Aschfahl sein Gesicht. Die kleinen Schlitze tief in den Augenhöhlen versenkt. Sein Atem spricht eine modrig muffig undeutliche Sprache, wo er gerade herkommt. Erschütternd der Gesamteindruck. Die Zunge erschöpft, kaum fähig Buchstaben zu bilden, die sinnvolle Worte ergeben könnten. Die Kleidung zerknittert.
Ihr Wechsel erfolgt nur im Wochenrhythmus. Reste von schlampig abgewaschenem Erbrochenen ziert seine Jacke., wie die Speisekarte eines ölwechselfaulen Imbisses.
Ich sitze, wie gewöhnlich, in meinem Lieblingscafé und genieße die Morgensonne, die exklusiv nur auf meinen Tisch zu scheinen, sich entschieden hat. Es dürfte einer der letzten Sommertage sein, denn die Vorboten des Herbstes kündigen sich bereits an. Der Baum, unter dem ich sitze, schüttelt, motiviert von kleinen Windböen, ihm lästig gewordene Blätter von sich, die nun in meine Suppentasse voll Milchkaffee segeln. Dabei waren es noch gestern Bienen, die trotz ihres Nichtschwimmermankos, ein Vollbad auf der Milchschaumoberfläche nehmen wollen.
Ihre kleinen Füßchen paddeln ungelenk in der nur noch lauwarmen Flüssigkeit, die, nach ihrem Maßstab, ähnlich der Ostsee sein muss. Und wie jeden Morgen stellte sich mir die Frage: Ertrinkenlassen oder Retten?
Aus humanitären Gründen rette ich sie meistens, wenn ich rechtzeitig ihre Hilfeschreie vernehme. Manchmal hingegen kann ich nur noch die kadaverherausfischen und ihnen ein würdiges Begräbnis ausrichten.
Heute fische ich nur noch Blätter heraus und übergebe sie der Natur, die sie ja auch erschaffen hat. Mein Blick wandert zu dem, der allmorgendlich mir gegenüber Platz nimmt und seinen Kaffee lautlos schlürft. Mit zittrigen Händen nimmt er die, vom Kellner gebrachte Tasse, mit zwei Händen und führt sie zum Mund. Jeden morgen sitzt er da, schweigend und gibt das Bild eines Mannes ab, der besser jetzt ein Bier trinken sollte. Verstohlen wirft er einen Blick zu mir, zu dem der auf der Sonnenseite des Lebens sitzt. Er hingegen fröstelt im Schattenreich. Das verstärkt sein Zittern noch mehr, was sich auf den ganzen Körper überträgt. Heute hat er Glück, denn ich habe einen guten Tag erwischt.
Sein Anblick und sein ausströmender Atem kann mir die Laune nicht vermiesen, der zu mir herüberweht.
Und da ich einen guten Tag habe, es war keine Rechnungsaufforderung, noch ein Mahnbescheid und auch keinerlei sonstige postalische Bedrohung im Briefkasten, wage ich es, meine soziale Ader auszuleben, denn auch andere sollen von meinem Glück partizipieren.
„Du kannst dich gerne an meinen Tisch in die Sonne setzen. Dein Zittern ist ja nicht mit anzusehen.“, konfrontiere ich ihn mit seiner öffentlich zur Schau gestellten körperlichen Dysfunktion.
Ein zaghaftes Nicken seinerseits deutet mir an, er hat meine Einladung verstanden. Ich erkenne in dem Nicken eine Mischung aus Unsicherheit und Dankbarkeit. Mit der Langsamkeit eines Faultiers erhebt er sich, nimmt seinen Kaffee und zittert sich zu mir an den Tisch.
„Sehr freundlich.“, flüstert er mir zu und nimmt Platz.
„War wohl eine harte Nacht.“, sage ich analytisch und ohne Umschweife, um das eis zu brechen.
Er lächelt verkniffen und greift sich an den Kopf, dem das mimische Entgleisen wohl schmerzen bereitet.
„Dicken Schädel?“, frage ich überflüssigerweise, als ob das nicht jedermann sehen würde.
Das Fragment eines ehemaligen menschlichen Wesens, nickt zaghaft, wohlwissend, jede rasche Bewegung könnte seinen Kopf zum Zerspringen bringen.
Dass ich ihn wie selbstverständlich duze, hat er sich selbst zuzuschreiben. Er ist der Jüngere und wer so aussieht, den sieze ich grundsätzlich nicht. Es ist meine subtile Form der gesellschaftlichen Kritik an ihm. Damit muss er leben oder zurück sich in den Schatten setzen. Zufrieden stelle ich jedoch fest, ein Widerspruch ist von ihm nicht zu erwarten. Überhaupt gibt er sich recht wortkarg. Sein Zustand lässt wohl keinen Redeschwall zu, ohne das er sich vor mir übergibt.
„Alkoholiker!“, fasse ich meinen Eindruck von ihm zusammen.
Er verneint. Ein leichtes ungläubiges Lächeln huscht mir über das Gesicht. Fast bin ich gewillt seine schamlose Lüge zu goutieren, wäre sie nicht so durchschaubar.
„Erzähl mir doch nichts. Sieht doch jeder.“, entlarve ich sein Lügengebilde, sonst glaubt er es noch selbst.
Getroffen senkt er seinen Kopf.
„Kritik kann einem helfen sich selbst zu erkennen.“, gebe ich ihm einen kostenlosen Ratschlag, den er wortlos entgegennimmt.
Dieses menschgewesene Elend hat nicht einmal die Kraft sich gegen mich zu wehren oder wenigstens halbherzig zu widersprechen. Ein typisches Opfer eben. Da kann er ja froh sein, an mich geraten zu sein. Es gibt ja genügend andere, die nicht gewillt sind, zu sagen was offensichtlich ist. Ich hingegen interessiere mich für meine Mitmenschen und ich finde, gerade die, die an der sozialen Treppe ganz unten liegen, denen stehe ich gerne zur Seite. Aufbauen und Aufmuntern. Würden sie das beherzigen, was ich ihnen sage, hätten sie wieder eine Perspektive. Ich meine es ja nur gut, auch wenn die Wahrheit wehtun mag. Diesen Schmerz müssen sie nur als Chance begreifen. Und ich verlange nichts für meine Analysen. Ich zerpflücke solche Subjekte völlig kostenfrei. Je erbärmlicher sie sind, desto mehr wird mein Ehrgeiz geweckt, sie, wenn sie sich vernichtet haben, neu aufzubauen. Ich finde, jeder hat das Recht auf jemanden wie mich. Man muss dem Leben einen Sinn geben und meiner ist der, anderen ihre Sinnlosigkeit aufzuzeigen. Die müssen sich ihr „Sie“ von mir erst verdienen. Ich habe mir ja meine Kritikfähigkeit anderen gegenüber auch hart erarbeiten müssen.
„Warum?“, frage ich ihn rasch, denn er droht mir einzuschlafen.
Seine Augen hat er geschlossen, ohne sich zuvor zu erkundigen, ob dies an meinem Tisch gestattet ist. Ist es natürlich nicht. Es sind ja genug Andree Tische da, an denen er schlafen könnte, aber er hat sich ja entschieden, sich zu mir zu setzen. Dann muss er sich eben auch nach meinen Regeln richten. Schlafend kann ich ihm sein verpfuschtes Leben ja nicht um die Ohren schlagen. Etwas Mitarbeit darf ich ja wohl voraussetzen.
„Warum?“, wiederhole ich meine völlig berechtigte Frage, unterstützt durch das Klopfen auf dem Tisch, was ihn zum wachbleiben animieren soll.
Langsam, was mich schon auf die Palme bringt, öffnet er zeitlupenmäßig seine versoffenen Augen, denen der Pegelstand deutlich anzusehen ist.
Meteorologisch gesehen, bereits Hochwasser.
„Warum was?“, flüstert er schlaftrunken zurück.
„Oh je!“, denke ich, nicht einmal auf ein simples „Warum“ kann er antworten.
„Sex?“, überrasche ich ihn mit einer Frage, die nur auf den zweiten Blick relevant scheint.
Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl. Ich habe also ins Schwarze getroffen. Bei dem kleinen unschuldig schmutzigen Wort gerät sein desolater Körper sofort in Bewegung.
„Und? Haben wir oder haben wir nicht? Alleine oder gibt es da jemand, der sich überwindet mitzumachen? Oder eine Frau? Was mich verwundern würde. Meiner Erfahrung nach sind Männer da weniger wählerisch.“
Erstaunt sieht er mich mit hochrotem Kopf an. Ein eindeutiges Zeichen, seine Lebensgeister kehren langsam zurück. Mit Sex fängt man eben jeden.
„Ich höre!“, signalisiere ich meine Bereitschaft, auch über Sex zu sprechen.
„Ja habe ich.“, sagt er einsilbig, ohne jegliche Begeisterung erkennbar.
„Und ist ER zufrieden?“
„ER?“, fragt er völlig teilnahmslos, fast apathisch.
