1. Nicht Macron wurde gestern gewählt, sondern Le Pen verhindert.

Eines der größten Missverständnisse in Bezug auf Wahlen ist zu glauben, es würde in einem Akt rationalen Abwägens der geeignetste Kandidat ausgesucht. Das ist natürlich Quatsch. Viele Regierungswechsel sind vor allem Abwahlen. Sie passieren, weil die Wähler die Schnauze derart voll haben vom Amtsinhaber, dass sie auch einen blattlausbefallenen Gummibaum wählen würden. In Frankreich kam so der wandelnde Leitzordner Francois Hollande ins Amt, der den mit hohem Fremdschampotenzial und krimineller Energie ausgestatteten napoleonischen Chefzwerg Sarkozy aus dem Elysée kegelte.

Auch die Wahl Gerhard Schröders 1998 war in erster Linie eine Abwahl Helmut Kohls. "Die Beendigung der breitärschigen Strickjackenrepublik des ewig beleidigten Bimbesfelsens Helmut Kohl. 1998, das war Guildo Horn, Stefan Raab, Mario Basler und eben dieser neue Typ Regierungschef, der auch mal nach einer Flasche Bier verlangte, bevor das Autogrammembargo greift." (Beisenherz)

Und jetzt Emmanuel Macron. Der wurde zwar nicht abgewählt, ist aber alles andere als ein Präsident der Herzen. Ein nicht eben geringer Teil derjenigen Französinn:en, die gestern in der Stichwahl für ihn gestimmt haben, wird dies nicht getan haben, weil sie den Amtsinhaber für den besseren Kandidaten hielten, sondern mit mehr oder weniger Bauchschmerzen, weil sie Le Pen verhindern wollten. Zumal die Parlamentswahlen im Sommer zeigen werden, wie viel an Spielraum Macron tatsächlich bleibt.


2. Frankreich ist die perfekte Blaupause für das was 'progressiver Neoliberalismus' genannt wird.

"In seiner US-amerikanischen Form ist der progressive Neoliberalismus eine Allianz zwischen einerseits tonangebenden Strömungen der neuen sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und den Verfechtern von LGBTQ-Rechten) und andererseits kommerziellen, oft dienstleistungsbasierten Sektoren von hohem Symbolgehalt (Wall Street, Silicon Valley und Hollywood)." (Nancy Fraser)

Macron ist ein wirtschaftsfreundlicher Neoliberaler, ein ehemaliger Investmentbanker, der für als 'Sozialreformen' getarnten Sozialabbau und angebotsorientierte Wirtschaftspolitik eintritt, andererseits aber auch für eine offene Gesellschaft, Antirassismus, LGBTQ-Rechte etc. sowie dafür, den europäischen Einigungsprozess fortzusetzen. Le Pen hingegen verspricht, das Leben jener zu verbessern, die in den letzten Jahrzehnten die meisten Einbußen hinzunehmen hatten, will dies aber mit einer teils rassistischen Agenda erreichen sowie damit, die EU zu marginalisieren, wenn nicht gleich einen 'Frexit' zu betreiben. Dieser Preis schien (noch) zu vielen zu hoch zu sein. Es bleibt abzuwarten, wie lange noch.

In Frankreich tritt dieser Kontrast so deutlich zutage, weil dort die klassischen bürgerlichen Parteien, die konservativen/gaullistischen Republikaner und die sozialdemokratischen Sozialisten, gar keine Rolle mehr spielen. Die Grünen, die in Deutschland ein Angebot für urbane Mittelschichten bieten, ebenfalls  nicht. Übrig bleiben Mélenchons linkspopulistisches antieuropäisches Lager (La France insoumise), das im ersten Wahlgang nur knapp hinter Le Pen lag, Le Pens rechtspopulistisches antieuropäisches (Rassemblement National) und Macrons wirtschaftsliberales proeuropäisches (La République en Marche!). Da fällt eine Wahl dann schwer.


3. Immer wieder der Stadt-Land-Gegensatz.

Rechtspopulismus ist überwiegend ein Phänomen ländlicher Regionen, die sich abgehängt fühlen. Und so holte Macron die meisten Stimmen in Großstädten. Die Bevölkerungsstrktur Frankreichs und die zentralistische Verwaltung verstärken diesen Effekt (man lese etwa Houellebecqs 'Serotonin').

In der Metropolregion Paris leben über 12 Millionen Menschen, das allein sind bereits um die 18 Prozent der Bevölkerung (67 Mio.). Zum Vergleich: In der Metropolregion Berlin leben 6,2 Mio. Menschen, das entspricht gerade 7,4 Prozent der deutschen Bevölkerung. In den sieben großen französischen Metropolregionen mit mehr als einer Million Einwohner (Paris, Lyon, Marseille, Toulouse, Bordeaux, Lille, Nizza) lebt fast ein Drittel der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland leben in den größten Agglomerationen (Berlin, Hamburg, München, Köln/Rhein-Ruhr) etwa 17,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Allerdings verteilt auf viel mehr einzelne Kommunen.

Ähnlich Österreich: Bei der dortigen Präsidentenwahl 2016 traten der Grüne Alexander van der Bellen und der rechte FPÖ-Mann Norbert Hofer gegeneinander an. Sozialdemokraten und Konservative, die die Macht über Jahrzehnte untereinander aufgeteilt hatten, spielten auch hier keine Rolle mehr. Van der Bellen gewann, weil er Wien gewann. Im Ballungsraum Wien leben mit 2,8 Millionen Menschen über 30 Prozent der österreichischen Bevölkerung von knapp 9 Millionen. (Der Vergleich hinkt insofern ein wenig, als dass Österreich mit seinen Landesparlamenten und Landeshauptleuten noch deutlich föderaler organisiert ist als Frankreich, aber das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist ähnlich.)


4. Éric Zemmour fungierte als Steigbügelhalter.

Der politisch rechts von Marine Le Pen stehende Antisemit Éric Zemmour hat im ersten Wahlgang zwar nur 7,1 Prozent der Stimmen bekommen, aber eine wichtige Rolle gespielt. In seinem Windschatten konnte Le Pen sich medial als im Vergleich zu ihm moderate und warmherzige Kümmerin inszenieren.  


5. Dass Kriegspräsident Macron im TV-Duell die Putin-Karte zog, könnte am Ende den Ausschlag gegeben haben.

Auch Frankreich beliefert die Ukraine mit Waffen und Macron hat sich, obwohl er als einer der letzten westlichen Staatsoberhäupter noch mit Putin telefonierte, klar positioniert. In solchen Situationen pflegen sich Bevölkerungen hinter einem Amtsinhaber zu versammeln.

Ein von Wladimir Putin vermittelter Millionenkredit soll 2014 die bankrotte Front National gerettet haben. Ohne ein allzu  intimer Kenner der französischen Verhältnisse zu sein, kann man sagen, dass für viele Franzosen der Gedanke, eine Kandidatin für das höchste Staatsamt der République Française könnte sich von einem russischen Mafiaboss und Blutsäufer aushalten lassen, nur schwer erträglich war. In diesem Sinne: Merci Vladimir!

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