Traumdeutung

Vier Stunden Fernsehfastnachtssitzung, eine Familienpizza mit Doppelkäse, zwei Flaschen Riesling und eine ganze Packung Tiramisu liegen hinter mir. Es war ein, in jeglicher Hinsicht, anstrengender Abend, der nun langsam zur Neige geht. Was kann man sich Schöneres vorstellen, als alleine in seiner Wohnung gemütlich zu sitzen und nur mit einer dezenten Luftschlange um den Hals, Karneval, Fastnacht oder je nach Region, Fasching zu konsumieren. Man ist ungezwungen, nur dann zu lachen, wenn man etwas witzig findet und nicht im Kollektiv sich amüsieren zu müssen, wenn man in einem Saal mit tausenden Narren sitzt und zwangsgeschunkelt wird. Seit Tagen bin ich schon im Sitzungsmarathon. Auf allen Kanälen sind die Narren zu Hause. Man kann dem Trubel nicht entgehen, selbst wenn man der Feind des erzwungenen Frohsinns ist. Narrhallamarsch und Tusch! Ich weiß nicht wie viele Tuschs oder heißt es Tüsche, ich schon über mich ergehen lassen musste und ich habe sie alle schadlos überlebt. Jetzt, da die Mutter aller Sitzungen hinter mir liegt, resümiere ich, während ich nachdenklich die Luftschlange wieder zusammenrolle, um sie im nächsten Jahr wieder fröhlich um mich zu wickeln. Sie ist meine einzige Verkleidung und dient mir schon im sechsten Jahr. Das nenne ich meinen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Doch in diesem Jahr habe ich mir eine neue zusätzliche Lachhilfe zugelegt. Daran ist meine Mutter schuld, die mir zu Weihnachten einen Beutel mit Konfetti geschenkt hat, aus recyceltem Papier, wie sie mir, umweltbewusst wie sie ist, in einem Begleitgedicht mitgeteilt hat. Freundlicherweise hat sie mir das Frohsinnspaket zugeschickt, sodass ich es nicht auch noch persönlich abholen musste. Dies ersparte mir die alljährliche familiäre Weihnachtskrise, die stets der Höhepunkt unseres Heiligabend darstellt. In diesem Jahr war ich freigestellt, weil mein Vater dem jährlichen Krach aus dem Wege gehen wollte und seine Frau, meine Mutter, kurzerhand in einen Kurzurlaub eingeladen hat. Alleine dafür habe ich ihn in meinem Testament bedacht, während meine Mutter nur ihren Pflichtteil bekommt.
Ich schalte den Fernseher ab und genieße die Ruhe, die mir diese Entscheidung ermöglicht. Der redaktionell aufbereitete Frohsinn, den die TV-Gewaltigen als das Null plus Ultra uns vorgesetzt haben, hat seinen Höhepunkt für alle sichtbar erreicht, wenn farbig bunte Luftballons von der Decke stürzen und den Saal in einen Hexenkessel verwandeln. Die fröhlich kostümierten Menschen erheben sich ein letztes Mal, was man als Standing Ovations auslegen wird. In Wahrheit könne sie nach vier Stunden einfach nicht mehr sitzen und strömen in Strömen hinaus, hin zu den Toiletten, wo sie bereits mit einem dröhnenden Narrhallamarsch begrüßt werden. Ich hingegen genieße meinen Toilettengang, wo ich sicher sein kann, dann niemand, wild hämmernd gegen die Tür klopft und mich zur Eile antreibt. Während ich den Riesling seiner Bestimmung zuführe, muss ich konsternieren, auch in diesem Jahr wieder nicht laut gelacht habe. Das ist für eine Vier- Stunden-Sitzung ein mittelprächtiges Ergebnis, was jedoch nicht an meiner Bereitschaft lag, mich dem Humor hinzugeben. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ein laut ausschweifendes und herzliches zwerchfellerschütterndes Lachen wollte sich einfach nicht einstellen. Beileibe es lag nicht an mir. Hatte ich doch schon mit den zwei Flaschen Riesling den Grundstein gelegt, der mich in eine alberne Stimmung versetzen sollte, doch mehr als ein Schmunzeln konnte ich mir nicht entlocken. Und da die Sitzung bei mir nicht wirklich zünden wollte, kam auch das Konfetti nicht zu seinem Einsatz. Ungeöffnet liegt der Beutel noch da und ich muss ihn wohl auf das nächste Jahr vertrösten, wenn ich einen neuen Versuch starten werde, mich von der Stimmung im Saal, durch den Fernseher hindurch, in mein Wohnzimmer hinein, einfangen zu lassen. Seit Jahren drücke ich der Sitzung fest die Daumen, dass es ihr diesmal gelingen möge und jedes Mal enttäusche ich Sie von neuem. Ich befürchte fast, ich leide unter einer Humorimmunität und das