Jahr für Jahr feiern Menschen Muttertag. Und Jahr für Jahr diskutieren Menschen über diesen Tag.

Ich habe mich heute morgen sehr gefreut über Aufmerksamkeiten, die zu mir passen. Das ist immer ein schönes Zeichen: wenn man etwas geschenkt bekommt, das "zu einem passt", sich also jemand Gedanken macht, sich Mühe macht, nicht achtlos und schnell nebenbei... Ich mag rosa und Blumen in allen erdenklichen Varianten und ich liebe Schokolade. Ich lese gerne, habe mal im Studium Märchen gesammelt und beschäftige mich (zugegebenermaßen seit Kriegsbeginn) mit der Ukraine und ihrer Kultur. Und ich bekomme gerne Briefe und Karten (so oldschool halt) und liebe Selbstgemachtes (wobei der Anteil mit dem Größerwerden der Kinder momentan kleiner wird).

Neben meinem persönlichen Empfinden, den Muttertag schön zu finden, will ich aber auch einen Beitrag zur Diskussion leisten - zu der Frage, wo der Muttertag denn herstammt.

Na, dann schauen wir doch mal genauer hin:

Wir schreiben das Jahr 1905. In diesem Jahr stirbt 73jährig Ann Maria Reeves Jarvis. Jarvis hatte sich für Wohltätigkeit eingesetzt, für die Beseitigung sanitärer Missstände unter den Arbeitern, für die Verbesserung der Gesundheit in Familien, für die Minderung der damals sehr hohen Kindersterblichkeit, sie gründete Zusammenschlüsse, die Geld sammelten, um Medikamente zu kaufen und Haushaltshilfen für (tuberkulose)erkrankte Mütter zu bezahlen. Sie kümmerte sich um Verwundete beider Seiten (!) im amerikanischen Bürgerkrieg und betrieb Vernetzung für Mütter.

Ihre Tochter Ann Marie Jarvis engagierte sich im gleichen Geiste. Aber sie wollte ihrer Mutter mehr Andenken erweisen und zwei Jahre nach deren Tod veranstaltete sie im Mai ein Memorial Mothers Day Meeting. Im folgenden Jahr fand auf ihre Initiative hin eine Andacht in der Methodistenkirche statt, bei der sie 500 weiße Nelken als Ausdruck ihrer Liebe zu ihrer Mutter (und als Symbol der Liebe zu Müttern) vor der Kirche an Mütter verteilte. Ein weißes unübersehbares Blumenmeer zur Ehre von Müttern und ihrer Leistung, Arbeit, Mühe, Liebe, Sorge und ihres Engagements...

Aus diesem ersten und zweiten "Muttertag" wurde 1914 - nachdem Jarvis unermüdlich öffentlich dafür kämpfte, einen offiziellen Muttertag zu etablieren - zum ersten Mal ein nationaler Feiertag in den USA unter Präsident Woodrow Wilson, der zu diesem Anlass die öffentlichen Gebäude beflaggen ließ. Jarvis hatte ihr (formales) Ziel erreicht.

Wie das mit den meisten Dingen so ist, blieb auch die Bewegung um das Sichtbarmachen von Müttern nicht auf us-amerikanischem Boden. Der "Muttertag" breitete sich bis in die 20er Jahre in Europa aus und wird in der ganzen Welt gefeiert - mit sehr unterschiedlichen Kontexten, Gebräuchen und Schwerpunkten.

Aber auch Jarvis sen. fußte schon auf Vorläuferinnen aus der Frauenrechtsbewegung. Mitte des 19. Jh. gründete sich eine Mothers Friendship Day-Bewegung. Mütter sollten sich engagieren, austauschen und vernetzen können, für ihre Rechte als Frauen einstehen. Ein wichtiger Kontext war dabei oft das Eintreten für Frieden, um nicht die Söhne (und Väter) in Kriegen zu verlieren und Leid, Not und Trauer über die Familien zu bringen.

