Deutschland, Belgien, die Niederlande und Dänemark wollen bis 2050 Windräder mit einer Kapazität von 150 Gigawatt in der Nordsee errichten. Treiber dieser energietechnischen Revolution ist das kleinste Land in der Gruppe: Dänemark.
Mehr als ein halbes Jahrhundert verstrich, bis James Watt 1769 die wegen ihres miserablen Wirkungsgrades bislang nur in Nischen eingesetzte atmosphärische Dampfmaschine auf ein neues technisches Niveau hob. Ein weiteres halbes Jahrhundert später war die Dampfmaschine zum Motor der industriellen Revolution geworden.
206 Jahre später, 1975, machten sich am 29. Mai im dänischen Ulfborg 400 Enthusiastinnen und Enthusiasten an die Arbeit. Die Ölkrise steckte ihnen noch in den Knochen, ganz Dänemark sprach vom Bau von Atomkraftwerken, um von der extremen Abhängigkeit von Öl und Kohle wegzukommen. Sie wollten beweisen, dass es auch anders ging: mit Windkraft. Drei Jahre später drehten sich die drei Rotoren von «Twindkraft»auf dem Gelände einer pädagogischen Hochschule in 54 Metern Höhe zum erstenmal. Es war das erste grosstechnische Windkraftwerk der Welt, teilweise erbaut mit gebrauchten Materialien. Die Rotoren, sie wurden einmal ausgetauscht, drehen sich bis heute.
Im Oktober 1991 nimmt die weltweit erste Windfarm im Flachwasser vor der Küste des dänischen Städtchen Vindeby den Betrieb auf. Es ist eine technische Pionierleistung. Das Betonfundament ist kegelförmig, damit das Eis im Winter nach oben ausweicht und es nicht zusammendrückt. Das Aufstellen der Masten mit zwei auf wackligen Lastkähnen aufgestellten Kränen ist eine Zitterpartie. Die elf Windräder versorgen mit einem Wirkungsgrad von 22,1 Prozent über ein Vierteljahrhundert 2'500 Haushalte. 2017 werden sie aus Kostengründen abgerissen.
An Land wurde es schon in den 1990er-Jahren für die Windkraftnutzung in Dänemark, das schon Mitte der 1980er-Jahre damit begann, die Energiewende einzuleiten, allmählich eng. Es blieb nur der Weg ins Meer. Diesen Weg ist Dänemark konsequent weitergegangen. Heute liegt der Windstromanteil an der Stromversorgung bei 50 Prozent, je zur Hälfte sind es On- und Offshore-Anlagen, die dazu beitragen. Damit liegt das Land europaweit einsam an der Spitze. Dazu hat es vorgesorgt, dass Stromlücken und -spitzen ausgeglichen werden können – mit Unterwasser-Stromverbindungen nach Grossbritannien und Skandinavien. Das soll erst der Anfang sein.
Bis 2030 will Dänemark genug Windstrom produzieren, um 7,7 Millionen Haushalte versorgen zu können – fast das Dreifache der Haushalte im Land selbst. Zugleich soll auf zwei künstlichen Inseln in der Nordsee und Ostsee, die auch als Versorgungsbasis und Schaltzentrale für Hunderte Windräder und den Weitertransport des Stromes dienen, die Wasserstoffproduktion vorangetrieben werden. Die Idee, entwickelt vom dänischen Netzbetreiber TenneT, war anfangs belächelt worden. 2020, nach einem Regierungswechsel, beschloss das dänische Parlament, den Bau voranzutreiben. Schon in gut zehn Jahren soll es soweit sein. Es ist, nach allem, was bisher geschah, den Däninnen und Dänen zuzutrauen. Von fünf Gigawatt war zu Beginn die Rede gewesen. Jetzt sollen es nach der jüngsten Ankündigung der dänischen Regierung sogar deren 16 sein. Denn Industrie und Investmentgesellschaften stehen Schlange. Dänemark würde zu einem der wichtigen Stromversorger Europas aufsteigen. Das liegt ganz wesentlich auch an den gesetzlichen Rahmenbedingungen, ein Regelwerk, das in mehreren Jahrzehnten kontinuierlich weiter entwickelt worden ist und dabei stets einen Grundgedanken verfolgte: Bürgerinnen und Bürger sollen nicht nur in Entscheidungsprozesse involviert, sondern in Form von Energiegenossenschaften und Beteiligungen direkt am Erfolg partizipieren, sich als Teil der Lösung und nicht des Problems empfinden. Und es hat auch damit zu tun, dass die Technologie ähnlich rasante Fortschritte macht wie seinerzeit bei den Dampfmaschinen. Heutige Turbinen leisten alleine das Zehnfache der zehn Windräder, die 1991 in Vindeby installiert werden. Ein Windrad versorgt 23'000 Haushalte.
