Es gehört sicherlich zu den schmerzlichsten Erfahrungen des menschlichen Miteinanders. Die Trennung. Besonders die, zweier sich Liebender, denen, zumindest einseitig die Liebe abhandengekommen ist. Die Trennung von Müll ist da weitaus einfacher und weniger emotional.
Wenn es sich bei den Liebenden um eine lockere Verbindung handelt, ohne rechtliche Verpflichtung, ist es noch einfach. Da genügt schon, ein einfacher Zettel neben das Bett zu legen, aus dem man sich gerade leise entfernt hat, nachdem man einem Abschiedsbeischlaf beigewohnt hat, auf dem klar und deutlich vermerkt ist: „Bin weg. Du brauchst nicht zu warten.“
Da weiß dann der oder die Verlassene bescheid und braucht das Frühstück nur für sich zu richten. Diese Rücksichtnahme sollte jeder, der verlässt, der zu verlassenen Person angedeihen. Denn merke: Ein zweites Frühstücksei macht keinen Sinn, denn eine Verlassene leidet und verspürt wenig Appetit. Und ein aufgewärmtes Ei am nächsten Morgen kalt zu essen, wird nur an den Verlassenen erinnern. Das Ei vom Vormittag des Verlassens hingegen aufzuwärmen, ist wie eine Beziehung wieder aufleben zu lassen, die bereits abgehakt war. Ihm fehlt es an Frische.
Man kann daher den gutgemeinten Rat geben, halten sie eine Verbindung, die ohnehin meist nur aus einer sexuellen Not heraus erwachsen ist, möglichst offen. Ein lockeres und Unverbindliches tête-à-tête ist einer Ringverbindung stets vorzuziehen, auch schon wegen der Teuerungsrate beim jubilierenden Juwelier, dem Herrn der Ringe.
Kosten und Nutzen stehen ohnehin in keinem Verhältnis. Dies umgeht man einfach, indem man es bei einem Verhältnis belässt. Da kann man dann kommen und gehen, wann man will. Wobei jedoch das Kommen im Vordergrund des Interesses liegt, außer man lässt sich gehen, aber dann ist eh nichts mehr zu retten.
Ist man jedoch in der misslichen Lage und hat in einer Übersprunghandlung einmal an der falschen Stelle „Ja“ gesagt, dann erschwert dies nur unnötig den Rückschritt in die Freiheit. Denn hier wird die kostengünstige Steuerklasse III, ein großzügiges Hochzeitsgeschenk des Staates, einem wieder entzogen. Dies gilt für beide Teile.
Sowohl die verlassende, als auch die zu verlassene Person trifft dieses Schicksal gleichermaßen. Der Staat bestraft ungerechterweise beide Parteien. Dem Staat ist also an einer Trennung sehr gelegen, da er so höhere Einnahmen generieren kann, die er in noch unsinnigere Projekte stecken kann, die meist wegen schlechter Gesetzesvorhaben, im Nirwana der Steuerverschwendung versickern. Der Staat, das sind die Vertreter. Vertreter des Volkes. Aber mal ehrlich, wer lässt schon einen Vertreter, der an der Tür klingelt, herein. Die meisten lungern seit Jahrzehnten da herum. Viele, direkt von der Uni an die Futtertröge der Macht. Sie bilden das Volk ab, bilden sie sich jedenfalls ein. Demnach wären wir ein Volk von Voll- und Halbjuristen.
Abfallentsorger, Bäcker, Prostituierte oder exkommunizierte Priester finden sich dagegen kaum.
Dabei könnten gerade die den Laden ordentlich aufmischen. Gerade die Ministerien werden von ungelernten Kräften dominiert. Wäre es nicht revolutionär, wenn statt parteipolitischem Proporz, Frauenquote und sonstigen Kriterien, die Ämter mit Fachleuten besetzt, die etwas von der Materie verstehen? Ich weiß, es ist Wunschdenken, ein Traum, aber darf man nicht auch einmal träumen. Da schwören die am Anfang ihrer hoch dotierten Diäten Schaden vom deutschen Volke abzuwenden, was sich oft als Meineid erweist, der jedoch niemals strafrechtlich verfolgt wird. Wo bleibt die persönliche Haftung für Missmanagement?