Ich sehe schon, eine politische Grundsatzdiskussion lässt sich mit ihm nicht vom Zaun brechen.
„Sie, es sind Sie`s.“, wagt er noch im Nachsatz, frech zu behaupten.
„Oho, gleich Mehrere.“, rufe ich ihm anerkennend entgegen und habe doch erhebliche Zweifel.
Welche halbwegs an Sex interessierte Frau lässt sich schon mit einem hygieneverweigerten Quartalssäufer wie ihm ein? Und dann gleich mehrere! Dann ist die Erde auch eine Scheibe. Offensichtlich habe ich es zusätzlich auch noch mit einem Tagträumer, einem Realitätsverweigerer zu tun. Fast schon tut er mir zunehmend leid, dieser gesellschaftliche Abschaum mit dem Hang zum Adipösen.
„Kann man denn in diesem Zustand überhaupt?“, versuche ich, diskret auf das Problem Alkohol, in Verbindung mit Sex, hinzuweisen.
Mit dieser harmlosen Frage, die Anteilnahme an seinem verkorksten Leben signalisieren sollte, wollte ich ihn nur animieren, einmal über sich nachzudenken.
Doch er reagiert völlig anders, als ich es von einem problembehafteten Menschen erwartet habe, dem man nur helfen möchte. Er steht auf, nimmt zitternd seine Tasse und deutet einen Platzwechsel an.
„Man kann vor sich selbst nicht weglaufen.“, weise ich ihn auf seinen Fehltritt hin, den er gerade dabei war zu begehen.
„Wenn Du diesen Platz an der Sonne leichtfertig aufgibst, verlierst du die Restkontrolle über das Siechtum, was du wohl als Leben bezeichnen würdest, wenn du über dich einmal ernsthaft nachdenkst.“, wage ich eine verhalten unterschwellige Kritik, die etwas zur Selbstreflexion animieren soll.
Unschlüssig bleibt er stehen und er schwankt ... zwischen Flucht und sich dem Unausweichlichen zu stellen.
„Setzen!“, lade ich ihn großzügig zu einer Rückkehr ein.
Dies unterstreiche ich noch mit einer einladenden Geste, der niemand widerstehen kann. Das setzte ihn nicht nur massiv unter Druck, sondern brachte ihn zurück in seine vorherige sitzende Position.
„Brav. So ist es brav.“, lobe ich ihn überschwänglich.
Das soll ihm Selbstvertrauen geben. Zusätzlich helfe ich ihm dabei, seine Tasse unfallfrei wieder auf dem Tisch zu platzieren, ohne das wesentliche Anteile des Kaffees verschüttet werden. Nachdem die Rückkehr abgeschlossen war, kehrte ich zu meiner Ausgangsfrage zurück, die nach wie vor noch unbeantwortet im Raum stand.
„Warum?“
Bei dieser Frage war unnachgiebig, denn sie beinhaltet alles, was man zu einer fachlichen Analyse benötigt. Sie ermöglicht dem Befragten, sich vollumfänglich sein Herz auszuschütten zu können. Stumm sitzt er da und starrt in seine Tasse. Er unternimmt nicht einmal einen Versuch, über die Frage nachzudenken oder nach einer Antwort zu suchen. Mit dieser Verweigerungshaltung fördert er nicht gerade die Möglichkeit ihm helfen zu können.
„Warum?“, erneuere ich mein Gesprächsangebot und bemühe mich, meine angestaute Aggression gegen ihn, nicht allzu deutlich zu erkennen zu geben.
„Warum ... Warum ... Warum?“, wiederholt er all meine drei warums sinnierend vor sich hin, in die Kaffeetasse hinein.
Mir bleibt nur, mein schütteres Haupthaar zu schütteln, denn langsam komme ich auch an die Grenzen meines Verständnisses für ihn.
„Ich wiederhole meine Frage nicht noch einmal.“, erkläre ich ihm und unterschwellig liegt eine Drohung in meiner Aussage.
„Warum?“
Ich hatte ja mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er versucht, mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Das war eine eindeutige Kampfansage und ich nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf.
„Warum? Du fragst mich Warum? - Warum?“, donnere ich ungehalten zurück.
„Gleiches Recht für alle!“, begründet er seine schamlose Unverfrorenheit.
Endlich ein kleiner Lichtblick. Er beginnt sich langsam mir gegenüber zu öffnen. Bisher war er ja noch nicht zu einem ganzen zusammenhängendem Satz fähig. Ich feierte den Durchbruch, der mir gelungen war und bestellte zur Feier des Tages mir einen Kognak. Gewöhnlich trinke ich ja nicht öffentlichkeitswirksam, aber dieses nicht zu fassende Individuum treibt mich ja dazu. Ich exe den Billigkognak weg, der es auch nicht anders verdient hat.
„Pass mal auf, Du Unterschichtensubjekt. Erst sich hier an meinen Tisch ranwanzen und dann toten Fisch spielen.“
„Du hast mich doch hergewunken!“, wagte der Kretin zu behaupten.
„Du? Ich hör wohl schlecht. Du hast mich nicht zu duzen. Und ich habe dich nicht hergewunken, sondern nur eine Wespe in ihre Schranken gewiesen.“, stellte ich die Sachlage klar.
Auf den Schreck bestellte ich gleich noch einen von dem fuseligen Kognak, der im Abgang stark an Domestos erinnerte.
Dann stand ich auf und setzte mich demonstrativ und kommentarlos an einen anderen Tisch.
Soll er doch sehen, wie er mit seinem verkorksten Leben alleine klarkommt. Manchmal denke ich, meine Liebe zu den Menschen in meiner Umgebung, ist ein Fluch, der mir einfach nicht guttut. Ich sollte mir meine Umgebung besser auswählen, denn auf solch ineffiziente Gespräche kann ich getrost verzichten. Doch alte lieb gewordene Gewohnheiten lassen sich nur schwer ändern und so saß ich tags drauf wieder in dem Café und erfreute mich an der Sonne und einem Tisch nur für mich alleine.
„Ist hier noch frei?“
Missmutig sehe ich von den Schaumbläschen meines Milchkaffees auf. Vor mir steht dieselbe Gestalt von gestern, nur in Form einer anderen Person.
Aschfahl sein Gesicht. Die kleinen Schlitze tief in den Augenhöhlen versenkt. Sein Atem spricht eine modrig muffig undeutliche Sprache, wo er gerade herkommt. Erschütternd der Gesamteindruck. Die Zunge erschöpft, kaum fähig Buchstaben zu bilden, die sinnvolle Worte ergeben könnten. Die Kleidung zerknittert.
Mürrisch und wortlos nicke ich und hoffe, er hat sich einem Schweigegelübde unterworfen.
„Was für ein schöner Tag heute, nicht wahr.“
Ich nicke.
„Die Sonne meint es ja gut mit uns.“
Ich nicke.
„Gestern war es ja noch so kalt.“
Ich nicke.
„Morgen soll ja auch schön werden.“
Ich nicke. Widerwillig.
„Am Wochenende soll ja ...“
„... ja da soll es auch Wetter geben.“, unterbinde ich brüsk seine Wetterprognosen, aus angst, er geht jetzt das ganze Jahr meteorologisch durch.
„Ich wollte nur höflich sein.“, entschuldigt das Gegenüber.
„Sei ruhig unhöflich.“, kontere ich rasch.
Sein daraufhin einsetzendes dröhnendes schweigen lässt vermuten, er hat meinen Wunsch verstanden und hält sich fortan an meine bevorzugte Kommunikation.
Tatsächlich schafft er es, minutenlang die Klappe zu halten. Doch dann bricht es wieder aus ihm heraus. Charakterstärke kann man ihm wirklich nicht vorwerfen.
„Ich unterhalte mich sehr gerne.“
Ich seufze.
„Ich komme gerade von der Arbeit und da ist es besser, wenn ich nicht spreche.“
Ich seufze tief.
„Für meine Kollegen ist es ein gutes Gefühl, wenn ich schweige oder noch besser, wenn Sie vergessen würden das ich überhaupt da bin.“
Ich seufze tiefer.
„Ich sitze im Dunkeln und warte bis ich an der Reihe bin. Manchmal, so wie heute, komme ich gar nicht dazu, zu zeigen, was ich zu leisten imstande bin.“
Ich seufze und stöhne.
„Ich bin so etwas wie eine Feuerwehr. Und heute hat es eben nicht gebrannt. Kommt vor. Ist aber für mich unbefriedigend. Man kommt sich dann so überflüssig vor.“
„Sie lieben ihren Beruf sicher.“
„Ich hasse ihn.“, wirft er ein und verdeutlicht es noch, indem er seine Zunge angewidert ausrollt.
Das macht ihn jedoch auch nicht interessanter. Ich enthalte mich jeglichen Kommentars, um ihm keine Chance zu geben, dies als ein Gesprächsangebot aufzufassen.
