In memoriam
Der Aufschrei war gewaltig. Das Entsetzen riesengroß. Die Nachricht löste eine tiefe Bestürzung aus.
Das ganze Land befand sich in kollektiver Trauer. Fernsehsender unterbrachen ihr laufendes Programm. Sondersendungen auf allen Kanälen. Landesweit brachen die Server zusammen. Der Bundespräsident verhängte, nach einer sehr persönlichen Würdigung, eine Woche Staatstrauer und befahl halbmast zu flaggen. In den Kirchen gab es Gedenkgottesdienste.
Die Telefonseelsorge kam nicht mehr hinterher. Tausende Jugendliche, des Lebens überdrüssig, meldeten sich. Alle bereit, ihrem Idol zu folgen. Ein wildes und heftiges Klopfen drang aus vielen Wohnungen. Verzweifelte Eltern, die an verschlossene Teenagerzimmertüren hämmerten. Hinter den Türen, in Tränen aufgelöste Mädchen und Jungen, die vor weit geöffneten Fenstern auf dem Sims standen und kurz vor dem Absprung waren. Nicht wenige folgten ihrem Impuls. Sehr zum Unverständnis ihrer Eltern, die jegliche Mitverantwortung von sich wiesen.
Einzige Lösung für sie, die Kinderzimmertür aufzubrechen!
Dies scheiterte jedoch in den meisten Fällen daran, dass keiner der Elternteile bereit war, ihre Schultern zu ramponieren. Einige befürchteten zudem, die dann entstehende Lärmbelästigung, durch zersplitterndes Holz, könnten ihre Kinder erschrecken und einen Fenstersturz erst recht heraufbeschwören.
Lediglich Kinderzimmer, die im Parterre lagen, wurden gewaltsam aufgebrochen und den Sturz ihrer Kinder in Kauf genommen. Eltern, die diesen Weg wählten, mussten jedoch damit leben, dass es beim Abendessen keine familienfreundliche Kommunikation gab.
Da saß ihre Nachkommenschaft still in sich gekehrt und weinte auf die Spargelröllchen, bis eine Spargelsuppe entstand, die in kleinen Wellen über den Tellerrand schwappte. Diese Ordnungswidrigkeit wurde wiederum dahingehend bestraft, dass das geliebte Kind, ohne weitere Essenszufuhr, sich ins Bett zu legen hatte. Das Schluchzen war noch die ganze Nacht zu hören, dank der zerstörten Tür.
Diese und noch weitaus drastischere Folgen hatte die Nachricht ausgelöst, die unvorbereitet auf die Welt einprasselte und sie wenigstens für einen Tag nachhaltig veränderte. Am nächsten Morgen waren die Zeitungen mit Nachrufen voll. Alle Titelseiten berichteten ausführlich über die Nationalheldin, die in jungen Jahren ein so jähes Ende gefunden hatte. Und zum ersten Mal in der Geschichte des Fernsehens, übertrugen alle Sender zeitgleich, ob öffentlich-rechtlich, ob privat, selbst sogar sämtliche Verkaufssender und Astro-TV, eine eiligst aus dem Boden gestampfte Sondersendung, die es an nötigem Pathos und Glorifizierung nicht vermissen ließ. Unter dem bewegenden Titel: „Lady Libertie hat ausgeklickt“, wurde noch einmal ihr kurzes Leben nachgezeichnet. Von dem kleinen pummeligen Mädchen, hin zu dem Internetstar, der Instagramkönigin, der einzigen wahren Influencerin von Weltgeltung. Millionen von Smileys riefen ihr ein letztes Lebewohl zu. Lady Libertie wird unvergessen bleiben. Zumindest so lange, bis ein neuer Star am Internethimmel auftauchen wird. Es ist vermutlich nur eine Frage von wenigen Stunden! Doch bevor nun der Hype nachlässt und sie zurecht in Vergessenheit gerät, zeichnen wir nun noch einmal den steinigen Weg ihres harten Aufstiegs nach, der von so manchen Leichen gesäumt ist.
Das Leben einer jungen Frau, die nichts anderes wollte, als nur berühmt zu werden. Kein Talent stand ihr dabei im Wege. Von der Schülerin, mit abgebrochenem Schulabschluss, hin zur Ikone der Jugend.
Alle wollten so werden wie sie und ihr bedingungslos folgen.
Das können Sie ja nun!
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