Würden sie leistungsbezogen bezahlt werden, müsste so mancher wohl amtlicherseits aufstocken.
Theoretisch müsste, wenn man den Wahlergebnissen folgt, ein Nichtwähler Bundeskanzler werden, denn diese Gruppe ist seit Jahren die stärkste Kraft.
Leider werden sie und das ist politisch so gewollt, einfach ignoriert. Auf Wahlzetteln sucht man vergeblich nach ihnen. Ihre Wahlmöglichkeit ist nicht gegeben, weil ihre Hilfe die Parteien nicht wünschen. Das ist unterlassene Hilfeleistung. Zudem ist der Begriff „Diäten“ unzutreffend. Bei Diäten nimmt man bestenfalls ab. Und bei Politikern nehmen sie automatisch zu. Ein leistungsbezogenes Gehalt wäre das einzig richtige. Doch da sträuben sich unsere Parlamentarier, denn nicht wenige gerieten in die Armutsfalle. Es wäre wahrscheinlich die einzige Chance, die Armut zu überwinden, weil sie sich dann massiv dafür einsetzen würden, diese zu überwinden. Weil es sie ja dann selbst betrifft.
Armut ist ja nur zurückzuführen auf das armselige Handeln des Staates. Bloß weil man in einem Fachausschuss sitzt, ist man noch lange kein Experte. Nicht jeder der im Verkehrsausschuss sitzt, hatte schon welchen. Nach jeder Wahl bläht sich der Bundestag immer weiter auf. Mein Vorschlag dazu, stellt in den Plenarsaal nur die gesetzlich vorgesehenen 598 Stühle hin. Auf Dauer werden die, die keinen Platz bekommen, das Herumstehen satthaben und von selber gehen. Jedenfalls hege ich diese Hoffnung. Ich bin mir sicher, niemand wird sie vermissen.
Doch dies ist nur eine kleine Episode, die der Erbauung und des Nachdenkens dienen soll über unsere Diener des Volks. Doch kehren wir nicht nur vor der eigenen Tür, kehren wir zurück zu den oft schmerzhaften Trennungen, die manchmal hysterisch, manchmal mit Androhung des Auftrennens der eigenen Pulsadern, kommentiert werden.
Dabei würde doch ein Verständnisvolles: „Ach“ oder  etwas Ausführlicher: „Was ein Glück. Eben habe ich gerade das Bett neu bezogen.“ In letzterem Falle kann man davon ausgehen, dass ein großes Drama ausbleibt. Jedoch was den ersten, den sehr emotionalen Ausbruch betrifft, kann man da nicht so sicher sein.
In einem so harmlos daherkommenden „Ach“ kann so viel mehr stecken. Von tiefer Verwunderung, über Verzweiflung, bis hin zu Verlustängsten. In jedem Fall steckt dahinter ein „V“, weshalb es eigentlich „Vach“ heißen müsste. Aber vermutlich wurde das „Ach“ von jemandem erfunden, der weder verlassen wurde, noch verlassen hat. Was für ein glücklicher Mensch! Denn gerade Dramen mit Damen sind sehr langwierig. Dies weiß ich aus schmerzhafter Erfahrung mit einer mir geläufigen Dame, der ich den Beinamen Klammeraffe gegeben habe. Eigentlich müsste es ja Klammeräffin heißen, wegen der Weiblichkeit ihres Geschlechts, aber sie war mehr Kerl als Frau. Das offensichtlich Männliche an ihr, sah ich jedoch erst am nächsten morgen, denn in der Diskothek war es recht dunkel. Deshalb habe ich auch Klage gegen den Betreiber eingereicht, wegen Vorspiegelung falscher Versprechungen. Im Lokalblatt wirbt er mit dem Slogan: Die schönsten Mädchen gibt es nur bei uns.
