Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) »Kontakte zu Reicheren sind der entscheidende Faktor für den Aufstieg« (Interview mit Raj Chetty)

Chetty: Es gibt Faktoren, die ziemlich eindeutig sind: Erstens haben Kinder aus gemischten Nachbarschaften eine bessere Perspektive als solche aus Gegenden, wo die Armut sehr konzentriert ist. Zweitens schafft offenbar eine Heimat mehr Möglichkeiten, in der die Familienstrukturen stabiler sind. Gute Schulen sind wichtig – und dann, ganz entscheidend: Unsere Forschung hat ergeben, dass Gegenden mit höherem Sozialkapital bessere Aufstiegschancen bieten. [...] Und wir haben herausgefunden, dass »ökonomische Vernetzung« der entscheidende Faktor für wirtschaftlichen Aufstieg ist. Das heißt: Ein Kind aus ärmeren Verhältnissen hat viel bessere Chancen an Orten, wo es viele Kontakte zu einkommensstärkeren Schichten gibt. Kontakte zu Reicheren sind der entscheidende Faktor für den Aufstieg. (Nicola Abé, SpiegelOnline)

Das ist natürlich keine rasend neue Erkenntnis. Die soziale Segregation, die klare Trennung von Wohnvierteln nach Einkommen, ist ein lange bekannter Fakt. Ebenso ist schon lange bekannt, dass für die Entwicklung von Jugendlichen nichts so entscheidend ist wie ihre Peers, also ihre Freund*innen, Klassenkamerad*innen und so weiter. Unser Schulsystem sorgt - auch das ist spätestens seit PISA 2000 bekannt - aber massiv für eine Homogenisierung der Zusammensetzung, und nirgendwo verbringen Jugendliche auch nur annähernd so viel Zeit wie in der Schule. Wie man das Problem beseitigt, ist aber nicht ganz klar: das Klientel der Schulen rekrutiert sich eigentlich immer aus den umliegenden Wohngebieten, und die sind nun mal so strukturiert, wie sie strukturiert sind. Versuche, Durchmischung in Schulen zu forcieren, sind bislang nicht eben erfolgreich gewesen; man denke nur an das busing der 1960er Jahre. Aber solange man das nicht mitbedenkt, kann man noch so viele Sonntagsreden über Ungleichheit und den Wert von Bildung halten.

2) America Has Dictated Its Economic Peace Terms to China

It is telling that what seems to be intended as a reasonable and accommodating statement is, in fact, so jarring. China must accept America’s demarcation of the status quo. If it does not respect the boundaries drawn for it by Washington between harmless prosperity and historically consequential technological development, then it should expect to face massive sanctions. One must be grateful to Yellen for stating the point so clearly. But how on earth does Washington expect Beijing to respond? China is not Japan or Germany after 1945. In relation to the United States, if the question of “leadership” is posed, parity is the least that Beijing must aim for. The status quo that Treasury Secretary Yellen takes for granted clearly cannot be legitimate in the long run. As Beijing has said, it aspires to a fundamental reordering of world affairs such that American talk of leadership is retired forever. Nor is China the only major Asian power to share this view. India’s understanding is no different. [...] But it is hard to see how her vision, in which the United States arrogates to itself the right to define which trajectory of Chinese economic growth is and is not acceptable, can possibly be a basis for peace. If the United States is still interested in global economic and political order, and it surely should be, it must be open to negotiate peaceful change. Otherwise, it is simply asking for a fight. (Adam Tooze, Foreign Policy)

Die ganze Entwicklung zwischen China und den USA ist echt nicht eben dazu angetan, einen hoffnungsfroh in die Zukunft blicken zu lassen. Tooze spricht im Artikel immer wieder über die "Thukydides-Falle", also einen Krieg, der deswegen beginnt, weil eine Hegemonialmacht sich durch den Aufstieg einer anderen herausgefordert fühlt. In einem gewissen Ausmaß werden die USA einen chinesischen Machtzuwachs nicht vermeiden können. Hier bleibt nur die Hoffnung, dass die Supermacht bereit ist, den Aufstieg eines Rivalen halbwegs organisiert zuzulassen.