chronisch! Vielleicht muss ich mich doch einmal in ärztliche Behandlung begeben, um die Ursache dafür abklären zu lassen. Da die Symptome ja bereits seit Jahren bestehen, bin ich doch ernstlich beunruhigt. Nur muss ich mich noch nach einem Facharzt umsehen, der sich auf meine Problematik spezialisiert hat. Ich hoffe nur inständig, um eine Einweisung herum zu kommen. Kliniken, die sich auf Humordefizitäre verlegt haben, sind nicht so reich gesät. Vor einigen Jahren habe ich bereits einmal mich des Problems angenommen, bin jedoch einem Scharlatan aufgesessen. Nach zwölf Therapiesitzungen musste ich feststellen, dass der Clowndoktor, den ich in gutem Glaube aufsuchte, keine Approbation hatte und zusätzlich die Kosten von der Krankenkasse nicht übernommen wurden. Schon bei der ersten Sitzung kam es mir sonderbar vor, dass er, obgleich wir uns in der Vorweihnachtszeit befanden, er mich mit einer roten Pappnase empfing. Und sonderlich komisch war er auch nicht, was ich gleich komisch fand! Pausenlos versuchte er mich, mittels eines Gummihuhns und eines Pupskissens,  zum Lachen zu bringen, wogegen ich mich jedoch erfolgreich wehrte. Nach diesem Fehlversuch ignorierte ich die Krankheit zunächst und hoffte darauf, dass die Wissenschaft eines Tages ein Gegenmittel finden würde. Doch die Warterei wurde mir irgendwann zu lange und ich kam zu der Erkenntnis, meine Humorlosigkeit als Chance zu begreifen und nicht länger gegen sie anzukämpfen. Inzwischen lebe ich ganz gut damit und trotz fortgeschrittenem Stadium bin ich derzeit noch schmerzfrei. Sollte jedoch eines Tages bei mir die Meinung vorherrschen, mein Leben wäre nicht mehr lebenswert, scheue ich nicht davor zurück, einen geordneten Rückzug, mittels Sterbehilfe auszuprobieren.
Ich finde, einen Versuch ist es allemal wert!
Nachdem ich das letzte Stück kalter Pizza mit Doppelkäse aufgegessen habe, nachgespült mit dem Rest vom Riesling, höre ich in mich hinein und von dort signalisiert man mir, ich sei müde. Dem kann ich nicht widersprechen und folge meiner inneren Eingebung, indem ich ins Bett gehe.
Insgeheim bin ich ganz froh, nicht übermäßig ausgelassen gewesen zu sein, dann finde ich morgen früh wenigstens kein lästiges Konfetti im Bett! Ich wälze mich noch etwas herum und muss dann eingeschlafen sein, denn irgendwann wachte ich auf. In der Zwischenzeit, zwischen Einschlafen und Erwachen, muss etwas Seltsames passiert sein. Ich fand mich wieder, inmitten einer Fastnachtssitzung. Ich saß da, in meinem Frotteeschlafanzug, umringt von lustig kostümierten Menschen, die sich nicht weiter an meiner Aufmachung zu stören schienen. Wie ich dort hinkam weiß ich nicht, dankte aber innerlich Gott auf Knien dafür, dass ich gewöhnlich nicht nackt schlafe. Gerade wurde der Narrhallamarsch gespielt und ein lustiger Redner betrat die Bühne und stellte sich in die Bütt. Er hatte noch nichts gesagt, noch nichts gemacht, doch das Publikum tobte bereits und ich mit.
„Uiuiuiui Auauau!“, sang der ganze Saal und hakte sich schunkelfreudig ein. Anfangs rammten von beiden Seiten Ellenbogen sich in meine Flanken, bis ich den richtigen Schunkelrhythmus heraus hatte und meine Schmerzen waren wie weggeblasen. Den Text des Liedes hatte ich mir schnell merken können und stimmte begeistert mit ein.
Dann begann der Redner aufzusagen, was er sich im Vorfeld zusammengereimt hatte und bei jedem Tusch der Kapelle, lachte ich. Und das nicht irgendwie pflichtschuldig, sondern aus ganzem Herzen. Plötzlich sprang ich sogar auf, stellte mich bei einem besonders gelungenen Witz auf meinen Stuhl und animierte das närrische Volk mir musikalisch zu folgen und stimmte in ein:
„Uiuiuiui Auauau!“
Augenblicklich folgte mir der ganze Saal und verwandelte sich in einen wahren Hexenkessel.
Dann wachte ich plötzlich auf. Verwirrt stellte ich fest, ich lag in meinem Bett. Ich muss wohl einen Traum gehabt haben, indem ich aufgewacht war. Es war ein sehr schöner Traum und ich beschloss, nach der nächsten Fernsehfastnachtsitzung, nackt zu schlafen, dann wird es sicher beim nächsten Mal noch wesentlich lustiger.

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