Inzwischen hat es sich herumgesprochen. Die Zukunftsmusik der Windkraft spielt auf hoher See, nicht nur in küstennahen Gewässern, sondern mit schwimmenden Windrädern auch weitab der Schelf- und Flachwassergebiete in Küstennähe. Das Potenzial ist gigantisch. Mit Windrädern auf dem Meer könnte die ganze Welt mit klimafreundlichem Strom versorgt werden. Alleine aus der Nordsee könnte ganz Europa mit Strom versorgt werden. Das zeigt die Ankündigung der vier Anrainerstaaten Deutschland, Niederlande, Belgien und Dänemark am «North Sea Summit» ins Esjberg, dessen Hafen zum Verteilzentrum für Windkraftanlagen geworden ist. 65 Gigawatt sollen bis 2030 installiert werden, bis 2050 gar 150 Gigawatt – eine Verzehnfachung der heutigen Kapazitäten. Damit alleine können rund 230 Millionen Haushalte mit Strom versorgt werden – mehr als die 190 Millionen, die es heute gibt – vorausgesetzt, es gelingt, den Strom auch in die Zentren zu transportieren. Dazu kommen Pläne, auf hoher See eine Wasserstoffproduktion aufzuziehen, mit dem überschüssigen Windstrom, wie er zwangsläufig anfällt im Wechsel der Wetterlagen. Welch Potenzial darin steckt, zeigen die Pläne eines Industriekonsortiums, das bis 2030 auf der dänischen Energieinsel BrintØ eine Million Tonnen grünen Wasserstoff produzieren will, der Strom kommt aus Windrädern mit einer Kapazität von 10 Gigawatt. Die erwartete Produktionsmenge würde sieben Prozent des Wasserstoffbedarfs der EU decken. Ein analoges Projekt sei bereits in Deutschland geplant.
Die Euphorie ist gross, Politikerinnen und Politiker scheinen den Stein der Weisen gefunden zu haben, und so werden die Ausbauziele für Windkraft laufend erhöht, zuletzt von der Europäischen Union im Rahmen des «RePowerEU»-Plans, der helfen soll, von der Abhängigkeit fossiler Rohstoffe aus Russland wegzukommen. 72 Milliarden Euro an Subventionen und 225 Milliarden an Krediten sollen aus Brüssel in die Mitgliedsstaaten fliessen. Damit sollen in der EU bis 2030 45 statt 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen stammen. Aktuell sind es 17.
Von Europa ging vor zweieinhalb Jahrhunderten die industrielle Revolution aus. Sie führte wegen des unstillbaren Hungers nach fossilen Brennstoffen in die Klimakrise. Jetzt, so die Hoffnung und das Versprechen, soll Europa wieder Vorreiter sein in ein klimafreundliches Leben. Ob das gelingt, ist keineswegs sicher. Neben zahlreichen technischen Hürden gilt es auch, eine Aufbruchsstimmung in den Kontinent zu tragen, wie sie das kleine Dänemark zu einem weltweiten Pionier der Windenergie gemacht.