Gleichzeitig scheint mir aber "Eindämmung" durchaus das Schlagwort der Stunde zu sein. Ein Netz regionaler Allianzen und Versuche, diesen Ausbreitungsversuchen zu begegnen, erscheinen mir durchaus als die richtige Strategie, auch wenn jeder Einhegungsversuch natürlich immer das Risiko einer Eskalation beherbergt. Nur: es gibt nicht wirklich eine bessere Alternative, die ich sehen könnte. Denn ein völlig ungehemmt seinen Einfluss erweiterndes China kann schlicht nicht im Interesse des Westens sein, weder der USA, noch der EU, noch Deutschlands. Und es ist nicht eben so, als wäre die EU ein ernstzunehmender Player in der Region, egal wie oft Großbritannien und Frankreich eine Korvette durch die Straße von Taiwan schippern lassen.

3) Was passiert, wenn dir der Staat einen Job garantiert

Bisher haben alle Menschen, die arbeiten konnten und eine Arbeit angeboten bekamen, auch mitgemacht. Vielleicht nicht trotz, sondern wegen der freiwilligen Teilnahme. Langzeitarbeitslosigkeit gibt es jetzt nicht mehr in Gramatneusiedl, und der Preis dafür ist sogar geringfügig günstiger als das übliche Vorgehen des AMS bei Langzeitarbeitslosen. Dafür sind die Menschen laut der Studien aktiver und sozial vernetzter als zuvor, haben einen strukturierten Tag. Auch im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, einem Ort mit fast identischer Struktur und Eigenschaften, der so weitermachte wie bisher, entwickelten sich viele untersuchte Bereiche besser, vor allem das allgemeine Wohlbefinden [...] »Für Ökonomen überraschend ist, wie positiv sich die Arbeit jenseits dessen auswirkt, was das Geld an sich ausmacht«, sagt Maximilian Kasy. Lukas Lehner fügt hinzu: »Die stärksten positiven Auswirkungen hat es bei den sogenannten latenten Funktionen der Arbeit gegeben, also was die Zeitstruktur der Personen angeht, soziale Interaktionen mit Mitmenschen in der Gemeinschaft, ihre Aktivität im Tagesablauf, ihre psychosoziale Stabilität und ihr Wohlbefinden.« Punkte, die sich im Arbeitslosigkeit-Studienklassiker aus den 30er-Jahren in die negative Richtung bewegt hatten. (Benjamin Fuchs, Perspective Daily)

Für mich ist das ähnlich wie mit der Geschichte um Obdachlosigkeit: so wie das beste Mittel dagegen ist, den Leuten Obdach zur Verfügung zu stellen, so hilft es gegen Arbeitslosigkeit, Arbeit bereitzustellen. Die Annahmen über die Schlechtigkeit des Menschen, die gerade von liberal-konservativer und konservativer Seite dazu immer geäußert werden, lassen sich empirisch schlicht nicht halten. Wir hatten diese Diskussion letztes Jahr ja ausführlich, aber die Vorstellung, dass man mit Strafen agieren und die Leute zwingen muss, lässt sich einfach nicht totkriegen.

Dabei zeigen die Ergebnisse eigentlich viel Überlapp an dieser Stelle, denn dass regelmäßige Erwerbsarbeit viele positive Effekte hat, die sie für sich genommen erstrebenswert machen, ist ein Credo genau dieser Kreise, in dem sie in meinen Augen völlig richtig und viele Linke sehr falsch liegen. In meinen Augen müsste sich doch da eigentlich eine gute Synergie finden lassen. - Ein weiterer Aspekt ist natürlich die Verdrängung von privatwirtschaftlicher Erwerbsarbeit durch solche staatlichen Angebote, da muss man vorsichtig sein, keine Frage. Aber bei dem Klientel der Langzeitarbeitslosen zumindest ist das üblicherweise ein nachrangiges Problem.