Das einzig wirklich Männliche an der von mir herausgefischten Frau war, ihr Damenbart. Darauf kann so mancher Mann voller Neid schauen. Leider sorgte er bei mir für körperliche Probleme, indem ich mir an ihr die Lippe aufriss. Drei Tage lang konnte ich keine Heißgetränke zu mir nehmen. Dies führte bei mir nicht nur für Unmut, sondern auch zu dem Wunsche einer endgültigen Trennung. Dies wollte ich im gegenseitigen Einvernehmen erreichen, biss jedoch bei ihr auf Granit. Ich konnte ihre Haltung sogar nachempfinden, denn jemanden wie mich, den lässt man nicht so leicht ziehen. Das schmeichelte mir zwar, doch ließ ich mich von meinem Vorhaben nicht abbringen.
Denn im Gegensatz zu mir konnte sie nichts in die Waagschale werfen, was für sie sprach. Zunächst sandte ich ihr eine email, in der ich ihr die Trennung bekanntgab und bat um eine Bestätigung ihrerseits. Denn falls die email versehentlich im Spamordner landen sollte, würde sie ja nie erfahren, das Schluss ist. Da keine Rückmeldung erfolgte, sah ich mich gezwungen, auf ein Altes, aus der Mode gekommenes Werkzeug zurückzugreifen, was jedoch mit Kosten verbunden war. Ich schrieb ihr einen Brief, der ihr postalisch per Einschreiben mit Rückschein zugestellt wurde. Damit war ich auf der sicheren Seite. Er kam jedoch zurück mit dem Hinweis, Annahme verweigert.
Damit dachte sie wohl, einen geschickten Schachzug gemacht zu haben.
Auf diese Weise ignorierte sie einfach den Inhalt und glaubte weiterhin, wir seien fest zusammen. Damit hatte sie weiterhin das Recht mich, falls wir uns zufällig einmal über den Weg laufen sollten, mich in der Öffentlichkeit zu küssen, da sie ja von der Trennung nichts wusste. Dies besorgte mich sehr, aber mir waren die Hände gebunden, solange ich nichts Schriftliches von ihr in Händen hatte, was rechtsgültig war. Es war zum Verzweifeln mit der Frau. Ich hatte bereits die Stadt verlassen und war aufs Land gezogen, nur um sicherzugehen, ihr nicht zu begegnen, denn ein Lippenaufriss war mir genug. Doch die rechtliche Unsicherheit brachte mich um den Schlaf und eines Tages, es müssen so drei bis vier Monate ins Land gegangen sein, entschloss ich mich zum Äußersten. Ich rief sie an. Das heißt, um es zu präzisieren, ich ließ anrufen. Denn ich befürchtete, wenn sie meine Stimme hört, die sie als sehr erotisch einmal beschrieb, würde die gelöschte Flamme der Leidenschaft wieder auflodern.
Also bat ich meine Mutter, die eine langjährige Vertraute ist, ihr meinen Entschluss mitzuteilen. Meine Mutter hatte die nötige Strenge und Entschlossenheit. Sätze von ihr wie: „Du bleibst heute Abend zuhause.“, oder „Du gehst jetzt ins Bett!“, waren mir unvergessen und wiesen sie als durchsetzungsstark aus. Noch heute habe ich angst vor ihr und tue was sie sagt. Ich erklärte ihr die Lage und Mutter war ebenso entrüstet über das Verhalten der beinah Schwiegertochter, dass sie im Beisein von mir, nach dem Hörer griff.
„Du Flittchen. Stalkerin. Du schamloses Ding.“, begann Mutter betont sachlich. Im Tonfall freundlich, aber hart in der Sache.
