Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) The Cruel Social Experiment of Reality TV
„White Bear“ ist eine Folge von Black Mirror, die die Medienphänomene des 21. Jahrhunderts thematisiert, wie die passive Konsumation grausamer Spektakel und öffentliche Demütigung. Eine Frau wird gefangen gehalten und für ein Verbrechen bestraft, an das sie sich nicht erinnern kann, während Zuschauer ihr Leiden bejubeln. Dieses Thema wird in der Dokumentation „The Contestant“ über einen japanischen Comedian, Nasubi, weitergeführt. Er wurde 15 Monate nackt in einem Raum eingesperrt und musste durch das Gewinnen von Preisen überleben. Sein Leiden, ohne sein Wissen gefilmt und ausgestrahlt, erinnert an ähnliche grausame Experimente in der Fernsehgeschichte. Nasubi wurde als Teil eines „menschlichen Experiments“ misshandelt, das die düsteren Seiten der menschlichen Natur enthüllen sollte. Diese Art von Reality-TV, die menschliche Grenzen testet und das Publikum unterhält, hat eine lange Geschichte, angefangen bei „Candid Camera“ bis hin zu modernen Shows wie „Big Brother“. Trotz moderner ethischer Standards basiert Reality-TV immer noch auf der Schaffung absurder Situationen zur Unterhaltung der Zuschauer. (Sophie Gilbert, The Atlantic)
Diese Reality-TV-Shows fand ich schon immer unerträglich. Das fing schon bei Big Brother an, und das war ja echt ein super harmloses Format (gepflegte Langeweile, die nur durch den Neuigkeitswert interessant war) und ging dann bald in Richtung dieser Shows, die ständig Streit provozierten, um Leute bloßzustellen. Man denke nur an "Frauentausch", "Supernanny" und Co. Die Ausbeutung, die in diesen Dingern abläuft, wäre in jedem anderen Setting dermaßen verboten, dass die Verantwortlichen in den Knast kommen würden, eine Ausbeutung sowohl auf der psychischen Ebene als auch auf der materiellen. Der letzte Aspekt hat mich immer besonders beeindruckt. Die Leute, deren Leben da zerstört wird, haben nicht mal was davon, weil RTL und Co so billig sind, dass si ihre Kosten teilweise auf die Opfer ausgelagert haben. Und da sind wir noch nicht mal bei der ethischen Dimension. Wenn es ein Argument gegen Privatfernsehen gibt, dann diese Art von Show.
2) It’s a Climate Election Now
Donald Trump hat bei einem Dinner mit Öl- und Gasmanagern in Mar-a-Lago angeboten, die Klimaregeln von Präsident Biden im Gegenzug für eine Milliarde Dollar an Wahlkampfspenden aufzuheben. Trump ist bekannt für seine Bereitschaft zu Geschäften und seine Treue zur fossilen Brennstoffindustrie. Seine Anfrage überraschte die Manager, da er bereits angekündigt hat, die Biden-Politik zu beenden und verstärkt auf fossile Brennstoffe zu setzen. Obwohl Trump im Umfragen leicht führt, steht seine Wiederwahl nicht fest. Dies gibt ihm einen gewissen Druck, die benötigten Mittel zu sichern. Die Wahl fällt in eine kritische Phase des Klimakampfs, da die Technologien für eine nachhaltige Energiewende bereitstehen. In Kalifornien haben erneuerbare Energien und Batteriespeicher kürzlich über 100 % des Strombedarfs gedeckt, was zeigt, dass der Wechsel weg von fossilen Brennstoffen möglich ist. Falls Biden eine zweite Amtszeit gewinnt, könnte er die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen weiter reduzieren und deren politischen Einfluss brechen. Trump hingegen könnte durch extreme Maßnahmen wie Geoengineering die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen fortsetzen und die Klimakrise verschärfen. (Bill McKibben, New York Magazine)
Ich finde es immer wieder krass, was für ein kategorialer Unterschied zwischen den Republicans und den deutschen Bürgerlichen besteht. So sehr ich auch Positionen wie den Widerstand gegen das Verbrennerverbot kritisiere und es für kontraproduktiv halte, in Deutschland streiten wir um den besten Weg, um die Klimakrise zu bekämpfen. Die Republicans wollen den Planeten brennen sehen. Deswegen habe ich auch keine Geduld, wenn etwa Friedrich Merz mit Trump verglichen wird oder so Blödsinn. Das ist nicht annähernd vergleichbar. Tatsächlich wäre es für uns alle eine Katastrophe, wenn Trump siegt, und zwar allein aus Gründen der oben genannten Politiken. Dazu kommt (vergleiche auch mit Resterampe j)), dass die Aussicht auf einen radikalen politischen Kurswechsel alle vier Jahre nicht eben dazu angetan ist, irgendwelche vernünftigen Richtungsentscheidungen zu treffen. Da braucht es ein wenig mehr Planbarkeit. Das gilt natürlich auch für Deutschland.
