Isabel Ruland
Ein Kind wird vermisst – das lesen wir ab und zu. Es berührt uns. Bevor wir aber dieses Mal darüber nachdenken können, wird das Kind am selben Wochenende gefunden. Tot. Und genauso schnell erfahren wir, dass die mutmaßlichen Täterinnen ebenfalls Kinder sind, etwa gleich alt. Ihre Freundinnen. Das schockiert uns, macht fassungs- und sprachlos. Am folgenden Tag gehen unsere Kinder wieder zur Schule, haben je nach Alter in den sozialen Medien schon die erste „Rezeption“ gesehen. Es wird geredet, gechattet.
Wir wissen zunächst einmal nicht, was unsere Kinder erfahren, aus welcher Quelle sie es haben.
Wir Eltern sind plötzlich gefordert, unsere Kinder in einer schockierenden, Grauen und Angst auslösenden Situation zu begleiten. Dabei sollten ein paar Aspekte beachtet werden, die helfen können, Ängste aufzufangen und Sorgen einzuordnen. Kinder und Jugendliche brauchen Antworten, die ihren altersgemäß unterschiedlichen Gefühlen gerecht werden.
Es spielt keine große Rolle, ob Kinder nun selbst mit Fragen oder Bemerkungen auf uns zu kommen oder ob wir von uns aus das Gespräch anbieten: wir sollten mit unseren Kindern sprechen und für sie da sein.
Fünf Dinge sollten Sie beachten:
1. Fragen Sie: Wie geht es dir? Was hast du gesehen, gehört? Was löst das in dir aus? Habt ihr in der Schule oder unter Freunden darüber gesprochen?
Knüpfen Sie an das an, was Ihr Kind schon gehört hat. Vermeiden Sie (v.a. je jünger die Kinder sind) Tatdetails, sondern schlagen Sie einen groben Zusammenhangsbogen, der die Situation verstehbar macht. Hören Sie gut zu. Spiegeln Sie die wahrgenommenen Gefühle und versichern Sie, dass auch Sie beunruhigt und erschreckt sind.
Beantworten Sie Fragen offen nach bestem Wissen. Suchen Sie sich selbst seriöse Quellen wie die großen Leitmedien, in denen aktuell viele Fachleute interviewt werden. Bleiben Sie bei den Informationen, die bekannt sind. Polizei und Staatsanwaltschaft haben gute Gründe, wenn sie bestimmte Informationen (noch) nicht nennen. Spekulieren Sie nicht und meiden Sie Spekulationen v.a. in den sozialen Medien, auch wenn das schwer fällt. Sie würden ihr Kind beeinflussen, ohne eine sachliche Einordnung vornehmen zu können. Besprechen Sie, dass es Fragen geben wird, die erst mit der Zeit und manche vielleicht auch gar nicht geklärt werden können. Das stellt unser Informationsbedürfnis auf die Probe, vermitteln Sie Ihren Kindern aber, dass es Sachverhalte gibt, bei denen man diese ungeklärten Fragen schlicht aushalten muss.
Mit älteren Kindern/Teenagern können wir besprechen, wo wir Informationen her nehmen und wie sie zu bewerten sind. Für Kinder ist der KIKA mit seinen altersangepassten Nachrichten hilfreich, ältere Kinder/Jugendliche können seriöse Nachrichtensendungen und Zeitungen nutzen.
Sprechen Sie (v.a. mit älteren Kindern/Jugendlichen, die sich in den sozialen Medien bewegen) darüber, was sonst noch so durch die Medien läuft, Plattformen wie TikTok, instagram etc. sind einfache und schnell bediente Medien für Desinformation und Hass. Lassen Sie Ihr Kind nicht allein damit. Schauen Sie gemeinsam und besprechen Sie, was sie gesehen haben. Ordnen Sie ein.
Denken Sie daran, dass jüngere Kinder das Thema Tod und Tod durch eine Gewalttat noch nicht in seiner ganzen Tragweite verstehen können. Vielleicht wundern Sie sich, wenn ihr junges Kind gar nicht nennenswert reagiert. Das ist altersgemäß. Sie dürfen es nicht mit ihrer erwachsenen Wahrnehmung und Einordnung verwechseln. Lassen Sie es in diesem Fall gut sein, bleiben Sie aber wachsam und stehen Sie auch weiterhin für Fragen zur Verfügung.
2. Seien Sie ehrlich – Sie machen sich Sorgen.
Benennen Sie Ihre Angst. Ihr Kind spürt ihr Befinden, auch wenn Sie es nicht aussprechen. Kinder haben sehr sensible Antennen für unsere Gefühle und Stimmungen, sie sind ja existentiell davon abhängig. Sie werden verunsichert, wenn das, was wir sagen nicht mit dem überein stimmt, was sie wahrnehmen. Sagen Sie, dass sie sich Sorgen machen, Kinder fühlen sich dann emotional besser verstanden. Sagen Sie aber auch, dass Sie mit Ihren Gefühlen gut umgehen können und für die Sorgen eine Antwort finden. Wenn dieser schreckliche Fall bei Ihnen Angst um Ihr Kind auslöst, ist es wichtig, zu vermitteln, dass das Kind keine Verantwortung dafür trägt. Es ist Ihre Sorge, das Kind trägt seine eigene und die ist ganz anders gelagert als Ihre.
