Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie aus den vormals pazifistischen Grünen eine Partei werden konnte, die Kriege propagiert? Oder warum ausgerechnet die SPD Hartz4 durchgesetzt hat?
Wenn wir Parteien nicht als Wahlvereine verstehen, sondern auch als Wertegemeinschaften, dann wissen wir, dass jede einzelne Partei aus einer Reihe von Gründen entstanden ist. Demokratietheoretisch bündeln sich in Parteien Interessen und Wertvorstellungen. Sicher gehören auch Ideologien dazu.
Die Kernkompetenzen der Parteien
Die CDU/CSU stand immer für konservative Werte. Das ist aber zu unscharf und nicht näher definiert. Deshalb sind die Kernkompetenzen von Bedeutung: Innere und Äußere Sicherheit, Ökonomische Stabilität, Energiesicherheit und Bildung.
Die SPD stand immer für soziale Werte. Auch das ist als politischer Begriff zu unscharf und bedarf der Klärung: Historisch ist die älteste Partei Deutschlands aus dem so genannten Klassenkampf hervorgegangen und fühlte sich bis weit in dieses Jahrtausend als Partei, die eine Antwort auf die „Arbeiterfrage“ finden kann.
Für die Linkspartei gilt ähnliches wie für die SPD. Mangels Regierungsverantwortungserfahrung auf Bundesebene kann die Linke hier noch mehr fordern als die SPD. Damit wirkt sie so lange glaubwürdig, bis sie ihren Wählerinnen und Wählern – etwa nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 – weh tun wird.
Die Grünen standen seit ihrer Gründung für einen Vierklang aus den Begriffen „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“. Heute stehen die Grünen für eine klare Vorstellung von morgen. Klimaschutz und Genderneutralität, Weltoffenheit und Toleranz sind Begriffe, wie sie von Grünen oft formuliert und anderen diktiert werden. Hinzu kommen aber auch Themen wie der ökologische Umbau unserer Ökonomie. Die Gefahr hierbei: Es sind zu viele Themen, die nicht zwingend zu Kernkompetenzen werden können. Zumal die Grünen einst den ersten Waffengang Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg auf ihrem Gewissen haben.
Die FDP vertritt liberale Werte. Damit ist gemeint: „Mehr Freiheit, weniger Staat“. Hinzu kommt eine grundsätzlich liberale Gesellschaftspolitik, ökonomische Freiheitsrechte und ansonsten Toleranz in weltanschaulichen Fragen.
Die AfD vertritt theoretisch konservative, neoliberale, patriotische und nationale Werte. Auch diese Werte bilden noch keine Kernkompetenzen und bleiben zunächst unscharf. Da aktuell nicht von Erlangung von Regierungsverantwortung auszugehen ist, mögen Sie mir nachsehen, auf eine weitere Behandlung zu verzichten. Denn erst mit der Übernahme von Regierungsverantwortung würde die AfD eine Erfahrung machen, wie ich sie hier im Folgenden bei allen anderen Parteien besprechen werde.
Der Bruch von Wahlversprechen und der Umgang mit den eigenen Kernkompetenzen
Was in der CDU heute noch an ihren eigenen Kernkompetenzen vorhanden ist, mag jeder für sich selbst beurteilen. Angela Merkel hatte einst jahrelang die Atomenergie zu den Kernkompetenzen der Union gezählt. Nach Fukushima stieg sie dann, wenige Monate nachdem sie aus dem Atomausstieg ausgestiegen war, erneut und endgültig aus der Atomenergie aus. Ergo: CDU minus Kernkompetenz Atomenergie?
Die Aussetzung der Wehrpflicht bedeutet ebenfalls die Aufgabe einer Kernkompetenz der CDU/CSU.