„Gestern dachte ich, ich würde gebraucht und habe sofort reagiert und da wurde ich von einem Kollegen angepfiffen.“
„Aha.“
„Sehen Sie, sie verstehen mich wenigstens.“
„Na klar doch.“, lüge ich ihm vor, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, von was er spricht und bin auch nicht daran interessiert, das herauszubekommen. Ich bin noch geschädigt vom Vortag.
„Jetzt wollen Sie sicher wissen, was ich mache!“
„Nicht zwingend.“
„Raten Sie doch mal. Könnte doch witzig sein.“
„Ich bin ratlos.“
„Nur Mut.“
„Ich bin auch mutlos.“
„Ich gebe auch einen kleinen Hinweis. Mein Beruf fängt mit S an.“
„Schwerenöter?“
Der ganze Tisch beginnt zu beben. Er schüttet sich aus vor Lachen. Unterstützt von einem Trommeln mit den Fäusten, dass unsere Tassen überschwappen.
„Herrlich. Sie sind ja ein Komiker.“
Ein Lachflash folgt dem nächsten. Er bekam sich gar nicht mehr ein.
„Ich gebe Ihnen noch einen Tipp. Man sieht mich nicht, aber manchmal hört man mich. Aber dann sind meine Kollegen sauer.“
„Toller Beruf!“
„Von wegen. Er ist deprimierend, frustrierend und öde.“
„Warum machst Du ihn dann?“, fragte ich, obwohl es mich nicht wirklich interessierte.
„Man muss ja Leben.“
„Scheint mir aber kein tolles Leben zu sein.“
Er nickte und sah plötzlich ganz traurig aus.
„Ist es nicht. Deshalb trinke ich dagegen an. Meine Kollegen schleppen mich immer mit. Wenn wir trinken, mögen sie mich. Dann darf ich auch was sagen.“
„Und was sagst Du dann so?“
„Ein Bier und ein Schnaps. Oder auch mal, ich bezahle die Runde.“
„Ah ok. Das erklärt dein Aussehen.“, tröste ich ihn.
Eine kleine Träne tropft in seinen Kaffee.
„Sie sind ein wirklich guter Mensch. Verständnisvoll und mitfühlend. Von Ihnen geduzt zu werden, ist eine Auszeichnung.“
„Genug des Lobs gehudelt.“, sage ich stockend, denn noch nie hat mich jemand so freundlich bedacht. Ich bemerke, wie sich ein Kloß in meinem Hals aufbaut und ich vergieße ebenfalls eine kleine Träne, die ich jedoch sofort diskret wegwische. Niemand soll denken, ich sei eine Heulsuse.
„Du, sag auch Du zu mir.“, fordere ich ihn auf.
„Das könnte ich nie!“
„Sag DU!“, entgegne ich streng.
„Ich kann nicht. Das Du ist heilig für mich. Jedenfalls das Echte, wahre Du. Unter uns Kollegen duzen wir uns automatisch. Aber es fühlt sich schlecht an. Weil es nicht von Herzen kommt. Es ist mehr so ein Berufs-Du. Dort wird es seuchenmäßig betrieben. Selbst der Chef will geduzt werden. Man kann sich nicht dagegen wehren. Daher möchte ich Sie bitten, weiter Sie zu Ihnen zu sagen. Aber ich danke für das Angebot zum Duzen und weiß es sehr zu schätzen.“
Dann bricht er vollends in Tränen aus und ich sehe mich gezwungen, weil auch schon andere Gäste herübersehen, meinen Ekel zu überwinden und nehme ihn in den Arm.
„Ich rate auch weiter, versprochen. Aber dann darfst Du nicht mehr weinen. Weinen macht nämlich hässlich, weißt Du.“
Er wirft sich mir an die Brust und schluchzt laut auf.
„Seine Mutter ist gerade verstorben.“, rufe ich den Gästen zu, die bereits miteinander tuschelten.
Es war eine Notlüge. Ich befürchtete, sie würden glauben wir seien ein Liebespaar welches sich gerade getrennt hat oder wenigstens auf dem besten Wege dazu war.
Einige der Gäste, die besonders forschen, erhoben sich und traten mit Trauermiene an unseren Tisch und bekundeten ihre herzliche Anteilnahme. Der Kellner kam ebenso, nachdem er sich rasch eine schwarze Armbinde angelegt hatte und bot an, für den Leichenschmaus ein besonders günstiges Angebot zu machen, welches die Mutter sicher erfreut hätte. Dann ging auch noch ein Hut herum und mitfühlende Menschen sammelten für einen Frankfurter Kranz. Ich wurde mit einigen Schulterklopfern bedacht, weil ich meinem Freund in seiner schwersten Stunde beistehe.
Eine käsekuchenessende pensionierte Grundschullehrerin unterbrach sogar die Nahrungsaufnahme und stimmte „Nehmt Abschied Brüder“ an. Ihr glockenreiner Sopran trieb nun allen die Tränen in die Augen. Es war ein ganz festlicher Moment, dem Anlass angemessen. Niemand konnte sich dem entziehen. Alle waren sich einig, die Mutter auf ihrem letzten Weg zu begleiten.
Aus Pietätsgründen wurde an diesem Tag nur noch Kaffee „schwarz“ ausgeschenkt.
„Lass uns gehen.“, sagte ich irgendwann, als mir der ganze Trubel zuviel wurde.
Denn inzwischen übertrafen sich drei ortsansässig konkurrierende Bestattungsunternehmer, die eiligst herbeigeeilt waren, bis aufs Blut mit Dumpingpreisen.
Gestützt von mir, verließen wir das Café.
Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Erst auf der Straße klärte ich ihn über den vermeintlichen Verlust seiner Mutter auf. Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag. Erst jetzt begriff er.
„Sie war eine gute Mutter. Die Beste die ich je hatte.“
Jetzt war ich es, der leichte Gewissensbisse bekam, denn leichtfertigerweise hatte ich ja eine geringe Mitschuld, an dem plötzlichen Tod seiner geliebten Mutter.
Fast schon wollte ich ihm reinen Wein einschenken, doch als ich sah, wie gut ihm dieses Traurige im Gesicht stand, da wollte, nein da konnte ich ihn nicht enttäuschen. Auf eigenen Wunsch hin, begleitete ich ihn auf den Friedhof, wo er in der Aussegnungshalle seine Mutter ein letztes mal sehen wollte, um sich in aller Form von ihr endgültig zu verabschieden. Ich nahm diese letzte Bitte von ihm mit etwas Unbehagen auf, denn wie ich vermutete, würde er sie dort nicht vorfinden, da es ja nur eine respektable Notlüge meinerseits war, für die ich jedoch gute Gründe hatte.
Wir gingen die lange Allee entlang, wo zwischen stimmungsvollen Trauerweiden, auch einige verstreute Liebesdienerinnen herumstanden, die auf tief trauernde Kundschaft spezialisiert war.
Die Frauen ließen uns jedoch ungeschoren passieren.
Sie waren mehr auf die entspannten Rückkehrer aus, die meist dicke erbschaftsgefüllte Geldbörsen mit sich trugen.
Auch machten sie vor Beerdigungsunternehmern und besonders vor Sargträgern nicht halt, die meist ein dickes Trinkgeld erhielten, nachdem erfolgreich der Sarg herabgelassen war, ohne das es zu Unfällen gekommen war. Die Damen des leichten Gewerbes, wobei ihre Arbeit durchaus auch schwer sein kann, trugen pietätvolle Arbeitskleidung. Egal ob Leder, Latex oder nur einladende Spitzendessous, alles in gedecktem Schwarz.
Während wir so an ihnen vorbeiflanierten, wie an einem Buffet auf Kreuzfahrtschiffen, wurden uns unzählige Menüvorschläge zugesteckt, die Appetit machen sollten. Und beileibe, sie taten es. Die detaillierten Fotos ließen mir den Mund wässrig anlaufen. Mein rätselaffiner neuer Freund vermied jeglichen Blickkontakt mit ihnen. Es wäre auch, anlässlich seiner Trauer, auch sehr unpassend gewesen.
Vor der Aussegnungshalle bremste ich seinen Lauf ab, denn wie ich ihm klarzumachen versuchte, wollte ich mich erst von dem ordnungsgemäßen Zustand seiner Mutter ein Bild machen, damit es nicht zu einer Schockreaktion seinerseits kommen wird. Noch wussten wir ja nicht, wie sie zu Tode gekommen war.
Nach dem Überfahren eines Sattelschleppers sieht keine Mutter mehr wie vorher aus. Auch der bösartig motivierte Angriff eines hungrigen Wolfrudels bringt keine optische Verbesserung mit sich. Meine drastische und bildlich sehr realistische Darstellung, führte bei ihm zu einem Nervenzusammenbruch, den ich ja nicht voraussehen konnte. Er warf sich auf den mit Kies ausgelegten Weg und das gab mir die Chance, schnell in die Leichenhalle zu entkommen und die Lage zu sondieren. Drinnen roch es muffig nach Verwesung. Drei Särge waren aufgebahrt, die ich sofort inspizierte. Einen Deckel nach dem anderen hob ich und ließ sie, mit einem lauten Knall, enttäuscht wieder fallen.
