„Über die Wehrpflicht muss geredet werden“, so titelte diese Tage ein Leitartikel in meiner Ta­ges­zei­tung. Der Tenor war eindeutig: Angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Lage müsse man wieder ernsthaft über eine Dienstpflicht nachdenken. Diese sei „2011 wohl­weis­lich nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt worden“, so der Autor. Ihm schwebe anstelle ei­ner reinen Wiedereinführung ein „einheitliches Pflichtjahr“ für Männer wie Frauen vor. Da­mit schlägt er in dieselbe Kerbe wie Johann David Wadephul, MdB und stellvertretender Frak­tions­vor­sitzen­der der Unionsfraktion im Bundestag. Dieser fordert ebenfalls einen „Allge­mei­nen Ge­sell­schaftsdienst“ für junge Menschen. Der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat geäußert, dass er die erfolgte Aussetzung der Wehrpflicht 2011 für einen Fehler hält. Mit dieser Einschätzung hat der Minister Recht. Daraus zwangsläufig die Forderung nach der Wieder­ein­führung des Wehrdienstes abzuleiten, ist jedoch falsch.

Um nicht falsch verstan­den zu werden: Ich halte einen Dienst für die Allgemeinheit grund­sätz­lich für begrü­ßens­wert und sinnvoll. Er kann zur Persönlichkeitsbildung der Jüngeren bei­tragen, kann Orientierung geben und das Kennenlernen möglicher Berufsfelder in einer Tie­fe ermöglichen, wie es Praktika so nicht zu leisten vermögen. Die Bundeswehr verfügte durch die Wehrpflicht über einen großen Pool an möglichen Bewerbern. Der Ersatzdienst hat in vie­len sozialen Einrichtungen und bei den Feuerwehren und Hilfsorganisationen regelmäßig für neue Kräfte gesorgt. Nicht selten haben diese Gefallen an ihrem Tun gefunden – und sind ge­blieben.

Die überstürzte Entscheidung von Karl-Theodor zu Guttenberg, die Wehrpflicht auszusetzen, ohne sich tragfähige Gedanken über die Folgen und die Ausgestaltung möglicher Ersatz­an­ge­bo­te zu machen, hat der Bundeswehr, den Hilfsorganisationen und der Gesellschaft einen Bärendienst erwiesen. Da half es auch nicht, dass man hektisch den Bundesfreiwilligendienst zusammengeschustert hatte. Die Bundeswehr muss seitdem in Hochglanz um Nachwuchs wer­ben, während die Realität in der Truppe die dadurch gesteckten Erwartungen nicht erfül­len kann. Und der Freiwillige Wehrdienst ist ebenfalls nicht in der Lage, die Lücken zu schlie­ßen. Also zurück zur Wehrpflicht und alles wird gut?

Jetzt, angesichts einer veränderten sicherheitspolitischen Lage, mag dies sinnvoll, vielleicht sogar geboten, erscheinen. So zu tun, als ob man die Aus­setzung einfach wieder rückgängig machen könnte, wäre indes naiv. So einfach die Forderung auch klingen mag. Auch mit einer Ausweitung auf einen allgemeinen Gesellschaftsdienst und einem in der Folge breitegestreuten Angebotes an Dienst­mög­lichkeiten, wäre die Bundeswehr allein logistisch nicht in der Lage, eine Wehr- oder Dienst­pflicht zu stemmen. Gab es vor Jahren noch über 700 Kasernen, sind es heute noch rund 250 Standorte. Die über 80 Kreiswehrersatzämter sind bis auf wenige Zentren Nachwuchsgewinnung kom­plett verschwunden. Die Lagerbestände an Bekleidung und Ausrüstung wurden massiv reduziert.

Allein hier den nötigen Aufwuchs an Infrastruktur und Ausrüstung zu schaffen, würde vermutlich ein Mehr­faches des 100-Milliarden-Euro-Pakets zur Ertüchtigung unserer Streitkräfte kosten. Die nö­tigen Ausgaben würden entweder die Verteidigungs- und Bündnisbereitschaft weiter belas­ten oder müssten zusätzlich aufgebracht werden. Und das on top zu den Maßnahmen gegen die hohen Energiepreise und Hilfestellungen angesichts der hohen Inflation.

So gesehen hat Kanzler Scholz Recht, wenn er sagt, dass eine Rückkehr zur Wehrpflicht keinen Sinn ergibt. Dass der Reservistenverband der Bundeswehr und manche Rüstungslobbyisten eine andere Auffassung vertreten, ist nachvollziehbar, ändert jedoch nichts an den Tatsachen. Das Aussetzen der Wehrpflicht – de facto die Abschaffung – war ein Fehler. Der durch die Umwandlung in eine Berufsarme erfolgte systematische Rückbau der Streitkräfte hat unserem Land über Jahre hinweg eine stattliche „Friedensdividende“ in Milliardenhöhe eingefahren. Aber dieses Geld ist in andere Projekte und Haushalte geflossen. Zu unwahrscheinlich war das Szenario eines Krieges in Europa.

Nun gilt es zu überlegen, wie man strategisch und nachhaltig eine Verbesserung der prekären Situation erzielen kann. Der nächste mögliche Schnellschuss, wie damals von zu Guttenberg, wird dabei mit Sicherheit nicht helfen.

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