3) The Schools Where the Western Canon Is King
Eine Klasse von 15 Schülern in Phoenix, Arizona, debattierte über Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" und die Ehrlichkeit von Miusov und Fjodor. Diese Klasse ist Teil des "Humane Letters"-Programms an der Great Hearts North Phoenix Schule, die sich der klassischen Bildung verschrieben hat. Diese Schule, Teil eines Netzwerks von 42 klassischen Charter-Schulen, legt großen Wert auf klassische Literatur und humanistische Bildung, um "Wahrheit, Güte und Schönheit" zu fördern. Das klassische Bildungssystem erlebt eine Renaissance, getrieben von konservativen Gruppen, die sich gegen progressive Bildungspolitik stellen. Diese Schulen, einschließlich Great Hearts, verwenden einen rigiden, auf westliche Klassiker fokussierten Lehrplan. Kritiker werfen ihnen kulturelle Voreingenommenheit und politische Agenden vor. Insbesondere mangelt es an Literatur von nicht-westlichen und diversen Stimmen. Der Erfolg dieser Schulen liegt auch in ihrer akademischen Strenge, die zu überdurchschnittlichen SAT-Ergebnissen und hohen College-Einschreibungsraten führt. Doch es gibt Kontroversen um ihre politische Ausrichtung und den Umgang mit LGBTQ+ Themen. Trotz der Betonung auf eine offene Suche nach Wahrheit scheinen die Schulen oft ihre eigenen, festen Vorstellungen davon zu haben. (Kiera Butler, Mother Jones)
Bei dem Ursprungsartikel handelt es sich um eine lange, insgesamt sehr lesenswerte Reportage, die ich nur empfehlen möchte - und die vermutlich für das Verständnis der folgenden Kommentare erforderlich ist.
Für manche vielleicht überraschend bin ich durchaus angetan von humanistischen Bildungsstrukturen. Die Argumente, die die Befürwortenden dieser Schulen im Text anbringen, finde ich völlig richtig. Einerseits schult man an diesen Texten seinen Geist, andererseits bilden sie einen Kanon, der für die Orientierung in der westlichen Geisteswelt unerlässlich ist. Das gilt auch für Religion. Ich merke das im Deutschunterricht ständig; die Bibelkenntnisse der Schüler*innen sind so schlecht, dass die selbst offensichtliche religiöse Anspielungen (Kain und Abel etwa) nicht verstehen. Dadurch sind die alten Texte noch unverständlicher als ohnehin, das bedingt sich gegenseitig (und ich bin ständig damit beschäftigt, Religionsunterricht zu geben).
Gleichzeitig allerdings sind die Kritikpunkte an diesen Schulen ebenso vollkommen korrekt. Die Art, wie das in den genannten Institutionen umgesetzt wird, ist ideologisch. Was ja grundsätzlich okay ist, das sind ja Charter Schools. Das Problem ist, wie Ariane und ich letzthin im Podcast besprochen haben, die Behauptung, dass dem nicht so sei. Entweder ist es eine Lüge nach außen oder, schlimmer, ein sich-selbst-belügen. Wenn ich mir aber meiner eigenen Vorannahmen nicht bewusst bin, wird es schwer mit dem Bildungsziel des kritischen Denkens. Und die ans Reaktionäre reichende Ausrichtung dieser Schulen hilft da nicht weiter; die Erstarrung des Kanons ist real (seriously, im Artikel wird die Inklusion von "Watership Down" als progressiver Sieg beschrieben!).
