert. Wer wie Vladimir Putin in solchen Kategorien denkt, setzt seine Allmachtsphantasien mit militärischer Gewalt fort. Die Besetzung und Annektierung der Krim 2014, der inszenierte Aufstand im Donbass, aber auch die damals niedergeschlagenen Putschversuche in Städten wie Odessa haben sich nun nur als Fanal des Schlimmsten erwiesen, an das kaum jemand im Westen glauben wollte. Nur wenig lässt hoffen, dass es zu einem für beide Seiten akzeptablen Waffenstillstand kommen könnte, und es steht ausser Frage, dass Russlands militärische Überlegenheit zu gross ist, als dass mit den begrenzten Mitteln der ukrainischen Seite Chancen bestünden, diesen Krieg zu gewinnen. Die Ukraine kann nur hoffen, sich so teuer wie möglich zu verkaufen, um einen einigermassen gerechten Frieden auszuhandeln – oder auf ein stärkeres militärisches Engagement des Westens. Der spricht zwar laufend davon und liefert Waffen und Kriegsmaterial, das sich für einen Guerillakrieg eignet, aber nicht für einen Krieg, in dem ein Gegner seine weit überlegene Feuerkraft dazu nutzt, auch noch die letzten Reste des Kriegsvölkerrechtes zu tilgen, um mit Terrorangriffen auf zivile Ziele die Kapitulation zu erzwingen. Das mag als Zeichen der Schwäche der russischen Armee ausgelegt werden, aber aus Sicht eines zu allem entschlossenen Angreifers ist es schlicht der Plan B. Mit Tausenden von Atombomben im Rücken darf er sich auch ziemlich sicher sein, dass im Westen niemand ernsthaft erwägt, in das Kriegsgeschehen einzugreifen. Auf der anderen Seite ist es auch alles andere als sicher, ob es zu einem Eingreifen käme, wenn die atomare Gefahr nicht bestünde. Und es wäre auch nicht sicher, ob dieses Eingreifen nicht auch einen grossen europäischen Krieg zur Folge haben könnte, bei dem es darum ginge, die gesamte europäische Nachkriegsordnung in Frage zu stellen. Es wäre nicht minder schrecklich.
So werden die sich als «westlich» und «Wertegemeinschaft» bezeichnenden Demokratien in ein, das Wort ist angebracht, furchtbares Dilemma gestürzt. Denn der grosse europäische Nachbar, der wegen seiner Völker- und Menschenrecht verachtenden Kriegspolitik nun zum Feind geworden ist, sitzt auf gigantischen Öl- und Gasvorkommen und damit, vor allem beim Erdgas, an einer Rohstoffquelle, an dem Europa hängt wie an einem Tropf. Rund die Hälfte des russischen Staatshaushaltes wird aus der Energiewirtschaft finanziert, zwei Drittel der Exporterlöse stammen aus diesem Sektor. Und bei Verteidigungsausgaben, die mindestens einen Viertel des staatlichen Budgets verschlingen, liegt es auf der Hand, dass das Geld aus dem Rohstoffhandel auch in die Waffen fliesst, die derzeit die Ukraine verheeren. Und so sind die schärfsten Boykottmassnahmen der westlichen Länder, die je verfügt worden sind, viel zu zahnlos, um kurzfristig Wirkung zu zeigen. Denn die Öl- und Gasexporte Russlands sind davon ausgeklammert. Und so darf es sich die russische Regierung in schwer zu überbietendem Zynismus leisten, zu behaupten, man halte sich an die Lieferverträge. Die Drohung, die Rechnungen künftig nur noch in Rubel zu stellen, was tatsächlich eine Verletzung dieser Verträge bedeuten würde, genügt schon, um für hektische diplomatische Verrenkungen der Geschäftspartner zu sorgen, allerdings nur, weil die westlichen Einkäufer sich die Rubel dann bei der russischen Zentralbank besorgen müssten, was wegen der Boykottmassnahmen gar nicht möglich wäre. Doch das Dilemma bleibt. Die mittelosteuropäischen Staaten hängen geradezu auf Gedeih und Verderb am russischen Gas, auch Österreich bezieht 80 Prozent seines Bedarfs aus Russland, Deutschland und die Schweiz in etwa zur Hälfte, EU-weit liegt der Anteil bei 43 Prozent. Beim Erdöl sind es in der Europäischen Union rund 25 Prozent, die aus Russland eingekauft werden.