3. Denken Sie an ein mögliches „Erbe“.
Solch eine Tat kann alte eigene Erlebnisse von Tod oder Gewalt aufflackern lassen („triggern“), sowohl bei Ihren Kindern als auch bei Ihnen. Sollten Sie spüren, dass alte Traumata oder Erinnerungen hochkommen, die mit Gewalt zu tun haben, sowohl bei Ihnen wie bei Ihren Kindern, wenden Sie sich an professionelle Stellen bei der Stadt, an Ihren Arzt, den Schulpsychologen oder Schulsozialarbeiter.
Eine besondere Belastung können auch spezielle Umstände sein, die das Ereignis räumlich oder emotional „nah“ an uns heranrücken lassen, bspw. wenn der Ort des Geschehens nicht weit weg ist oder wenn Ihre Kinder im gleichen Alter sind, andere Gemeinsamkeiten mit dem getöteten Mädchen oder auch mit den mutmaßlichen Täterinnen haben.
4. Machen Sie Mut – benennen Sie Lösungen und schaffen Sie Selbstwirksamkeit
Mit Ängsten und Verunsicherungen kann man einen guten Umgang finden.
„Kann uns das auch passieren?“ Ja, das könnte uns theoretisch auch passieren, aber so ein Fall ist sehr, sehr, sehr selten und es ist nicht zu erwarten, dass so etwas gleich wieder passiert. Die Fachleute sagen, dass sie so einen Fall in den letzten 40 Jahren noch nicht gesehen haben. Das ist eine lange Zeit.
„Ich kann nicht allein schlafen.“ (Das kann auch Jugendliche betreffen). Machen Sie Platz im Elternbett oder schlafen Sie ein paar Tage mit im Zimmer des Kindes. Es braucht diese Sicherheit jetzt.
„Ich traue mich nicht alleine zu meiner Freundin.“ Oder: Sie als Eltern haben für den Moment Angst, Ihr Kind alleine unterwegs zu wissen. Bringen Sie Ihr Kind – zur Schule, zum Verein, zur Freundin. Geben Sie dem Kind (und sich) die Sicherheit, die gerade gebraucht wird. Lockern Sie nach wenigen Tagen diese engere Kontrolle wieder – um Selbstvertrauen und Vertrauen wieder Raum zu geben. Nehmen Sie das gewohnte Leben wieder auf, bleiben Sie aber offen, wenn Bedarf besteht.
Sprechen Sie über Mobbing und Prävention – vereinbaren Sie, wie Sie damit umgehen wollen, wenn in Ihrem Umfeld so etwas auftritt. Kennen Sie und ihr Kind die einschlägigen Ansprechpartner in Schule und sozialem Umfeld?
Ein wichtiger Punkt des Umganges ist Selbstwirksamkeit. Wir können die Tat nicht ungeschehen machen. Unsere Kinder haben Fragen, sind traurig und verunsichert. Wir können diesen Gefühlen aber einen angemessenen Platz zuweisen. Dazu kann gehören:
- zünden Sie gemeinsam eine Kerze an und geben Sie der Trauer damit einen warmen Ausdruck
- schreiben Sie ein Trauergedicht, ein Gebet
- malen Sie ein Bild, auf dem die Gefühle zu sehen sind und sprechen Sie darüber
5. Nehmen Sie alle Themen in den Blick
Thematisieren Sie vorsichtig auch die Familien der mutmaßlichen Täterinnen. Sie sind ebenfalls durch die Tat zerstört. Solche Ereignisse haben nur (!) Verlierer. Erklären Sie sachlich, was jetzt mit den Mädchen passiert, wo sie sind und was sie erwartet. Erklären Sie, warum die Mädchen nicht nach dem Strafgesetz bestraft werden können, dass sie und ihre Familien aber umfangreiche Konsequenzen zu erwarten haben. Dass ein Gesetz nicht anwendbar ist, heißt nicht, dass nichts passiert. Es gibt für diese Fälle andere Gesetze und verschiedene Möglichkeiten, zu reagieren. Das wird umfassend geschehen.