Zuletzt haben wir das Problem aller solcher alternativer Strukturen: sie sind self-selecting, was bedeutet, dass sie nicht skalierbar sind. Die Vorstellung, eine Stunde lang mit Schüler*innen über Ehrlichkeit bei Dostojewski diskutieren zu können, treibt einem Tränen der Freude und des Neids in die Augen, aber das geht halt auch deswegen, weil die Schüler*innen aus entsprechenden Elternhäusern kommen und freiwillig da sind (die könnten ja auch in andere Schulen gehen). Die Vorstellung, dass ich eine beliebige öffentliche Schule auf die Art umgestalten könnte, ist leider völlig realitätsfern.
4) In which British writers scold America on trade
Der aktuelle Trend zu Protektionismus in den USA ist nun parteiübergreifend, wobei keine bedeutende politische Gruppierung gegen Zölle auf chinesische Waren ist. Dies könnte andere Länder dazu bringen, dem Beispiel zu folgen und zu einer weltweiten protektionistischen Handelspolitik führen. Diese Entwicklung stößt jedoch auf Kritik, insbesondere von britischen Medien wie "The Economist" und "Financial Times". Diese argumentieren, dass Protektionismus die Armen weltweit schädigt, den Handel und Investitionen hemmt und die Kosten für Konsumenten erhöht. Sie warnen auch vor den negativen Auswirkungen auf die grüne Energiewende und die nationalen Sicherheitskosten der Deglobalisierung. Diese Kritiken vernachlässigen jedoch den Hauptgrund für die Einführung von Zöllen und anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen: die nationale Sicherheit. Der Schutz und die Stärkung der heimischen Industrie sind entscheidend für die Verteidigungsfähigkeit der USA. Ohne eine starke industrielle Basis wäre es schwierig, in einem möglichen Konflikt mit China oder Russland zu bestehen. Die US-Politik zielt darauf ab, kritische Produktionskapazitäten zu erhalten und zu verhindern, dass China in strategischen Bereichen wie Halbleitern dominiert. Die britischen Kritiker ignorieren diesen Aspekt weitgehend und konzentrieren sich auf ökonomische Prinzipien ohne Berücksichtigung der Sicherheitsbedenken. Historisch gesehen hat Großbritannien selbst unter der Vernachlässigung der industriellen Kapazitäten gelitten, was seine Verteidigungsfähigkeiten im Zweiten Weltkrieg beeinträchtigte. Dies sollte eine Warnung für die USA sein, dass eine starke industrielle Basis unverzichtbar ist. Während die Effektivität der aktuellen US-Politik noch offen ist, erscheint ein Verzicht auf protektionistische Maßnahmen keine sinnvolle Option. (Noah Smith, Noahpinon)
Smith spricht ein weiteres Problem der intellektuellen Ehrlichkeit an: nicht nur muss man sich seiner eigenen ideologischen Prägung bewusst sein, man muss auch anerkennen, was die andere Seite eigentlich will. Tut man das nicht, argumentiert man immer gegen einen Strohmann. Und anders als wir hier in Europa hat die amerikanische Regierung tatsächlich einen strategischen Plan, den sie verfolgt. Man kann jederzeit darüber diskutieren, ob dieser Plan clever oder geeignet ist, sein Ziel zu erreichen, aber wenn man gar nicht anerkennt, dass es ihn überhaupt gibt, ist die ganze Diskussion völlig sinnlos.
