Es gab mal eine Zeit, lange her, da wurden Sachen oder Phänomene erst definiert, und dann einem Werturteil unterzogen. Ein Mensch war unanständig, also mochte man ihn nicht. Eine Medium war nicht glaubwürdig, also missachtete man sie. Jemand der ein Verbrechen begangen hat, war auch eines Verbrechens schuldig zu sprechen. Und so weiter. Es machte das Leben aber ungemein mühsam, muss man sagen, denn die eigene Gefühlslage zu etwas musste immer zuerst der entsprechenden Erkenntnis untergeordnet werden. Es stand damit in Widerspruch zur Tatsache, dass die menschliche Psyche Meinungen und Ansichten grundsätzlich auf emotionale und nicht rationale Art und Weise bildet, und sich anschliessend versucht ein scheinbar rationales Konstrukt zu erbauen, um diese Ansichten zu begründen. Das zumindest, ist die unangenehme Erkenntnis des Studiums der menschlichen Psyche.
Aber inzwischen ist das alles viel einfacher geworden. Zeiten ändern sich, und damit auch die Auffassung über die Wechselwirkung zwischen Erkenntnissen und Werturteilen. So hat man inzwischen entschieden, dass eigentlich gar nichts dagegen spricht, dem Impuls freie Bahn zu lassen, dass die Erkenntnisse dem Werturteil untergeordnet werden. Also ist ein Mensch jetzt unanständig, weil man ihn nicht mag. Das Medium ist unglaubwürdig, weil sie missachtet wird. Und jemand hat ein Verbrechen begangen, weil er schuldig gesprochen wurde. Es macht die ganze Sache so viel einfacher, denn es gibt keine zweifel mehr daran, dass die Wertschätzung falsch ist. Kann es sein, dass das Medium, das missachtet wird, eigentlich wichtige, sonst unbeachtete Informationen ergibt? Nein, denn wenn es missachtet wird, muss es ja unglaubwürdig sein. Alle missachteten Medien sind zwingend unglaubwürdig. Sie werden missachtet, weil sie unglaubwürdig sind, und sie sind unglaubwürdig, weil sie missachtet werden. Perfekt, keine Zweifel, keine Widerrede, keine andere Ansicht möglich. So einen Fall hatten wir ja gerade eben: Amnesty International gibt einen Bericht heraus, der der Ukraine unterstellt, ihre Taktiken gefährden Zivilisten. Reaktion: Der Bericht spielt Putin in die Hände, übernimmt russische Propaganda, beschuldigt die Opfer. Amnesty International ist plötzlich ein unseriöser Verein der nur mal wieder Geld will. Jeder der irgendwie etwas gegen die Ukraine sagt, ist nicht mehr seriös. Also sagen nur unseriöse Quellen etwas gegen die Ukraine, also sind alle, die etwas gegen die Ukraine sagen, unseriös. So bleiben – danke, Foto ist im Kasten.
Das Gleiche hatten wir natürlich auch schon mit der Wissenschaft während der Pandemie, denn plötzlich war nur die Wissenschaft seriös, die die radikalsten und freiheitsfeindlichsten Massnahmen unterstützte oder billigte. Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, die irgendwie behaupteten, Lockdowns, Masken und 3G/2G brächten nichts, waren sogleich unglaubwürdig. Also waren alle glaubwürdigen wissenschaftlichen Erkenntnisse für diese Massnahmen. So ist man doch gut und gerne Teil vom Team Wissenschaft, und obendrein kann man auch noch dem Pläsier der Verachtung und Ausgrenzung der bösen Wissenschaftsfeinde nachgehen. Alles Vorteile. Man stelle sich vor, sich erst einmal mit ungemütlichen Erkenntnissen auseinandersetzen zu müssen, welche diese ganzen Massnahmen und Einschränkungen als nichtig erkennen wollen. Der Horror.
Das ganze kann beliebig ausgeweitet werden, wird es ja auch: Wenn jemand nicht der wirren Ideologie von „kritischer Rassentheorie“ folgt, ist er ein Rassist, also sind alle die dagegen halten auch Rassisten. Wer nicht dafür ist, wie Höhlenmenschen zu leben um das Klima zu retten, ist ein Klimaleugner, also sind nur Klimaleugner dagegen, wie Höhlenmenschen zu leben, um das Klima zu retten. Wer dagegen protestiert, dass er aufgrund einer hirnrissigen Sanktionspolitik im Winter frieren muss, ist rechtsradikal, also protestieren nur rechtsradikale.
Unglaublich, plötzlich sind alle die, die anderer Meinung sind als ich, irgendwelche menschenverachtende, klimaleugnende, rechtsextreme, unwissenschaftliche, unseriöse, rassistische, frauenfeindliche, homophobe, transphobe Unmenschen. Schaut her, ich bin der Gute und alle anderen sind die Bösen. Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein könnte.
Das einzige Problem hier könnte daran liegen, dass vielleicht ein Anderer, der anders denkt und andere Meinungen hegt, sich als der Gute sieht, und ersteren als den Schlechten. Wer hat denn nun Recht? Es läuft dann eigentlich alles auf ein primitives Kräftemessen hinaus: Wer kann am besten seine eigenen Ansichten als absolute Wahrheit durchboxen, und alle anderen als Unmenschen deklarieren, die nicht einverstanden sind? Und hier sind wir schlussendlich angekommen: Anstatt Meinungen, Ansichten oder Ideen zu diskutieren, schauen wir einfach, wer am stärksten Andere dialektisch verhauen kann, wie der Raufbold auf dem Pausenhof des Kindergartens, der das Sagen hat, weil er sonst den anderen einen Tracht prügel verpasst. Hunderte, tausende Jahre der Zivilisation und der Philosophie, und am Ende sind wir doch wieder im Kindergarten angekommen.