Die Abhängigkeit ist insbesondere beim Erdgas so gross, dass an einen Boykott kaum zu denken ist. Es würde nicht nur kalt in vielen Wohnräumen, es käme vor allem in den energieintensiven Branchen zu erheblichen Produktionsausfällen, eine schwere Rezession wäre fast unausweichlich. Ersatz zu beschaffen, ist kurzfristig fast unmöglich, denn das allermeiste Gas, das weltweit zu kaufen wäre, muss mangels Leitungen verflüssigt und mit Tankern nach Europa transportiert werden. Während die Europäische Union versucht, eine Art Käuferallianz zu schmieden, um bessere Preise aushandeln zu können, geben sich Vertreter europäischer Staaten etwa in Katar die Klinke in die Hand, um an Lieferverträge zu kommen. Das Ausgerechnet Katar, ein absolutistisch regierter Feudalstaat, der die Menschen- und Bürgerrechte mit Füssen tritt. Und nun ist auch US-amerikanische Flüssiggas willkommen, das auf Schiefergas basiert, dessen Förderung wegen berechtigter grosser Umweltbedenken in praktisch ganz Europa verboten ist. Noch Donald Trump hatte sich die Zähne daran ausgebissen. Daneben sollen jetzt die Ausbaupläne für erneuerbare Energien endlich ausgebaut werden. So möchte Deutschland etwa bis 2024 vom russischen Gas wegkommen, die EU plant eine Reduktion der Import um zwei Drittel bis Ende Jahr, Grossbritannien hat massive zusätzliche Investitionen in erneuerbare Energien, aber auch Atomkraft, angekündigt, Wärmepumpen sollen die Erdgasheizungen ersetzen, und aus Australien der grüne Wasserstoff geliefert werden, der sowohl Industrie als auch Privathaushalte befeuern soll. Das entspricht im Grossen und Ganzen den Empfehlungen der Internationalen Energieagentur, mit einer grossen Ausnahme: der Reduktion der Raumtemperatur um ein Grad. Rund zehn Milliarden Kubikmeter Gas liessen sich damit einsparen, immerhin jeder fünfzehnte Kubikmeter, der aus Russland in die EU fliesst. Etwas weniger gross ist mit 25 Prozent Anteil die Abhängigkeit von russischem Öl in der Europäischen Union. Beim Öl lässt es sich prinzipiell auch einfacher ausweichen auf andere Anbieter – sofern diese bereit sind, darauf einzusteigen. Am einfachsten wäre allerdings eine Reihe von sehr einfach umzusetzenden Massnahmen. 2,7 Million Fass Öl liessen sich damit täglich weltweit einsparen. Das entspricht rund einem Viertel der russischen Produktion. Dazu gehören eine Reduktion des Maximaltempos auf Autobahnen von zehn Stundenkilometern (330'000 Fass pro Tag), die Verbilligung des öffentlichen Verkehrs, Car Sharing (470'000 Fass), effizientere Fahrweise, Nachtzüge statt Flüge, der Verzicht auf Geschäftsreisen (260'000 Fass) oder die Förderung von Elektroautos. Das täte, im Gegensatz zu eiskalten Heizungen oder stillgelegter Industrien, noch nicht einmal weh, es wäre schlicht eine Verhaltensänderung, die Energie spart. Stattdessen werden nun in vielen Ländern Europas Benzin-Gutscheine und andere Fördermittel, oft ohne jeden sozialen Ausgleich, verteilt, nach dem Motto: Bloss keine Opfer bringen. Man könnte es auch Heuchelei nennen.