„Nur Männer. Tote Männer. Keine Frau.“
Davon konnte ich ihm Niemanden glaubwürdig, als seine Mutter verkaufen. Jetzt war Kreativität on mir verlangt. Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass seine Mutter nicht da ist. Das würde ihn noch mehr traurig machen. Eine tote Mutter und dann noch verschwunden.
Entführt, womöglich für anatomische Experimente der Kosmetikindustrie. Oder aber um Lösegeld zu erpressen. Keinesfalls wollte ich, dass er auch noch in finanzielle Schwierigkeiten gerät. Es ist auch so schon ein harter Schicksalsschlag. Ich war mir meiner Verantwortung bewusst und ich musste rasch handeln. Ich öffnete erneut die drei Särge und suchte mir den androgynsten Toten aus und drehte ihn um. So auf dem Bauch liegend, konnte man seine sexuelle Identität nicht eindeutig erkennen. Dann zerschlug ich die Rotlichtlampe, die über dem Sarg hing, die die Leichen frischer aussehen lassen soll. In einem Nebenhaus offenbar die Umkleide der Messdiener, fand ich eines ihrer Röckchen und streifte es dem Toten über. Dann toupierte ich ihm noch etwas die Haare auf und voilà, schon war eine perfekte tote Mutter in dem Sarg.
Ich schloss das Gefäß wieder und ging zurück zu dem trauernden Sohn.
„Schlief deine Mutter zufällig immer auf dem Bauch?“, fragte ich ganz nebenbei und hob ihn von dem Kiesboden auf.
„Ich weiß nicht.“, schluchzte er, „wir schliefen immer getrennt.“
„Es muss wohl so gewesen sein oder sie wollte einfach nur keinen mehr sehen. Frauen kurz vor dem Tode neigen ja bekanntlich dazu, merkwürdig zu werden.“, erklärte ich meinem unwissenden Freund.
Trotzdem hellte sich seine Stimmung damit nicht auf.
„Sie will mich nicht sehen?“
„So ist die Sachlage, wie mir scheint. Aber dafür hat sie und das sollte dir ein Trost sein, die Haare schön.“
Da begannen seine Augen zu leuchten.
„Ihre Haare waren ihr immer wichtig. Sie ging nie ohne aus dem Haus.“
„Das braune Haar wurde ihr sogar extra hochtoupiert.“
„Rot! Sie hat rotes Haar.“
„Im Tod entfärbt sich das Haar. Das liegt am Karotin, was ja nicht mehr produziert werden kann.“
„Ach so. Davon verstehe ich nichts.“
„Ich dafür umso mehr. Vertrau mir da ruhig.“
Jetzt strahlte er mich an. Für einen Augenblick war er wieder der, den ich gestern noch nicht kannte.
„Gehen Sie mit mir rein?“
„Na das möchte ich mir doch nicht entgehen lassen.“
„Hand in Hand?“
„Na jetzt aber mal nicht übertreiben. Wir sind ja nicht verlobt.“, widersprach ich vehement.
„Ja schade.“, entgegnete er, ohne zu sagen, was er schade findet.
Ich besah ihn mir und hielt etwas Abstand zu ihm. Hatte er mir gerade ernsthaft einen Verlobungsantrag gemacht? Oder war es nur seiner Ausnahmesituation geschuldet. Wie auch immer, jedenfalls war ich auf der Hut.
„Hier riecht es komisch.“, stellte er fest, als wir die Halle betraten.“
„Das ist nur der Odem des Todes.“, erklärte ich ihm.
Er sah mich erstaunt an. Offenbar war ihm der Begriff „Odem“ nicht geläufig.
„Die Leichen werden einheitlich balsamiert. Damit alle gleich riechen und so auch länger halten.“
„Wie fürsorglich.“
„Ja Bestattungsunternehmen tun eben alles, damit sich ihre Gäste wohlfühlen. Sie schminken sie auch. Außer deine Mutter natürlich, weil sie ja auf dem Bauch liegt und da würde das Kissen verschmutzen.“
„Das ist ja nachhaltig gedacht. Da kann man das Kissen wiederverwenden.“, meinte er und seine Begeisterung für die Leistung von Bestattern wuchs.
„Ist ja ein vielseitiger Beruf. Vielleicht sattele ich um. Ob man da wohl auch einen Firmenrabatt bekommt?“
„Da musst Du die Gewerkschaft im Bestattungswesen fragen. Aber eine Vorzugsbehandlung ist sicher drin. Das Einäschern durch lieb gewordene Kollegen sind sicher, auch zu begrüßen.“
Ich versuchte, ihm den Beruf schmackhaft zu machen, denn in seinem derzeitigen schien er ja unglücklich zu sein. Und Bestatter ist auch krisensicher.
Er nickte und ich spürte, wie es in seinem Kopf begann zu arbeiten.
„Wo liegt sie denn nun?“
„In der Mitte. Zwischen zwei Männern.“
„Ach das ist schön. Sie lag schon früher häufig zwischen zwei Männern.“
Diese so leichtfertig dahingesagten Worte gaben mir doch zu denken. Was war das denn für eine Mutter? Und so jemandem habe ich die Haare gerichtet. Mich schauderte es bei dem Gedanken. In dem Augenblick als wir uns des mittleren Sarges näherten, läuteten die Totenglocken.
„Sei tapfer, stark und auf alles gefasst.“, motivierte ich ihn ein letztes Mal.
Dann öffnete ich den Sarg und er sah hinein.
„Sie liegt so friedlich da.“, sagte er nur knapp.
Ich schloss den Sarg leise wieder, nur für den Fall, er wollte sie noch einmal von vorne sehen.
„Zuviel Sauerstoff ist schlecht für die Haut.“, erklärte ich ihm und er nickte verständnisvoll.
„Ich möchte jetzt nach Hause. Früher erwartete mich Mutter um diese Zeit zum Essen. Nun bin ich alleine im Haus und keiner freut sich, wenn ich komme.
„Oh, Du wohntest mit ihr zusammen?“
„Ja. Es war ihr sehnlichster Wunsch, als ich ausziehen wollte.“
Und schon wieder stand ich vor einem Problem. Lasse ich ihn nun nach Hause gehen, wird er dort vermutlich auf seine Mutter antreffen. Das könnte verstörend auf ihn wirken. Eventuell reagiert er über und verklagt mich wegen einer uneidlichen Falschaussage. Und dass alles, weil ich ihm gestattete, sich zu mir an den Tisch zu setzen. Ich muss unbedingt das Freundliche in mir eliminieren.
„Lass uns für einen Moment hier auf der Bank Platz nehmen. Ich kann Dich jetzt unmöglich so alleine nach Hause lassen.“
Er willigte stumm ein. Mehr als eine Stunde saßen wir dann dort, ohne zu sprechen. Das gab mir die nötige Zeit, mir einen Ausweg zu überlegen, wie ich aus der Misere herauskommen könnte.
Plötzlich stand er auf, obwohl ich meine Überlegungen noch nicht abgeschlossen hatte.
„Wenn Sie gestatten, dann möchte ich jetzt gehen.“
„Du! Du sagst jetzt augenblicklich Du zu mir. Sonst ... sonst bin ich tödlich beleidigt und bleibe hier sitzen, bis meine Zeit gekommen ist, hier ganz zu bleiben.“
„Niemals könnte ich Du zu Ihnen sagen. Zwingen Sie mich nicht dazu. Unsere Freundschaft würde darunter extrem leiden, weil dann mein Respekt und meine Liebe zu Ihnen verloren gehen würde. Bitte nicht!“, flehte er mich förmlich an.
Damit stellte er unsere Freundschaft auf den Prüfstand. Er zwang mich förmlich in das „Sie“ hinein, aus dem es scheinbar keinen Ausweg gab. Das „DU“ Angebot war für ihn ein Sakrileg.
„Gut das er gut geschützt in Deutschland lebt. In England wäre er hoffnungslos verloren, wo das allgegenwärtige „you“ einem ja mit der Muttermilch aufgezwungen wird.“
Also gewährte ich ihm seine dringliche Bitte und er strahlte über das ganze Gesicht. Er setzte sich wieder zu mir und umarmte mich dankbar und überschwänglich. Damit hatte ich zumindest seinen Fluchtreflex besiegt. Ich genoss meinen kleinen Sieg, doch trübte sogleich meine Stimmung ein dunkles Wolkenband, was über uns zum Stehen kam und sich anschickte, uns mit mitgebrachtem Nass zu benetzen. Wir sprangen auf und zum Schutze unserer Haare eilten wir zurück zu seiner Mutter, die das Glück hatte, im Trockenen zu liegen. Sitzplätze waren in der Halle Mangelware und so setzten wir uns auf die beiden Särge, in denen seine Mutter nicht lag. So saßen wir da und starrten stumm auf den Holzsarg, indem sie warm und trocken lag.