Auch diese Bewegungen hatten schon im 19. Jh. "Ableger" in Europa, auch dort kämpften Frauen für ihre Rechte, für Frieden, für Anerkennung und Wertschätzung von Müttern und bessere Bildungschancen für Mädchen.

Aber auch hier - wie das mit Festtagen, Gedenktagen, Feiertagen und "Anlässen" aller Art in der Geschichte nun mal so ist - machte die Kommerzialiserung auch vor dem Muttertag nicht Halt. Bspw. in D bewarben Floristen in ihren Schaufenstern schon in den 20er Jahren - kaum war Jarvis Gedanke nach Europa geschwappt - den Muttertag als Gelegenheit, Blumen zu verschenken.

Ist damit der Muttertag eine Erfindung der Floristen? Natürlich nicht.

Ist es verwerflich für Floristen, Werbung für ihre Produkte zu machen und einen passenden Tag besonders zu bewerben? Wohl kaum (wir hätten KEINE geschenk- und aufmerksamkeitskonnotierten Feiertage mehr) und jeder von uns würde das nutzen, wenn er/sie Florist wäre.

Ist die Verengung auf Konsum, aggressive Bewerbung und die Verwechslung von Aufmerksamkeit mit materiellen Geschenken bedenklich? Natürlich. Allerdings nicht nur am Muttertag.

Jarvis sah diese zunehmende Entwicklung zu Recht sehr kritisch, widersprach sie doch ihrem ursprünglichen Ziel: Müttern mehr Sichtbarkeit, Anerkennung und Möglichkeiten zu verschaffen, ihre Leistung und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, ihre Rechte zu achten... und sie setzte sich nun wiederum gegen den Tag in dieser Form ein.

Aber - und das ist vielleicht die eigentliche Frage, die wir uns stellen sollten - wer treibt denn diese Kommerzialisierung voran? Wer verengt den Diskurs? Wer verbreitet den Unsinn der Floristenerfindung?

Das sind wir als Gesellschaft, wenn wir außer Blumenkaufen keine weitere Idee aufbringen und keine Ahnung von dem (mehr) haben, was Jarvis damals wollte und wofür auch heute noch gestritten wird und wofür der Muttertag auch heute stehen könnte: die Wahrnehmung der Mütter, ihrer Leistungen, ihrer Rechte und Bedürfnisse.

Auch aber - eigentlich können wir auch wieder ausatmen, diese Diskurse finden statt und seit Jarvis hat es wichtige notwendige und richtige Entwicklungen gegeben, in der viele wichtige und empathische Protagonist:innen ihren Anteil geleistet haben.

Wir können unseren Frieden mit dem Muttertag finden, wenn wir nicht vergessen (!) wo er herstammt und was er eigentlich bedeuten soll. Das ist von den heutigen Zielen vieler engagierter Menschen für Mütter gar nicht weit weg und wir dürfen auch Blumen kaufen, ohne damit dem Narrativ der Floristenerfindung Vortrieb zu leisten. Wir dürfen aus dem unerschöpflichen Angebot an Herzförmigem (von Schokolade bis Nudeln), Buntem, Rosafarbenem, Verspieltem, Kitischigem und mit hübschen Sprüchen Versehenem auswählen, wir dürfen basteln und Briefe schreiben. Wir dürfen auch gar nichts kaufen oder können etwas selbst machen.

Mancher muss auf den Friedhof gehen, um seine Mutter zu besuchen. Mancher muss in ein Pflegeheim, um seine Mutter zu sehen, ohne sie erreichen zu können. Das ist traurig und belastend. Aber auch das ist eine Facette der Liebe.

Wir dürfen den Tag auch für uns persönlich ignorieren und als ganz normalen Sonntag im Mai ansehen. Ja, auch das können und dürfen wir. Wir leben in einem freien Land, in dem vielen Belangen und Bedarfen Rechnung getragen wird.