Währenddessen massierte ich ihr die Schulter, damit sie möglichst locker blieb und ich eine Beschäftigung hatte. Denn nichts ist schlimmer, als untätig herumzusitzen, wenn es um das eigene Schicksal geht.
Jetzt birgt so ein Telefongespräch natürlich ein Problem. Zwar konnte ich hören, was Mutter ihr sagte, aber nicht was meine ehemalige Zukünftige, ihr entgegenzusetzen versucht. Entsprechend nervös hörte ich gebannt zu und reimte mir zusammen, was sie wohl sagen könnte, entsprechend dem, was Mutter ihr sagte.
„Hör zu Mädchen, lass meinen Jungen in Ruhe.“
So ist meine Mutter, selbst jetzt noch, mit dreiundvierzig bin ich ihr kleiner Junge. Dafür alleine liebe ich sie.
„Heulen bringt ihn dir auch nicht zurück.“
Offenbar nahm sie die Nachricht emotional mit. Ich war eben etwas Besonderes für sie.
„Er will und braucht dich nicht. Er hat ja mich. Nur eine Mutter weiß und versteht ihren Jungen.“
Mutter ließ keine Zweifel aufkommen und machte ihr auch keinerlei Hoffnungen auf einen Neubeginn. Ich zeigte ihr demonstrativ beide Daumen nach oben. In einer so heiklen Mission stand ich ihr zur Seite. Ich war mächtig stolz auf sie, denn niemand konnte so gut Schluss machen wie sie. Mein Vater, der hätte wahrscheinlich mitgeheult. Zum Glück habe ich ihn nie kennengelernt. Er ist für mich nur eine Nummer in der Samenbank, wo Mutter mich herhat.
„Eine anständige Frau braucht keinen Mann.“, hat sie mir anlässlich meiner Kommunion gesagt.
Sie ist eben eine gottesfürchtige Frau. Was Maria konnte, kann meine Mutter schon lange.
„Was? Nein!“, waren die letzten Worte, ehe Mutter auflegte und mir eine Ohrfeige versetzte, die sich gewaschen hatte. Jetzt, nachdem es dreißig Jahre ohne ging, verfiel sie wieder in ihr altes Muster.
„Aber Mutter!“, sagte ich überrascht und rieb mir die glühende Wange.
Ich war noch nie ein glühender Anhänger dieser Form mütterlicher Liebe, nahm es aber stets widerspruchslos an, um sie nicht zu erzürnen.
„Sag nicht Mutter zu mir“, herrschte sie mich, wie in ihren besten Zeiten an, „sag Oma!“
Da musste ich aber köstlich lachen über den gelungenen Aprilscherz im Mai. Dieser kleine Gefühlsausbruch brachte mir eine zweite Ohrfeige ein, die ich nicht kommen sah, sonst hätte ich mich aus der Schusslinie gebracht. Mir schwante, der Scherz war wohl doch kein Scherz. Auch die Verfinsterung in Mutters Gesicht, die eher einem trüben Novembertag ähnelte, ließ nichts Gutes verheißen.
„Vierundsiebzig Jahre lang war ich sexuell enthaltsam und dir ein gutes Vorbild. Und was ist der Dank? Du schwängerst die erste Dahergelaufene, zu der ich nicht die Zustimmung erteilt habe. Du bist eine einzige Enttäuschung.“, warf sie mir vor und unterstrich ihre Haltung, indem sie in tränen ausbrach. Ob es Freudentränen oder welche in Sorge um mich waren, ließ sich nicht feststellen.
„Wir sprechen uns morgen.“, waren ihre letzten Worte, ehe ich ohne Abendessen ins Bett musste.
Ich verbrachte eine unruhige Nacht in meinem ehemaligen Kinderzimmer. Am nächsten Morgen betrat ich vorsichtig die Küche.
„Möchtest Du einen Kakao?“, fragte Mutter, in einer Mischung aus mütterlicher Besorgnis und tiefer Enttäuschung über den Erst- und Einziggeborenen.