„Ach, sie hat wirklich einmalig schöne Haare.“, meinte er plötzlich in die Stille hinein.
„Danke.“, sagte ich unüberlegt.
Zum Glück hatte er es überhört. Und um von ihr abzulenken, schlug ich ihm vor, das Rätsel um seinen Beruf, wieder aufzunehmen. Begeistert schlug er seine Hände zusammen und war sofort Feuer und Flamme.
Mental schlug ich mir auf die Schulter für diesen raffinierten Schachzug, das Gespräch einfach in eine andere Richtung zu lenken.
„Kannst Du mir bitte noch einen Hinweis geben, denn die bisherigen haben mich noch nicht dahin geführt, wo ich hinmuss, um das Rätsel lösen zu können.“
„Gut, dass Mama nicht mehr lebt. Sonst würde sie sicher jetzt einfach meinen Beruf ausplaudern. Sie konnte einem ja manchmal den Spaß vermiesen.“
„Na da haben wir ja Glück.“, gab ich ihm recht.
Er stand auf, erklärte mir ernsthaft, jetzt mir seinen Beruf pantomimisch darstellen zu wollen, setzte sich wieder und begann voller Inbrunst damit. Er saß da, legte seine Hände offen auf die Oberschenkel. Wenigstens fünf Minuten blieb er so regungslos.
„Na, wissen Sie es nun?“
„Ach, das war es schon? Ich dachte, da kommt noch was.“
„Ah, Sie meinen den Ernstfall. Gut, dann gebe ich Ihnen den Hinweis auch noch. Aber dann ist es sehr leicht.“, erläuterte er und begann mit seiner Charade von vorne.
Wieder saß er mindestens fünf Minuten regungslos da, als er dann, zu meiner Verblüffung, etwas in seinem beeindruckenden Schauspiel veränderte. Er bewegte die Lippen.
„Politiker in einer Talkshow!“, rief ich aufgeregt.
Er runzelte skeptisch die Stirn, erhob seinen Zeigefinger und verneinte so meinen Lösungsansatz. Offenbar lag ich meilenweit daneben. Ich musste mir eingestehen, ic war vollkommen ahnungs- und ratlos.
„Ich komme nicht drauf. Ich geb auf.“, kapitulierte ich.
Ich sah in seinem Gesicht die Enttäuschung aufziehen. Erst die Mutter verloren und jetzt auch noch ich, der sein Rätsel nicht zu lösen imstande ist. Für ihn ein Doppelschlag.
„Spiel ich e denn so schlecht?“, fragte er ganz traurig.
„Nein, ganz wundervoll. Ich habe noch nie eine solch tolle Performance gesehen. Gefühlvoll und wahrhaftig. Es ist mir total zu Herzen gegangen. Der Fehler liegt ei mir. Ich bin ein ganz miserabler Rater.“, nahm ich alle Schuld auf mich.
„Nein, ich bin schlecht.“, grämte er sich, „alle sagen ja ich sei schlecht und sie haben recht.“
Ich stand auf, ging zu ihm hin und setzte mich ganz freundschaftlich neben ihn.
„Wie soll jemand seinen Beruf gut machen, wenn er ihn nicht einmal erklären kann.“, seufzte er und versank in tiefe Depressionen.
„Ich kann meinen Beruf auch nicht darstellen.“, versuchte ich, ihn zu trösten.
Das gab ihm wieder Lebensmut und Auftrieb.
„Machen Sie doch mal. Ich will sehen, ob ich nicht vielleicht ein besserer Rater bin.“
„Ja wenn Du willst.“
Ich stand von dem Sarg auf, ging hinüber zu meiner Sitzgelegenheit und setzte mich hin. Wenigstens fünf Minuten saß ich stumm da und starrte ihn an. Dann beendete ich meine Pantomime abrupt, auch weil ich erschöpft war.
„Und?“, erkundigte ich mich neugierig.
„Ich glaube, wir haben denselben Beruf.“, stellte er fest.
„Unsinn!“, dementierte ich sofort, „sonst würden wir uns doch kennen von der Arbeit her.“, widersprach ich.
„Ach so, ja das stimmt natürlich.“, gab er zu.
„Siehst Du!“, tadelte ich ihn.
Jetzt war auch ich deprimiert. Hatte ich denn wirklich so schlecht gespielt. Dabei habe ich so viel Herzblut in meine Show gelegt. Beidseitig überlagerte nun der Frust, die Spiel- und Ratefreuden. Ich sah ihn fragend an und er tat es mir nach. Schnell war mir bewusst, dies könnte nun für lange Zeit eine dauerhafte Baustelle kommunikativen Desasters werden. Zwei normale Männer, die auf ihren Särgen sich gegenüber sitzen, gemeinsam gefangen in ihrer Sprachlosigkeit, wegen eines heiteren Beruferatens, an dem sie zu scheitern drohen. Vielleicht lag das Problem hauptsächlich darin, das jeder von ihnen, sowohl Ratgeber als auch Ratnehmer war.
Das waren vier Erschwernisse auf einmal. Zwei unlösbare Pantomimen, von Amateurdarstellern laienhaft aufgeführt und dazu noch zwei Sargsitzende, denen es an Fantasie mangelte, das jeweils vom anderen Aufgeführte, zu analysieren, zu deuten und einen Lösungsansatz daraus zu entwickeln. So hart ging ich mit mir und ihm ins Gericht, ohne die Kritik jedoch öffentlich zu machen.
Ein jeder muss seine eigene Unfähigkeit mit sich selbst ausmachen. Es ist zwar ein schmerzhafter Prozess, doch will man sich im Spiegel weiter voller Respekt vor sich anschauen, gibt es nur diesen einen Weg. Trotz der offenen Kritik an mir selbst, sah ich es auch als eine Chance, durch diese Selbstreinigung, zu einem besseren Menschen zu werden.
„Was ist hier denn los?“, riss eine fremde Stimme uns aus der selbstbestimmten Depression, in die wir uns nicht nur geflüchtet, sondern auch darin gemütlich eingerichtet hatten.
Dadurch das meine Augen depressionsgemäß geschlossen waren, fühlte ich mich geschützt und sicher. So konnte ich gut die mir unbekannte Stimme ignorieren. Und wenn mein rätselhafter Freund clever war, tat er es mir gleich. Doch die fremde Stimme dachte gar nicht daran, unsere Stimmung zu berücksichtigen, und richtete erneut ihre Stimme an uns.
„Sie können doch hier nicht schlafen!“
Da war er offensichtlich einer optischen Sinnestäuschung aufgesessen. Denn mitnichten sprach er zwei schlafende Gestalten an, sondern auf zwei Ratefüchse, die in ihrer Ratlosigkeit sich in sich zurückgezogen hatten. Nicht immer sind eben geschlossene Augen ein untrügliches Indiz für einen aushäusigen Schlaf.
Langsam jedoch wurde seine Penetranz lästig, denn abermals sprach er uns an, diesmal jedoch mit einer variantenreichen Alternativformulierung.
„Wachen Sie sofort auf und benehmen sie sich wie die anderen Gäste auch.“
„Als würden die noch für große Stimmung sorgen.“, dachte ich, im Hinblick auf den Kisteninhalt unter mir.
„Hallo! Aufwachen.“, rief die Stimme und wurde nun auch noch körperlich übergriffig, indem er sich an meiner Schulter zu schaffen machte.
„Wer stört denn hier die Totenruhe.“, schoss es mir durch den Kopf.
Pietätvoller als wir es taten, konnte man sich in einer Aussegnungshalle ja wohl kaum benehmen. Eine gewisse Unruhe brachte ja erst die Stimme hier herein, die weiterhin unablässig sich an meiner Schulter zu schaffen machte. Inzwischen schüttelte er so heftig, dass ich mir ernsthaft Sorgen um meine Frisur, hier insbesondere um den von mir angelegten Mittelscheitel machte. Den zu erstellen, allmorgendlich eine große Herausforderung für mich darstellte. Es verlangt Konzentration und absolute Präzision, denn sonst verkommt er noch zu einem nicht gewünschten Seitenscheitel, der mich wie einen Depp aussehen lässt, wenn nicht sogar zu einem Volldeppen. Die ungezügelte Rüttelhand erwies sich als sehr hartnäckig und dachte wohl nicht im Traum daran ihre Tätigkeit einzustellen. Mein Missmut wuchs, schien sie sich doch in erster Linie auf mich zu fokussieren.
Denn aufgrund der Entfernung konnte er unmöglich meinen Freund in gleicher Weise belästigen. Natürlich hätte ich nachsehen können, ob dem tatsächlich so war, doch dann hätte die Stimme ja gesiegt mit ihrer Forderung und diesen Triumph wollte ich ihr nicht zubilligen. Aber jeder gute Vorsatz muss einmal gebrochen werden, vor allem wenn einem die eigene Schulter schmerzhaft vor Augen geführt wird. Dies war in meinem falle eindeutig gegeben. Ich fürchtete und dies sicherlich medizinisch begründet, sowie wissenschaftlich unterfüttert, bereits mich mit einem Schulterschleudertrauma, zukünftig chronisch auseinandersetzen zu müssen, was meine Lebenserwartung langfristig verkürzen könnte.