In den sozialen Medien ist eine Hexenjagd ungeahnten Ausmaßes ausgebrochen. Dabei werden Desinformationen und Lügen verbreitet, aber auch Straftaten begangen, etwa, wenn die Gesichter des getöteten Mädchens oder der Täterinnen verbreitet werden, zu Rache und Selbstjustiz aufgerufen, Hass und beleidigende Hetze geäußert wird etc. Besprechen Sie, dass diese Dinge falsch sind und bestraft werden können. Sprechen Sie darüber, woher Rachegedanken und Wut kommen und wie man damit umgehen kann. Erklären Sie, warum der Rechtsstaat so ist wie er ist und wie wertvoll er ist, auch wenn man im ersten Moment nicht versteht oder emotional akzeptieren kann, dass hier bspw. die Mädchen nicht „bestraft“ werden können (in unserem vorgestellten Strafsinn: Gefängnis etc.). Sie können mit ihren (älteren) Kindern sofern diese sich schon in verschiedenen sozialen Medien bewegen auch vereinbaren, dass Ihr Kind zu Ihnen kommt, wenn es etwas "Komisches" in seine Timeline gespült bekommt oder bei anderen sieht oder wenn es den Verdacht hat, dass Unrechtes in den sozialen Medien auftaucht. Besprechen Sie gemeinsam, was Sie unternehmen können, von Melden bis zu einer realen Anzeige gibt es viele Möglichkeiten. Zeigen Sie Ihrem Kind auf, dass es (mit Ihnen gemeinsam) einen akitven Beitrag zur Verringerung und Eindämmung von Hass und strafbaren Handlungen im Netz leisten können. Auch das ist eine Form der Selbstwirksamkeit, die das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht deutlich mindern kann. Es stärkt zugleich Ihre familiären Abwehrkräfte und fördert Resilienz.
Hüten Sie sich selbst vor Verurteilungen und dem Ruf nach harter Strafe. Auch spontane Forderungen nach Absenkung der Strafmündigkeit sind nicht zielführend. Sie entspringen einer hochemotionalen Reaktion auf ein furchtbares (sehr seltenes) Ereignis und sind nicht das Resultat fachlicher rationaler Beratungen entsprechender Facheute. Sprechen Sie mit Ihren Kindern leise und empathisch, nicht rachgierig und unbedacht. Denken Sie aus allen Perspektiven heraus. Vermitteln Sie, dass solche schrecklichen Fälle auf allen Seiten nur Verlierer haben.
Drei Dinge sollten Sie vermeiden:
1. „Du brauchst keine Angst zu haben“. Sätze dieser Art sind Unsinn. Wir sagen sie in dem Bestreben, Schlimmes (und auch „schlimme“ Gefühle) von unseren Kindern fernhalten zu wollen, sie vor Unglück zu bewahren. Dem Kind/Jugendlichen wird aber damit signalisiert, dass seine Angst etwas Schlimmes sei, das keine Berechtigung habe und dumm sei, aber die Angst und den Schrecken spürt es real. Sie sind da.
Angst ist ein sehr altes Gefühl des Menschen, das uns vor Gefahren warnt. Angst ist ein Überlebenssignal. Solche eine schlimme Tat kann ein Auslöser von Angst sein, v.a. weil sie sozial so nah an uns selbst stattgefunden hat.
Die Sorge und Angst unserer Kinder ist zunächst berechtigt und verdient, ernst genommen zu werden. Davon ausgehend können Sie erläutern, dass Fälle, in denen Kinder solch eine Gewalt ausüben, sehr selten sind und ganz besonders dieser Fall, in dem Mädchen die mutmaßlichen Täterinnen sind, etwas ganz Außergewöhnliches ist. Mit der Zeit werden diese Fakten die Angst beruhigen. Zu Recht.
2. Spielen Sie keine Normalität vor. Es ist keine „normale“ Situation. Kinder wissen das. Und sie reagieren darauf. Wir erkennen diese Betroffenheit an veränderten Verhaltensweisen. Sie wollen Ihr Kind schützen, auch vor schlimmen Nachrichten. Es schadet aber, die Welt vor unseren Kindern zu verstecken und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Kinder nehmen die Realität trotzdem wahr, sprechen in der Schule, im Freundeskreis. Anstatt sie davon (vergeblich) abschirmen zu wollen, geben Sie ihnen lieber das Rüstzeug, mit dem Schock und den verwirrenden hilflosen Gefühlen umgehen zu können.
3. Zeit zum Sprechen – Zeit für andere Dinge: nicht zu jeder Zeit ist es sinnvoll, beunruhigende, belastende Themen zu besprechen. Die unmittelbare Zeit vor dem Schlafengehen ist der falsche Zeitpunkt. Beschließen Sie den Tag immer mit etwas Positivem, Tröstlichen. Gewähren Sie Ihrem Kind, bei Ihnen zu schlafen, wenn es sich unsicher fühlt. Das ist normal und resultiert aus der schockierenden Situation. Nehmen Sie Ihr Kind gerade abends in seinen Bedürfnissen und Gefühlen besonders sensibel wahr.
Denken Sie daran – wir alle sind belastet. Die Pandemie hinterlässt immer noch ihre Spuren, der Krieg in der Ukraine dauert mit täglichen Meldungen an. Seien Sie nachsichtig. Denken Sie daran, dass Ängste ausdrückende Verhaltensweisen eine normale Reaktion auf eine unnormale Situation sind.
Wenn Sie denken, dass Sie oder Ihr Kind das allein nicht schaffen und Rat brauchen, suchen Sie Hilfe bei Jugendamt, Kirche oder Kinderarzt, Beratungsstellen und Hilfsorganisationen.
Niemand sollte alleine bleiben – schon gar nicht unsere Kinder.
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