„Kaffee wäre mir lieber.“, sagte ich zaghaft, denn ich fürchtete um ihren wiedererwachten Handreflex.
„Hast Du dir die Hände gewaschen?“, fragte sie, ohne auf meinen Kaffeewunsch einzugehen.
Kakao war wohl die Strafe, die sie für mich vorgesehen hatte und ich wagte nicht, erneut darauf hinzuweisen.
So war es denn auch der Erste, den ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren zu mir genommen hatte. Es war eine harte Strafe, die ich, Schluck für Schluck, akzeptieren zu hatte.
Unterdessen machte mir Mutter ein Marmeladenbrot und schnitt es mir in kleine Vierecke, zum leichteren Verzehr. Sie konnte eben nicht aus ihrer Haut, in die sie hineingeboren wurde. Es war noch dieselbe Haut, wie bei ihrer Geburt, die erstaunlicherweise, mehr als üblicherweise, sich als äußerst dehnbar erwies. Ich genoss die Rundumversorgung, die Mutter mir angedeihen ließ. Ich sah sie an und lächelte. Grund dazu hatte ich keinen, denn noch stand da das gestrige Thema noch im Raum. Doch Mutter tat, als ob nichts wäre. Das beunruhigte mich, denn diese Taktik war mir noch gut vertraut, denn immerhin lebten wir früher zusammen. Wenn es nach mir ging, könnte es auch so bleiben, aber ich befürchtete, sie ließ es nicht einfach auf sich beruhen.
„Iss deinen Teller auf.“, ermahnte sie mich, als ich mich dem letzten Marmeladenbrotquadrat verweigern wollte. Brav tat ich es, ohne zu murren. Mit Murren hatte ich noch nie Erfolg bei ihr. Ihr Wille war schon immer Gesetz. Gesetzt den Fall, ich war mal bockig, hat es meist was gesetzt. Soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Da überfresse ich mich lieber.
Aber bis auf das notwendige Erzieherische schwieg Mutter. Das versetzte mich in Alarmbereitschaft, denn der befürchtete Tsunami, den sie auszulösen jederzeit im Stand war, wurde meinerseits minütlich erwartet. Ich sah panisch in das Auge des Orkans, dessen Vorboten sich bereits ankündigten.
„Ich mache dir noch einen Kakao.“, stellte sie fest und erhob sich vom Tisch.
„Danke.“
Meine Stimme bebte und mein Magen rebellierte, seit er erfuhr, dass er laktoseintolerant war.
Auch soll er Fructose meiden. Doch einer selbstgemachten Marmelade eine Abfuhr zu erteilen, dass würde Mutter frühzeitig ins Grab bringen.
Sekundenlang überlegte ich, ob das die Sache nicht vereinfachen würde und so elegant dem Tsunami zu entgehen.
Ich entschloss mich jedoch schweren Herzens dagegen, denn dann ginge ein Behördenmarathon und Formularkrieg los. Zum einen bin ich kein ausdauernder Läufer und zudem noch Pazifist. Außerdem konnte ich nicht verantworten, wenn nächsten Muttertag die Blumenindustrie Umsatzeinbußen wegen mir hat und dann eine Entlassungswelle auslöst. Die Weltwirtschaft auf dem Gewissen zu haben, könnte ich mit meinem nicht vereinbaren. So ließ ich den Plan lautlos fallen und legte mein Schicksal ganz in ihre mütterlich ausgewogene Hand.
„Es wird schon richtig sein, was sie entscheidet.“, sagte ich mir, in suggestiver Lautlosigkeit, selbst zur Motivation.