So könnte ich weiter aufzählen. Interessanter ist aber der Grund, warum die CDU hier Forderungen von SPD, Grünen und Linkspartei in atemberaubendem Tempo erfüllte: Sie hatte die Opposition hinter sich. Etwa die SPD an der Regierung hätte die CDU/CSU in der Opposition gegen sich gehabt und damit diese bedeutsamen Fragen der Politik nicht so einfach entscheiden können.
Die SPD hingegen hätte Hartz4 der CDU/CSU niemals durchgehen lassen. Sie hat äquivalent zur CDU in deren Fragestellungen, das eigene Klientel zumindest zur Hälfte hinter sich stehend gewusst. Eine Melange aus Opportunismus, Karriereabsichten, Versprechen und Intrigen gehören in derlei Fällen immer dazu.
Die Grünen standen immer für Gewaltfreiheit und waren keine sechs Monate an der Bundesregierung beteiligt, als sie den Weg freimachten für die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit wurde das vormals gültige Dogma der Vereinten Nationen („Keine Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten“) abgelöst durch das neue Dogma („Kein zweites Auschwitz“). Joschka Fischer spürte mit dem Riss seines Trommelfells auf dem damaligen Bielefelder Parteitag sehr konkret, wie problematisch die Einbindung aller Strömungen in Regierungspolitik sein kann. Alle Grünen hätten gegen Helmut Kohl oder Wolfgang Schäuble demonstriert, wenn diese die Bundeswehr zum Krieg gegen Serbien geschickt hätten. Bei den Grünen blieben die internen Gegner am Ende überstimmt und damit in der Minderheit.
Dieses Prinzip: An der Regierung tun Parteien oft das Gegenteil dessen, wofür sie gegründet und gewählt wurden, ist auf Dauer höchst problematisch. Die SPD kann ganze Opern davon singen, wie sehr ihr die Einführung von Hartz4 noch heute schadet.
Der CDU laufen aktuell die Wähler in alle Richtungen davon. Einzig die Grünen profitieren von ihrer Rolle, die böse Zungen als „Regierungsbegleitung seit 2005“ bezeichnen. Sie konnten in der Opposition mehr fordern, als von Kanzlerin und Ministerrunde beschlossen werden konnte, während andere Oppositionsparteien Stoppschilder entgegen hielten. Insgesamt führt aber die Anwendung des Verstoßes gegen Kernkompetenzen, Grundwerten, wichtigsten Zielen zu Politikverdrossenheit, auch Radikalisierungstendenzen und einer gefährlichen Delegitimierung der Demokratie an sich.
Ein gewagter Ausblick
Sollte die CDU in die Opposition geraten, werden die Grünen sicher die Grenzen schließen und Rückführungen umsetzen.
Sollten SPD und Linkspartei in die Opposition geraten, könnten sie endlich fusionieren oder aber gemeinsam eine sozialere Politik im Bereich Hartz4 und Migration durchsetzen.
Und sollte eine AfD an die Regierung kommen, wird sie bei Amtsantritt sagen „der Islam gehört zu Deutschland“ und „wir werden alles tun, dass der Euro stabil bleibt“. Oder so.
Gut, diese Voraussagen sind gewagt, aber das Prinzip wird dadurch deutlich. Denn die eigene Partei in der Opposition protestiert gegen die Regierungspolitik aufgrund ihrer im Programm niedergeschriebenen Grundsätze. Aber in Regierungsverantwortung werden Parteien mit Fragestellungen, Problemen und Sachzwängen, auch international dringend zu lösenden Konfliktfällen konfrontiert für die sie Mehrheiten gewinnen und „besorgen“ müssen. Dann ist es gut, wenn die eigenen Anhänger zumindest teilweise den Bruch mit den eigenen Werten mittragen. Also „gut“ im Sinne der jeweiligen Problemlösung. Dabei geht es mir nicht darum, einzelne Fragestellungen oder Antworten dazu als richtig oder falsch zu definieren. Mir geht es lediglich darum, zu klären, warum Parteien häufig das Gegenteil dessen tun, wofür sie angetreten sind.
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