Ich gehe davon aus, dass Smith (und in extensio Biden) Recht haben und dass wenig daran vorbeiführt, Produktionskapazitäten gegen China aufzubauen (und Russland). Unilateraler Freihandel kann nicht funktionieren, und wir sehen gerade um uns herum das Freihandelssystem der 1990er Jahre auseinanderbrechen. Ich bleibe dabei, dass dieses Auseinanderbrechen für uns als Konsumenten und Wirtschaftsteilnehmer negative Auswirkungen haben wird. Nur sehe ich nicht, wie wir das vermeiden sollen, weil Freihandel darauf beruht, dass alle mitmachen. Wir gehen vermutlich in eine neue Phase ökonomischer Blöcke, ähnlich wie im Ost-West-Konflikt, nur dass der Konkurrenzblock anders als die "zweite Welt" seinerzeit tatsächlich im Welthandelssystem mit konkurriert und nicht versucht, Autarkie zu erreichen und Planwirtschaft zu betreiben.
Peter Schulze, CEO von Gierlinger, einem Fleischverarbeitungsunternehmen in Oberösterreich, betont die wachsende Bedeutung von Convenience-Produkten in der Gastronomie. Mit vollautomatisierten Produktionsanlagen stellt Gierlinger jährlich Millionen von panierten Schnitzeln und Cordon Bleus her. Schulze argumentiert, dass diese Produkte qualitativ den frisch zubereiteten Gerichten in Restaurants gleichkommen und durch Effizienz Rohstoffe sparen. Schulze stellt fest, dass Tierwohl wichtig ist, aber viele Konsumenten nicht bereit sind, dafür mehr zu zahlen. Er plädiert für gesetzliche Unterstützung und betont, dass Bauern nicht die Leidtragenden sein sollten. In Osteuropa findet Gierlinger ausreichend qualifiziertes Personal, was in Österreich zunehmend schwieriger wird. Bezüglich der Zukunft des Fleischkonsums sieht Schulze großes Potenzial in tierfreiem Laborfleisch, das energie- und ressourcensparend hergestellt werden kann. Er erwartet, dass Zellfleisch in den nächsten fünf Jahren in Supermärkten erhältlich sein wird und plant, in diese Technologie zu investieren. Schulze glaubt, dass Laborfleisch die Landwirtschaft verändern, aber nicht bedrohen wird. (Verena Kainrath, Standart)
Aus ökonomischer Sicht kann ich Schulze völlig nachvollziehen. Seine Darstellung von "die Leute zahlen nicht 5 Cent mehr auf das Kilo, deswegen müssen Millionen Tiere leiden" ist so beiläufig und gleichzeitig so wahr, dass einem übel wird. Er legt auch mit der Unmöglichkeit europäischer Kooperation den Finger in die richtige Wunde: es wäre möglich, das anders zu machen, aber nur, wenn die Regulierung entsprechend ist. Da sehen wir ein Musterbeispiel für den Wert solcher Regulierung und Gesetzgebung: es wäre für alle besser, aber die Tragik der Allmende verhindert dieses Ergebnis. Stattdessen leiden Lebewesen. - Ich habe allerdings tatsächlich große Hoffnungen für Zellfleisch. Wenn wir es schaffen, das zu skalieren, lösen wir eine ganze Menge Probleme, übrigens auch klimatisch. - Gar nichts halte ich dagegen von Schulzes Aussage, dass "weniger Fleischkonsum allein das Klima nicht rettet". Ich hasse diese Art Argument. NICHTS rettet "allein" das Klima. Das ist so eine billige Ausflucht.
Resterampe
a) Joe Biden has been rock solid on Israel.
b) Ich bin mal bei Ulf Poschardt, wow.
c) Sitzenbleiben kann sich das Land nicht leisten.
d) Was ich immer wieder sage: die Rechtsradikalen können nur an die Macht kommen, wenn die Konservativen sie ihnen geben.
f) Bämm.
g) Zum Handelskrieg um eAutos.
h) Gott sei Dank gibt es die Klimakrise!
i) Saying the quiet part out loud.
l) In der Welt ist man überrascht, dass die SPD Wahlkampf betreibt.
m) Guter Artikel zum Geburtstag des GG.
n) Dieser Doppelstandard ist echt Wahnsinn.
Fertiggestellt am 28.05.2024
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