Ihr schweigen war kaum noch auszuhalten. Ich setzte zwar das Meinige voll dagegen, in vollem Bewusstsein, diesen Kampf in letzter Instanz zu verlieren. Ein erstes Mundwinkelzucken, unheiliger Vorbote des Unausweichlichen, verkündete die Ankunft dessen, was da auf mich zurollen sollte. Ich war aufs Ärgste angespannt. Zunächst jedoch war es nur ein Zucken ohne Konsequenz. Bei näherer Betrachtung vermutete ich, die Ursache des Zuckens lag in einem Brotkrümel begründet, der sich unrechtmäßig im Mundwinkel eingenistet hatte und durch das Auslösen des Zuckens zur Aufgabe gezwungen werden sollte. Doch das Zucken bewirkte genau das Gegenteil. Je stärker es zuckte, desto krampfhafter hielt sich der Krümel fest. Die Runzeln um den Muttermund, eine Folge ihres Alters, war die perfekte Brutstätte und bot dem Brot sicheren Halt. Der Rest von Mutters Körper, insbesondere sind hier die Hände zu benennen, schienen davon nichts mitzubekommen oder aber sie ignorierten den Krümel einfach und taten ihn als Bagatelle ab. Mit großer Besorgnis nahm ich diese Entwicklung zur Kenntnis, die mir schmerzlichst vor Augen führte, Mutter wird alt. Ihr müder Körper, der nur noch unkoordiniert dahinvegetiert, wird zu einem unkalkulierbaren Risiko. Für mich, für ihre Umwelt und eine Belastung für unser Sozialsystem. Ich musste für mich erkennen, der lange Weg des Abschied nehmens hatte begonnen. Die einzige Frau, deren Ohrfeigen ich respektierte und duldete, auf dem besten Wege Staub zu werden. Es trieb mir die Tränen in die Augen, etwas, was sonst nur ein frisch zubereitetes Zwiebelmettbrötchen bei mir auslöst. Ich sah mir die alte, dem Tode geweihte Frau noch einmal genau an, um mir so ihr Gesicht besser zu merken, damit sie in der Erinnerung in mir weiterleben kann.
„Möchtest Du nicht noch was sagen?“, erkundigte ich mich vorsichtig und in sehr sensibler Weise, wie es eigentlich ganz gegen meine Natur ist.
Sie sah mich überrascht an, denn noch nie hatte ich einen solchen Vorstoß mir erlaubt.
„Was Bestimmtes?“, entgegnete sie, in der ihr berüchtigten misstrauischen Weise.
„Ach nee. Nur so. Vielleicht eine Lebensweisheit oder etwas was Dir auf der Seele brennt.“, versuchte ich, ihr alle Optionen offenzuhalten, damit sie nicht den Eindruck bekommt, ich wüsste bereits, was ihr bevorsteht.
Dabei versuchte ich möglichst ungezwungen zu wirken und ihr nicht zu vermitteln, wie viel Trauer jetzt schon sich in mir aufgestaut hatte.
„Also nichts Bestimmtes?“, hinterfragte sie erneut und ich befürchtete bereits, sie könnte bereits etwas ahnen.
Mütter ahnen ja immer etwas, selbst da, wo es nichts zu Ahnen gibt. Mit ihren unsichtbaren Antennen erspüren Mütter Dinge, die erst noch passieren.
„Nein nichts Bestimmtes.“, log ich sie an, nur aus reinem Selbstschutz, mir und ihr gegenüber.
„Ich weiß nichts.“
Erleichtert nahm ich dieses an, im Bewusstsein, diese Aussage würde mir in meinem weiteren Leben sicher noch gute Dienste leisten.
Damit war ich mehr als zufrieden und ich drängte sie nicht weiter, mir noch andere Sätze der Erbauung mit auf den Weg zu geben.
Ich nahm gedankenverloren einen Schluck nach dem anderen von ihren Kakao, den sie eigens für mich zubereitet hatte, mit viel homogenisierter Milch und noch mehr mütterlicher Liebe.
Zwar konnte unser aufklärerisches Vieraugengespräch die Spannung, die in der Küche herrschte, nicht vollkommen zerstreuen, aber es war dennoch eine Wohltat, den Anfang gemacht zu haben. Und so genoss ich die letzten Stunden, die einen langen Weg markierten, den wir miteinander gegangen waren und an der nun eine Weggabelung stand, wo ich rechts und sie links gehen mussten.