Möge man mir verzeihen und die Verschachtelung des vorherigen Satzes mit Milde begegnen und ihn nicht verdammen, so ist ihm inhaltlich jedoch nichts hinzuzufügen. Er findet weitgehend meine volle Unterstützung. Nach reichlichem Abwägen, das Pro und Contra überdenken, das Hin gegen das Her abklopfen und nicht zuletzt den Weisheiten des Fernöstlichen Yin und Yang zu lauschen, kam ich zu der bitteren Erkenntnis, ich musste unverzüglich reagieren und dem kräftezehrenden Schütteln die Stirn bieten.
Und so folgte ich meiner inneren Stimme, um der äußeren Stimme meine Entscheidung mitzuteilen, die ihr sicher nicht schmecken dürfte. Dazu war es jedoch notwendig, einen früheren Beschluss aufzuheben, obwohl ich nach wie vor voll und ganz dahinterstand. Die in vollkommene Dunkelheit eingetauchten Augen musste ich nun dem Licht des Tages aussetzen.
Es war für mich ein Schmerzlicher, ein Einsamer Weg, den ich nun beschreiten musste. Gegen jegliche ideologische Überzeugung, aber zum Wohle meiner Schulter, an der ich sehr hing. Und so tat ich es. Um nun auch keines meiner Augen zu bevorzugen, entschied ich mich nach dem Gleichheitsgebot zu handeln und sie synchron zu öffnen. Damit konnte ich verhindern, dass sich eines von ihnen zurückgesetzt fühlte und sich womöglich zu einer Beschwerde genötigt fühlt. Einer solchen harschen Kontroverse wollte ich aus dem Weg gehen. Womöglich wäre es sonst in einen unbefristeten Streik getreten. Da drücke ich doch lieber ein Auge zu.
Langsam begannen die Augenlider sich zu heben und gaben die Sicht frei auf das, was ich nicht in meinen Kühnsten Träumen mir vorstellen konnte. Vor mir stand ein Mensch. Soweit nicht sehr überraschend. Doch war dieser Mensch nicht einfach irgendein Mensch, sondern ein Mensch, der mir sehr wohl bekannt war. Es war der Kellner aus meinem Café. Verwundert rieb ich mir meine treuen Augen.
Bevor ich mich jedoch über seine Anwesenheit hier wundern konnte, sah ich mich um. Und meine Überraschung wuchs ins Unermessliche, als ich erkannte, ich saß auf meinem angestammten Caféhausstuhl, statt auf dem Sarg, wo ich mich zuletzt verordnet hatte.
„Ja bin ich denn jetzt verrückt.“, entfuhr es mir, „oder bin ich bloß verrückt worden?“
Ich sah auf den Stuhl mir gegenüber, wo zuletzt mein ratender Freund auf dem Sarg saß und der nun wie vom Erdboden verschluckt war. Einsam und auf ein Gesäß wartend, stand er unbenutzt dumm in der Gegend herum.
„Sie haben hier am Tisch geschlafen. Laute störende Schnarchgeräusche, ließen mir keine andere Wahl als zu handeln. Es gab bereits mehrfach Beschwerden wegen der Lärmbelästigung. Unser Umsatz ist rückläufig. Besonders der Absatz der allseits so beliebten Rosinenschnecken ist eingebrochen.“, verteidigte die Bedienung, im Einklang mit seinen Kollegen und Kolleginnen, ihre einstimmig gefasste Entscheidung, mich nachhaltig aufzuwecken.
Mich ergriff eine Verwirrung Sondersgleichen. Doch leider bin ich ja nun einmal kein anerkannter Dichter, sonst hätte ich mir viellelicht einen Reim auf das alles machen können, was mich jetzt an meinem Verstande zweifeln ließ. „Ist der Mann, der hier saß weggegangen?“
„Ja.“, antwortete die mürrische Bedienung knapp, was darauf hindeutete, entweder er hatte wenig oder gar kein Trinkgeld springen lassen.
Vorausschauend vermied ich es, dieses diffizile Thema anzuschneiden, da Bedienungen häufig ungehalten darauf reagieren.
„Jetzt kann ja der Rosinenschneckenindex wieder in die Höhe schnellen.“, sagte ich, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
„Sie können ja gerne damit beginnen, denn wer isst, der schläft nicht.“
In seinen bewusst verkaufsfördernd gemeinten Worten spürte ich eine versteckte, latent kritische Haltung, meiner Person gegenüber.
„Wo sind nur die Zeiten hin, als der Gast noch König war?“, wagte ich anzumerken, um es ihm so mit gleicher Münze zurückzugeben.
Doch hatte ich nicht mit seiner Schlagfertigkeit gerechnet.
„Schlafende Hunde soll man wecken.“
„Wer sich nur die Rosinen herauspickt, der braucht die ganze Schnecke nicht zu kaufen.“, entgegnete ich scharf.
„Wenn es am schönsten ist, soll man gehen.“
Unser kleines Zitatenscharmützel erfreute und amüsierte die anderen Gäste und in dessen Zuge, waren alsbald alle Rosinenschnecken ausverkauft. Daraufhin einigten sich die Bedienung und ich uns auf ein ausgeglichnes Remis.
Als er sich bereits wieder von mir abwandte, gab ich ihm noch rasch eine Arbeitsanweisung mit auf den Weg. Die Lieferung einer weiteren Tasse Kaffee, die zweifelsohne zu seiner Kernkompetenz gehörte. So hatte ich doch noch einen kleinen Pyrrhussieg gefeiert, den ich jedoch später teuer bezahlen musste. Er ging wortlos und kehrte alsbald mit einer Tasse zurück, die er mit einem verächtlich angehauchten „Bitteschön“ hinstellte.
„Zu freundlich.“, gab ich ebenso ironisch zurück.
Gestenreich gab ich ihm dann zu verstehen, er möge sich entfernen und andere Gäste behelligen. Er verstand sofort und verflüchtigte sich. Nun kehrte wieder Ruhe und Frieden an meinem Tisch ein.
Ich saß da, sah hinüber zu dem leeren Stuhl und empfand sein plötzliches Verschwinden mehr als unhöflich. Er hätte ja wenigstens mein Erwachen abwarten können, statt sich klammheimlich fortzuschleichen.
Ärger und Groll darüber, stiegen langsam in mir hoch.
„Da widmet man schon seine kostbare Zeit einem wortkargen lebensuntauglichen Unbekannten, um ihn mit meiner Lebenserfahrung Ratschläge zu erteilen, und das ist dann der Dank! Undankbares Gesindel.“, murmelte ich missmutig und tief gekränkt vor mich hin.
Doch am meisten war ich darüber erzürnt, dass ich nun nicht erfahren würde, wie des Rätsels Lösung war und wie nah ich bereits dran war. Dies empfand ich als eine sehr frustrierende Erfahrung. Und all das nur, weil ich im entscheidenden Augenblick von Morpheus übermannt wurde, der bei mir die Schlummertaste ausgelöst hat. Ohne Rücksprache mit mir zu halten, ob es mir zeitlich passt. Kann denn dieser mir persönlich unbekannte Herr, sich nicht nächtlich bei mir melden um seiner Tätigkeit nachgehen?
Am liebsten würde ich ihm ja eine geharnischte Email schicken, leider ist mir diese nicht bekannt. Der Herr sonnt sich nämlich in der Anonymität.
Dabei habe ich klare Schlafpräferenzen, die einzuhalten, ich von ihm einfordere. Heute Abend werde ich ihm noch einmal eine ausführliche Anweisung auf den Nachtisch legen, damit zukünftig solche eigenmächtigen und unüberlegten Entscheidungen unterbleiben.
Mein Schlaf gehört mir.
Er fällt eindeutig unter die Persönlichkeitsrechte, die mir der Staat verliehen hat. Eine Zuwiderhandlung sollte von der Exekutiven hart bestraft werden oder wenigstens sollte man ihm seinen Auftrag entziehen und verantwortungsbewussten Leuten übertragen. Jemand der mehr Zeit hat. Der Nikolaus zum Beispiel. Der hat ja nur einen tag im Jahr Stress. Und einmal im Jahr kann ich ja ruhig wachbleiben und Netflix schauen.
Einen solchen Kompromiss gehe ich gerne ein, wenn ich die anderen dreihundertvierundsechzig Tage pünktlich zum Einschlafen gebracht werde, notfalls nehme ich auch St. Martin oder den Osterhasen.
Wobei die Existenz des Letzteren nur auf Gerüchten basiert. Jedenfalls die mir ansichtig gewordenen bekannten, ähnelten doch sehr meinem Vater.