Wir dürfen uns als Mütter freuen, wenn wir heute morgen eine Aufmerksamkeit gleich welcher Art vorfanden, wenn sich jemand etwas Schönes an und für diesen Tag für uns ausgedacht hat.

Wir dürfen die nicht vergessen, die keine Mutter mehr haben. In vielerlei Hinsicht kann man unabhängig vom Alter "keine Mutter" mehr haben. Das ist ein großer Schmerz. Vielleicht brauchen gerade diese Menschen unsere Achtsamkeit. Sie hätten vielleicht gerne ein Mutter, wie wir sie vielleicht heute feiern...

Ein letztes Wort - und das wird doch nochmal politisch: die Verortung im Nationalsozialismus. Damit tappen wir all jenen in die Falle, die in ihrer Schamlosigkeit vor nichts und niemandem Halt machten (und deren geistige Nachfolger auch heute vor nichts und niemandem Halt machen!), die Dinge aus historischen und gesellschaftlichen Kontexten reißen, denen es nur Recht ist, wenn wir Hintergründe nicht durchschauen und nicht merken, welches Unheil sie heraufbeschwören, um es für ihre gesellschaftszersetzenden bösartigen und letztlich hasserfüllten und demokratiefeindlichen Zwecke zu benutzen. Denen und ihrer toxischen Mutterverehrung etwas entgegenzusetzen und ihnen nicht die Deutungshoheit zu überlassen, kann eine Muttertags-Perspektive sein, die Jarvis wahrscheinlich gefallen hätte. Und das ist sicher die wichtigere Aufgabe als die Frage, wieviele Blumensträuße ein Florist in diesem Jahr verkaufen kann.

Ein allerletztes Wort: bei all dem ist es im Übrigen Jacke wie Hose, ob ein Kind zwei Mütter, zwei Väter oder sonstwas hat. Es hat Elternteile, die diese Rolle erfüllen, in welcher Art und Ausprägung auch immer und irgendwie hat auch jeder Mensch eine biologische Mutter. Und all den individuellen Situationen angemessen kann jede Familie - so sie denn möchte - Muttertag feiern. Auch das kann eine "Entwicklung" des Muttertags sein, die ihn entstaubt.

An Müttern, an Frauen hat die Gesellschaft sich schon immer "abgearbeitet", jedes Thema führt zu Aufregung, Entrüstung, unerbittlicher Diskussion. Kinder, Erwerbstätigkeit, Selbstfindung, Aussehen, Kompetenzen... Frauen, Mütter können sich kaum retten vor Erwartungen, Zuschreibungen, Kritik, Vorwürfen, Be- und Verurteilungen, wie sie zu sein haben, was sie zu denken, zu fühlen haben, welche Probleme sie in der Gesellschaft zu lösen haben... und eben auch am Muttertag, der kontoverser und entrüsteter diskutiert wird als fast jeder andere "Feiertag". Es wäre eigentlich ganz schön, uns mit dieser Abarbeitung (die nicht uns, sondern den Abarbeitenden dient) mal ein wenig in Ruhe zu lassen - wenigstens am Muttertag.

In diesem Sinne: allen "Müttern" wünsche ich heute einen schönen Muttertag, an dem sie sich wohl fühlen, beachtet sind, beschenkt werden, umarmt und angelächelt. Und im Hinterkopf mögen wir alle halten, wofür dieser Tag gedacht war (und wir ihn immer noch und wieder denken können): als Ausdruck der Liebe und für die private und gesellschaftliche Wahrnehmung und die Rechte von Müttern und ihrer Leistung, die sie für ihre Familien und die Gesellschaft erbringen. Das entbindet uns nicht, gesellschaftlich und politisch weiter zu tun, wofür Jarvis und die Frauenbewegung stehen. Aber es führt dem eine Prise sanfter liebevoller Wertschätzung hinzu, die im gesellschaftlichen Handgemenge meist vergessen wird.

❤️

Dir gefällt, was #Isabel Ruland schreibt?

Dann unterstütze #Isabel Ruland jetzt direkt: