Ivan Lefkovits hat zusammen mit seiner Mutter als kleiner Junge den Horror des Konzentrationslagers Bergen-Belsen überlebt. Er erzählt über das Leben danach.  

Gut und gern einen Regalmeter füllen die wissenschaftlichen Publikationen des Immunologen Ivan Lefkovits. Es ist sein Lebenswerk. Der ruhige, sich stets etwas zurückhaltend gebende Mann teilt sein Büro am Basler Institut für Immunologie seit Jahrzehnten mit einem Kollegen. Die beiden haben sich versprochen, dass jener, der zurückbleibt, die Bleistiftskizze des andern an die Wand des kleinen Büros in der Basler Altstadt hängen wird. Dort reihen sich die andern Fachkollegen, die den “unvermeidlichen Weg” schon gegangen sind.

In einem schmalen, 2016 erschienen Bändchen erzählt der 83-jährige aus seinem anderen Leben. Es trägt den Titel «Bergen – Belsen. Vollendet - Unvollendet» und ist Teil der 15 Lebensgeschichten umfassenden Reihe «Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden». Levkovits hat sie herausgegeben. „Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht.“ Ein Zürcher Kollege hatte ihm ein E-Mail geschrieben, nachdem er in einer internen Zeitschrift der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH davon gelesen hatte. „Ich wollte kein Mitleid, gerade in beruflichen Dingen nicht. Meine Leistungen sollten zählen. Und sonst nichts.“ Und so schwieg Ivan Lefkovits über die schrecklichen Jahre als Kind mit seiner Mutter im Konzentrationslager, so wie er auch als Jugendlicher verstummte, wenn er in die Augen einer Freundin seiner Mutter sah, deren ganze Familie, auch ihr gleichaltriger Sohn, in der Gaskammer ermordet worden war: «Sie war immer höflich, aber es schien mir immer, dass sie  meinen Anblick nicht ertrug. Sie sah ihren Sohn in mir. Und so sprachen wir nie darüber, was geschehen war». Die Kerzen an den Geburtstagen des Bruders, der ermordet worden war, und am Tag der Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen – Belsen brannten den ganzen Tag. “Diesen Tag beging meine Mutter noch während Jahren zwei Tage später, am 17. April, als wir nach elf Tagen erstmals wieder Wasser tranken und etwas assen.» Das Unaussprechliche blieb auch bei dieser Gelegenheit ungesagt. Heute werde er bei Schulvorträgen gefragt, was schlimmer gewesen sei, der Hunger oder der Durst. «Das gehört eigentlich in den Biologie-Unterricht, aber solche Fragen zeigen mir, dass es unmöglich ist, zu begreifen, was damals geschah. Es geht mir, der ich dieses Grauen erlebt und überlebt habe, eigentlich nicht anders. Doch das darf nicht bedeuten, darüber zu schweigen.»

Ivan Lefkovits machte eine feine akademische Karriere. Er begann sie in der kommunistisch gewordenen Tschechoslowakei und setzte sie später praktisch nahtlos fort, als er 1967 dem Land aus politischen Gründen für immer den Rücken kehrte. Er sei stets ein scharfer Kritiker des Sozialismus gewesen und habe mit dieser Meinung auch nie hinter dem Berg gehalten. Doch über die Shoa, von der er sein erschütterndes Zeugnis hätte ablegen können, schwieg er während Jahrzehnten. Sein glühender Antikommunismus habe es ihm leichter gemacht, den Mantel des Schweigens über die Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland zu legen. Er habe nie Rachegelüste gehabt. Auf der Rückfahrt aus dem Konzentrationslager durch das kriegszerstörte Deutschland in seine Heimat sei ihm bewusst geworden, dass die Gewalt auf deren Urheber zurückgeschlagen habe. Damit sollte es nun genug sein. Bis sein 16-jähriger Sohn die Familie wachrüttelte: Das war 1978, als der us-amerikanische Vierteiler «Holocaust» auch im europäischen Fernsehen gezeigt wurde. «Wie konnte es sein, dass ihr euch nicht gewehrt habt, euch einfach habt abschlachten lassen», habe sein Sohn die Grossmutter gefragt. Da brach als erste Ivan Lefkovits’ Mutter ihr Schweigen. Sie schrieb in hohem Alter ihr Leben auf. Ihr Sohn sollte ihr Jahre später folgen. Doch er hat es nicht selbst notiert, eine Geschichtsstudentin hat ihn befragt und darüber berichtet. Er habe schlicht nicht bei seiner Mutter abschreiben wollen, die wesentlich genauere Erinnerungen habe als deren Sohn, der sie als Siebenjähriger ins Konzentrationslager begleiten musste. Stattdessen widmete und widmet sich Lefkovits dem Gedenken und der Frage nach Sühne, nach Schuld und nach Verantwortung, vor Ort in Bergen – Belsen, in Medien und vor Schulklassen. In Heidelberg brach eine Zuhörerin in Tränen aus, als er auf dem Podium über die Zeit im Konzentrationslager erzählte. Er fragte nach, und die Frau berichtete, sie habe in den Unterlagen ihres verstorbenen Grossvaters gelesen, den sie als warmen, liebevollen Menschen sehr verehrt  haben. Doch er sei als Wächter im KZ Bergen-Belsen tätig gewesen. Deshalb sei sie gekommen. Sie habe die Stimme eines Überlebenden hören wollen. Lefkovits sagte nach der Veranstaltung zu ihr, sie trage keinerlei persönliche Schuld, aber es sei gut, wenn sie sich mit den Opfern identifiziere. Sie solle ihren Weg gehen und die Geschichte ihres Grossvaters loslassen. Andere bäten ihm um Verzeihung. “Ich verzeihe diesen Menschen dann, ihnen zuliebe. Aber es gibt nichts zu verzeihen. Sie sind unschuldig.” Schuld trügen vielmehr die Nationen, die an diesen Verbrechen beteiligt gewesen seien, namentlich die deutsche, aber auch all jene, die kollaboriert hätten. “Daraus erwächst eine historische Verantwortung, die leider nur Deutschland wahrnimmt.” Würde Ivan Lefkovits dem Grossvater der Frau verzeihen, die als Enkelin mit Schuldgefühlen kämpft? “Das kann ich nicht sagen. Es hinge vom Grad seiner Schuld ab. Nach der Befreiung gab in Belsen einen sehr fair geführten Prozess. Es gab Todesurteile, Gefängnisstrafen und Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Dieses Gericht hat bestraft, aber es hat keine Rache geübt.”

In Berlin habe eine Gymnasialklasse sich der «Memoiren von Holocaust-Überlebenden» angenommen und in Gruppen Vorträge daraus erarbeitet. Die beiden Mädchen, die sich seinem Leben gewidmet hätten, hätten unter anderem den Lebensbaum seiner Familie gezeichnet. «Das hat mich sehr berührt und geehrt zugleich. Ich konnte dem nur etwas hinzufügen: Eine Prise Humor, um diese Geschichte etwas erträglicher zu machen. Ich sagte Ihnen in meinem Vortrag vor versammeltem Publikum, nun gebe es drei Menschen, die mehr über mein Leben wissen als ich selbst: Meine Frau und die beiden Jugendlichen.”

Der Text stammt aus dem Buch "Kinder auf der Flucht", von Martin Arnold und Urs Fitze, erschienen im Rotpunkt - Verlag, Zürich. 30 €.