Diese Kindheitsfrage, die mich bis heute begleitet, blieb im Diffusen, wie die Existenz von Ufos, deren kleine grünen Insassen, wie auch die bislang ungelöste Frage, was aus Joseph geworden ist, der Maria angeblich ja nie geschwängert haben soll, wie ein vierköpfiges Autorenkollektiv es behauptet. Beweisbare Belege für ihre Behauptung, konnten sie jedoch der Weltpresse nie vorweisen. Trotz dieser und weiterer seltsamen Begebenheiten, an der die Wissenschaft noch heute einige Zweifel hat, wurde ihr Buch ein weltweiter Bestseller und unzählige Meter Zelluloid wurden dafür belichtet.
Ganze wirtschaftsfeindlichen Feiertage fußen auf ihren Erzählungen.
„Na, nicht schon wieder!“, drohte mir der Kellner, nur weil ich kurzfristig meine Augen schloss.
„Ich bin doch wach. Hellwach.“, so wies ich jeglichen Schlafversuch weit von mir.
„Sie haben bereits den zweiten Kaffee und wenn Sie erneut einschlafen, ist das schlecht für unser Renommee. Kaffee macht munter, putscht auf und verlängert die Wachphase. Sie untergraben damit die Autorität der Kaffeebohne, die den Weiten beschwerlichen Weg von Äthiopien auf sich genommen hat, nur um Sie aufzumuntern. Sie Saboteur!“
Selbst in meiner Kindheit wurde ich niemals von meiner eigenen Mutter mit so einer öffentlich vorgetragenen Schimpftirade bedacht.
Dies mag allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass ich zu jener Zeit des Windeldaseins dem Kaffee noch skeptisch gegenüberstand.
„Werter Herr Bedienung ...“, versuchte ich, die aufgewühlten Kaffeewogen wieder zu glätten, „niemals hat ein Heißgetränk schwarzer Einfärbung mich derart wach gehalten. Denn nur so konnte ich unbesorgt meine Augen schließen, um in tiefe Gedanken zu verfallen, ohne auch nur ein quentschen Schlaf zu verspüren. Ja ich sprühe geradezu vor Tatendrang und Energie. Ihr Kaffee ist das Christal Meth des kleinen Mannes. Ein wahrer Energiebooster. Ihr weltbester Kaffee würde das ungeliebte Totenreich überflüssig machen, wenn sie dort diesen Kaffee einführen würden. Sie Gott gleicher Barista!“
„Hey hey, keine Beleidigung!“, entfuhr es der an Geist mangelnden Bedienung.
„Mitnichten mein lieber Freund. Barista ist eine hohe Auszeichnung, die nur wenige ihr eigen nennen dürfen.“, beruhigte ich ihn und langsam stieg er von der Palme wieder herunter, die er meinetwegen erklommen hatte.
„Also schmeckt der Kaffee?“
„Wie ein Gedicht von Goethe.“
„Schön. Dann sagen Sie dem Goethe bitte, er ist herzlich willkommen hier.“
„Ich richte es ihm aus, sobald ich ihn treffe.“, versprach ich und zufrieden, nein glücklich, zog sich die Bedienung zurück und wies sogleich einen Neukunden zurecht.
„Draußen nur Kännchen!“
Am nächsten Morgen erschien ich wieder in meinem Café, in der Hoffnung, mein gestriger neuer Freund würde auftauchen und sein rätselhaftes berufliches Geheimnis mir preisgeben. Doch auch nach dem sechsten Kaffee wurde ich seiner nicht ansichtig.
Die Tage vergingen und längst war ich Stammgast in dem Café. Doch der mir bekannte Unbekannte tauchte nicht mehr auf. Und als ich schon nicht mehr an seine Rückkehr zu Hoffen wagte, saß er eines Morgens auf dem Stuhl, den er schon einmal belegt hatte. Ich erkannte ihn sofort an seinem Äußern. Aschfahl sein Gesicht. Die kleinen Schlitze tief in den Augenhöhlen versenkt. Sein Atem spricht eine modrig muffig undeutliche Sprache, wo er gerade herkommt. Erschütternd der Gesamteindruck. Die Zunge erschöpft, kaum fähig Buchstaben zu bilden, die sinnvolle Worte ergeben könnten. Die Kleidung zerknittert.
Genauso hatte ich ihn in Erinnerung behalten und so präsentierte er sich mir. Ich begrüßte ihn mit den mir möglich gewesenen freundlichen Worten, die meinen Gefühlen ihm gegenüber mir angebracht schienen.
„Seit Tagen warte ich auf Dich, Du Kaspar!“
„Arbeit.“, war die ausführliche Entschuldigung für sein Fernbleiben.
Leise knurrend nahm ich dies zur Kenntnis. Dann setzte beiderseitig ein geräuschloses Schweigen ein, was und Gelegenheit gab, über das bisher Gesagte nachzudenken. Ich hatte für meinen Teil dies relativ schnell beendet und begann mich zu langweilen. Er brauchte dafür hingegen bedeutend länger. Noch hatte er den „Langeweile-Status“ noch nicht erreicht. Also wartete ich geduldig. Dann deutete das rhythmische Fingerklopfen auf der Tischkante mir an, dass die Ungeduld Einzug gefunden hatte. Als ich jedoch begann unruhig mit den Füßen zu scharren, platzte es aus mir heraus.
„Dein Beruf! Ich will jetzt endlich wissen, was Du machst, um so auszusehen.“
Er sah mich mit seinen kleinen geröteten Augen an und tat, was er am besten konnte. Er schwieg. Jetzt ging das wieder los. Diese Unsitte von ihm, den Schweigsamen zu geben, wollte und konnte ich so nicht akzeptieren. Dem musste augenblicklich ein Riegel vorgeschoben werden. Die Erfahrungen mit ihm sagten mir, er wird das Schweigen perfektionieren, wenn ich nicht einschreite und ihn aus seiner Schweigespirale heraushole.
„Sag was!“, forderte ich unmissverständlich.
Lange, sehr lange sah er mich an. Dann öffnete er für einen Spalt seinen Mund, um ihn gleich wieder zu schließen. Der Mut hatte ihn verlassen. Nach einem vielversprechenden Beginn erstarb das, was er zur Unterhaltung hätte beitragen können.
Die Enttäuschung über sein Unvermögen konnte ich deutlich seinem Gesicht entnehmen.
Der Wille war da, doch das Zutrauen in sich war einfach zu schwach.
„Nur Mut.“, warf ich ihm ein rhetorisches Stöckchen zu, über das er nur springen müsste.
Er sprang nicht und das, obwohl ich die Stöckchenlatte sehr niedrig gelegt hatte.
„So unsportlich kann er doch nicht sein.“, dachte ich und auch thematisch hatte ich keinerlei Vorgaben gemacht. Aber vielleicht lag ja hier genau der Fehler. Wahrscheinlich brauchte er einfach eine Art Themenmotivation, etwas, wozu er etwas sagen konnte. Ein leichtes, ein einfaches Thema, zu dem jeder eine Meinung hat. Ich überlegte nicht lange, denn die Themen liegen ja förmlich auf der Straße oder auf der Hand.
Von Politik bis Gesellschaft, von Wissenschaftlicher Errungenschaften, bis hin zur Kriminalitätsrate in Altersheimen. Zu irgendetwas muss er ja eine Meinung haben. Jeder hat eine Meinung und sei es nur, dass er die Meinung vertritt dazu keine Meinung zu haben. Das wäre wenigstens ein Anfang, auf dem man aufbauen könnte. Also reagierte ich und warf ihm eine provozierende These vor die Füße, die er nur aufheben müsste und sie entsprechend seiner Meinung, als Pro oder Kontra zurückwerfen, wie bei einem „Fang den Ball“ Spiel.
„Schönes Wetter heute, nicht!“
Sein leerer Blick verriet mir, auf diese Aussage, die als Gesprächsgrundlage dienen sollte, war er nicht gefasst. Er sah verstört nach links, dann nach rechts und abschließend nach oben.
Mir schien, er wollte sich erst selbst überzeugen von dem Wahrheitsgehalt meiner Behauptung, ehe er sich zu einer abschließenden Stellungnahme äußern wollte. Sein Gesicht hellte sich auf, dem Wetter angepasst. Dann nickte er stumm und ausführlich mir zu. Damit war für ihn das Thema abgeräumt. Mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Letztlich war es jedoch nur der klägliche Versuch, sich meiner Meinung anzuschließen, vermutlich um keine Kontroverse aufkommen zu lassen. Mir war es jedoch nicht genug.
Ich hatte mir einen stärkeren und lebhaften Diskurs gewünscht, den er mit seiner Verweigerungshaltung jedoch konterkarierte. Für wenige Minuten blies ich Trübsal, ehe ich einen zweiten Versuch startete, der zugleich, wenn es nach mir ging, auch der Letzte werden sollte.
„Morgen soll es ja regnen!“, legte ich ein erneutes Gesprächsangebot vor, was geradezu einlud, wegen seines progressiven Inhalts, zu einer heftigen Debatte führen müsste.