Ausgerechnet in dem Moment, wo wir uns so nah wie nie zuvor waren, schrillte die Türglocke erbarmungslos, die extra an der Tür angebracht war, falls jemand zu Besuch kommt. Mutter erhob sich mühsam und ging hin, denn Neugierde war eines ihrer höchsten Tugenden.
Wenig später kehrte sie, ohne die von mir vermutete Post zurück. Im Nachhinein betrachtet, wäre die mir jedoch weitaus lieber gewesen als das, was sie da im Schlepptau hatte. Eine mir nicht näher bekannte junge Frau folgte ihr und ohne Rücksprache mit mir zu halten, bot Mutter ihr einen Platz am Tisch an.
Die junge Frau betrachtete mich, als würde sie mich kennen und so als wäre ihr diese Begegnung nicht in bester Erinnerung.
Dann sprach Mutter und die von ihr gewählten Worte, brachten etwas Licht ins Dunkel. Daraufhin sah ich sie mir etwas genauer an und irgendwas in mir schrie: „Die kenne ich doch.“
Nur woher, wollte mir partout nicht einfallen oder hatte ich eine flüchtige Begegnung mit ihr verdrängt, weil es unangenehme Erinnerungen wachrüttelt?
„Jetzt sprechen wir über das Kind.“, erklärte Mutter in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Jetzt lüftete sich langsam der graue Schleier der Erinnerung. Es war die Frau, die mir ein Kind zu schenken im Begriff war. Ich hatte sie mir nie so genau angesehen, sonst wäre ich gleich auf sie gekommen.
„Ach Du bist das.“, rief ich wenig erfreut, wohlwissend, das nun eine schwere Zeit auf mich zukam.
„Ich habe sie für nach dem Frühstück eingeladen, um diese leidige Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.“, erklärte Mutter ihre einsame Entscheidung.
Meine Freude darüber hielt sich in engen Grenzen. Denn ich befürchtete, dieses anstehende Gespräch könnte sich wegweisend für mich in eine Richtung einschlagen, die ich nicht für sonderlich erstrebend sah. Und ich sollte recht behalten. Jedoch wäre ich froh gewesen, einmal nicht recht zu bekommen, doch Mutter ließ mir diesbezüglich keine Wahl. Mutter hatte sich diese Aussprache in den Kopf gesetzt und es stand mir nicht an, ihr diesen letzten Wunsch zu versagen. Jetzt, wo ihr Tage gezählt waren, wollte sie noch rasch in den Genuss eines Omastatus gelangen. Doch genau dieses Ziel schien sie zu verfolgen, wofür ein einziger Satz stand, den sie aussprach.
„Ich freue mich auf mein Enkelkind.“
Mehr sagte sie nicht. Mehr musste sie auch nicht sagen, denn als zukünftiger Hinterbliebener wusste ich, was zu tun war.
Und so kam es, wie es kommen musste. Wir heirateten, wenn auch gegen meine innere Überzeugung. Das Kind kam und es folgten zwei weitere. Mutter verschob ihre große Reise noch um Jahre.
In der Nachbetrachtung kann ich feststellen, Mütter wissen, was gut für ihre Kinder ist und setzen sich massiv für deren Glück ein, selbst gegen deren Willen. Manchmal muss man eben zu seinem Glück gezwungen werden. An eine Trennung dachte ich nicht mehr. Jedenfalls nicht, solange Mutter unter uns weilt.
Und das tut sie in besonderem Maße, da sie bei uns eingezogen ist und über uns mit Argusaugen wacht. Sollte sie dennoch eines Tages uns verlassen, woran ich nicht mehr glaube, würde ich einen erneuten Trennungsversuch starten.
Aber ich befürchte, Mutter ist unsterblich.

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