Er rutschte bereits unruhig auf seinem Stuhl. Mit meiner steilen These hatte ich offensichtlich einen Nerv getroffen, der nicht unwidersprochen bleiben konnte. Bewusst hatte ich jegliche politische Parteipräferenz außen vor gelassen.
Er schien zu schwanken. Mehr mental als körperlich. Noch konnte er sich nicht durchringen zu einer Stellungnahme, die eventuell unüberlegt sein könne und wissenschaftlich nicht haltbar. Ich ließ ihm die nötige Zeit, der er offenbar brauchte, bis sich ein aussagekräftiger Antwortsatz bei ihm herausgebildet haben würde.
Nach einer Viertelstunde wurde ich doch langsam etwas ungeduldig. Noch, so schien es, war eine Reaktion von ihm noch in weiter Ferne zu liegen. Ich trommelte mit den Fingern den Radetzkymarsch auf dem Tisch. Ursprünglich wollte ich ja den Bolero von Ravel zur musikalischen Unterstützung, doch mir fiel spontan der Anfang nicht ein.
Irgendwann war der Radetzkymarsch ausgetrommelt und in die Stille hinein sprach er plötzlich.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen für meine Wortkargheit.“
Mit Staunen nahm ich den Satz zur Kenntnis.
Der ergab zwar keinen Sinn, aber stellte wenigstens einen Anknüpfungspunkt dar.
„Ich akzeptiere diese ehrlich gemeinte Entschuldigung, die Dir sicher schwergefallen sein muss.“
Er lächelte, wie nur er lächeln konnte. Verhuscht und kurz, ehe er wieder in seine gewohnheitsmäßige Lethargie zurückfand.
Ich persönlich empfand etwas Trauer darüber, dass er nicht in der Lage schien, sich näher zu erklären. Ich meine, eine Entschuldigung ist immer gut, nur wäre es, schön zu erfahren, für was die ausgesprochen wurde. Hatte er sich nun vorab bei mir für das schlechte morgige Wetter entschuldigt oder für das Durchbrechen der Stille, die ja auf sein Konto ging. Diese Ungewissheit machte mich ganz kirre. Also sah ich mich genötigt nachzufragen, obwohl ich wenig Hoffnung hatte, ihm noch einmal einen Satz abzuringen. Seine offensichtliche Mundfäulnis schien mir pathologisch zu sein und ich bin ja kein Facharzt. Vorsichtig, um ihn nicht zu verschrecken, startete ich, gegen meine Überzeugung, einen dritten Anlauf und nahm mir vor, dass er, egal wie es ausgeht, dabei auch bleiben werde. Jede Gutmütigkeit und Toleranz hat schließlich seine Grenzen.
„Deine Entschuldigung wird wohlwollend geprüft.“
„Danke.“, schloss er unterwürfig und überraschend spontan an.
Es war überhaupt das erste und einzige selbstständig Gesprochene aus seiner Kehle, ohne eine Aufforderung zum Sprechen meinerseits.
„Holla – holla.“, dachte ich für mich, „was für eine Chuzpe.“
Doch das kleine Pflänzchen Hoffnung, erstarb sogleich wieder. Seine genetisch bedingte Apathie hatte ihn wieder übermannt.
Ein herber Rückschlag und ich musste erkennen, in jeder Talkshow wäre er eine glatte Fehlbesetzung. Früher, in der guten alten Stummfilmzeit, da hätte er es sicher zum Weltstar gebracht. Aber nun, da der Tonfilm sich zu etablieren scheint, ist er nur noch eine traurige Reliquie längst vergangener Zeiten. Wer eben hundert Jahre zu spät geboren ist, den bestraft das Leben unerbittlich.
Langsam begann diese Charlie Chaplin Imitation mich zu langweilen, der sich in unserer modernen Zeit nicht zurechtzufinden scheint.
Mehr aus Mitleid, denn aus wirklichem Interesse, wagte ich, entgegen meiner eigenen Prinzipien, einen letzten, aber wirklich allerletzten Versuch, denn meine inzwischen aufgestaute Aggression suchte bereits nach einem Ventil.
Anders ausgedrückt, ich war kurz davor meinen Kaffeelöffel, völlig ideologiefrei ihm in eines seiner Augen zu rammen. Nur die Entscheidung in Welches, war noch nicht getroffen.
Dies konnte nur durch eine erneute Ansprache verhindert werden, da mir sonst eine gesellschaftliche Ächtung drohen würde. Unser Rechtssystem duldet eine solche Übergriffigkeit nicht, alleine schon aus hygienischen Gründen. Sonst gäbe es ja auch eine Industrie für Augenlöffel und nicht nur Eier-, Kaffee- und Suppenlöffel.
Längst hatte sich meine Miene verfinstert, als ich zur finalen Ansprache ansetzte, die über sein zukünftiges Leben entscheiden sollte.
„Dein Beruf? Ohne Umschweife! Kein „Rate mal, was ich bin?“ Und zwar jetzt und hier, verbal logisch ausgeführt. Los, Schweiger!“ (FN Das „Schweiger“ bezieht sich auf den allgemeinen Schweiger, nicht auf den Til Schweiger, dem man zurecht unterstellt, immer mit einem bayerischen Semmelknödel im Mund zu sprechen. Die Deutlichkeit seiner sprachlichen Undeutlichkeit hat ihn ja erst zu dem gemacht, was er ist. Die Nuschligkeit seiner gesprochenen Worte, verhindern, wie schlecht oft die Dialoge sind, die zu sprechen, sein Hauptverdiensteinkommen sind. FN)
Die Worte waren gesagt, laut und deutlich, drohend und fordernd und er begriff nun endlich, dass mir nicht zu Scherzen zumute war. Um sein erbärmliches Leben zu schützen, brach es aus ihm heraus, in nie da gewesener Weise.
„Bitte nicht schlagen! Ich bin nur Souffleur am hiesigen Theater!“, rief er mit bebender zittriger Stimme und hielt sich die Hände schützend vor das Gesicht.
„Na geht doch.“, sagte ich ruhig und legte den Kaffeelöffel wieder zu seiner Freundin der Tasse.
Erleichtert, wie locker ich sein Geständnis aufnahm, wischte er sich die schweißüberströmte Stirn ab, mittels des kleinen runden Deckchens, was sich glücklicherweise unter seiner Kaffeetasse befand, eine Aufmerksamkeit des Kaffeehausbetreibers.
„Souffleur also.“, nickte ich anerkennend und mir kamen die vielen Hinweise, die er gestreut hatte, nun auch logisch und plausibel vor.
„Ja.“, sagte er traurig und senkte den Kopf als äußeres Zeichen innerer Depression.
Die Frage, ob ihm der Job Spaß mache, verkniff ich mir, denn nichts an ihm deutete darauf hin. Mir fiel auch nichts weiter dazu ein, was ihn hätte aufmuntern können. Und ehrlicherweise, war es mir auch egal. Menschen, die sich nur im Dunkeln aufhalten, sind und waren mir seit jeher suspekt. Mich ergriff ein innerer Drang zu einer fluchtartigen Bewegung, die von meinen Beinen gesteuert wurden. Ich verließ diesen unseligen Ort und ging davon aus, er wird ja wenigstens meinen Kaffee bezahlen und ärgerte mich anschließend, nicht zwei getrunken zu haben und leider auch auf ein Stück Torte verzichtet hatte, was monetäre Gründe hatte, die jedoch nicht ans Licht der Öffentlichkeit gehören, sondern im Dunkel meiner Lebenssituation zu verbleiben haben.
„Der Souffleur zahlt.“, erklärte ich der Bedienung, die sich mir in den Weg stellte.
Den jetzt auch noch umzuhauen, würde meine Kraft nicht mehr zulassen, die ich beim Souffleur bereits verausgabt hatte.
Während ich beschwingt dem Ausgang entgegenging, rief mir der Souffleur noch einen ganzen Satz nach.
„Ihr Beruf? Was machen Sie denn?“
Ich drehte mich nicht einmal mehr um und verließ rasch den Ort.
„Ich muss doch nicht jedem Dahergelaufenen meinen Beruf sagen.“, dachte ich, stieg in den nächsten Bus ein und fuhr zum Jobcenter, wo mir allerlei angeboten wurde, mit Ausnahme einer Tasse Kaffee.
Erfolgreich lehnte ich sämtliche Vorschläge rundweg ab, was meine Sachbearbeiterin sehr traurig stimmte. Vermutlich befürchtete sie und dies sicher nicht unbegründet, bald selbst arbeitslos zu werden, wenn ihre Angebote auf so wenig Gegenliebe stoßen. Aber das ist ja nun nicht wirklich mein Problem. Wer die soziale Hängematte aufspannt, der darf sich nicht wundern, wenn sich einer reinlegt. Allemal besser als ein Souffleur zu sein.
Denn wie sagte bereits dereinst Bertolt Brecht in seiner Dreigroschenoper:
Und man sieht nur die im Lichte.
Die im Dunkeln sieht man nicht.
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