4) How Tucker Carlson Helped Turn Americans Against the Military

Halfway through the Trump administration, Americans’ regard for and trust in the military began to nose-dive. The share of respondents who told a Reagan Forum poll they had “a great deal of confidence” in the military plunged from 70% in 2018 to 63% the following year, and 56% in early 2021. (It bottomed out at 45% during the Biden administration’s first winter, and rose in the most recent poll to 48%.) [...] But for all his attacks, Carlson was unable to completely undermine Americans’ confidence in their military. The most recent Reagan Forum poll found that 80% of Biden voters and 83% of Trump voters said they still have either “a great deal” or “some” confidence in the U.S. military. That shows that even his audience knows the difference between the performance art of partisanship and the apolitical service to one’s country. (Kevin Baron, Defense One)

Ich finde es immer wieder faszinierend, wie sehr der Aufstieg der Rechtsextremisten in der GOP ewig bestehende Wahrheiten verändert hat. Vor den Primaries 2015 war es unvorstellbar, in der amerikanischen Politik Kritik am Militär zu äußern. So was machten linksradikale Aktivist*innen, vielleicht Michael Moore (aber selbst der nicht wirklich), aber in einer präsidentiellen Primary? Unvorstellbar. Und dann kam Trump und riss das ganze Gebäude ein, als er in South Carolina auf offener Bühne "Bush lied, people lied" hinausbrüllte - bis dato ein unamerikanisch-linker Slogan. Wie viele Beobachtende damals war ich der Überzeugung, dass das sein Ende sein würde. Tatsächlich hatte es praktisch keinen Effekt, und Stück für Stück folgte der Rest nach.

Allerdings sollte man den Effekt, wie Baron schreibt, nicht überbewerten. Die Rhetorik der Aktivisten, etwa Carlsons, dominierte zwar alle Kanäle. Aber an den zugrundeliegenden Einstellungen änderte sie überraschend wenig. Stattdessen wurde ein neuer Shibboleth geschaffen, der zwar beständig wiederholt wurde, der aber praktisch keine inhaltliche Aufladung hat. Hauptsache, es macht Krach und dient der Selbstvergegenwärtigung.

5) Die Wärmepumpe als Weltanschauung

Sage mir, wie du heizen willst – und ich sage dir, wen du wählst: Technik wird immer öfter zu einer Frage von Identität und Emotion, leider. Wärmepumpe? Hätte jemand vor, sagen wir, einem halben Jahr behauptet: "Die Wärmepumpe wird in Deutschland zum nächsten identitätspolitischen Thema!" – mein Wetteinsatz dagegen wäre ziemlich hoch gewesen. Mir wären kaum noch weniger geeignete Themen dafür jedenfalls eingefallen. Wärmepumpen sind technische, auf den ersten Blick wenig emotionalisierbare Gegenstände. Und Deutschland gilt als das Land der Tüftler und Bastler. Hier diskutieren wir allenfalls hart über die Frage, welche Heizung besser ist, welche billiger und vielleicht noch, welche gut fürs Klima. Aber niemals wird diese Frage mit einer Weltanschauung verknüpft. [...] Zwar haben sich mit Ausnahme der Rechtspopulisten alle Parteien zum Kampf gegen die Klimakrise verpflichtet – durch Parteitagsbeschlüsse, die Verabschiedung des Klimagesetzes oder internationale Verträge. Dennoch gibt es immer noch keinen konstruktiven Streit, über die Frage, wie Deutschland seinen Beitrag leisten kann. Denn bei den konservativ-liberalen Parteien hat anscheinend die Überzeugung gewonnen, dass man bei den Wählenden am meisten punktet, wenn man Angst vor der Veränderung schürt. Das aber ist brandgefährlich. (Petra Pinzler, ZEIT)

Ich frage mich schon ernsthaft, unter welchem Stein Pinzler gelebt hat, dass sie ernsthaft davon überrascht ist, dass ein rein technisches Thema zum Fokalpunkt identitäspolitischer Aufladung wird. Wir haben in der Corona-Pandemie eine identitätspolitische Aufladung von Atemmasken erlebt. JEDES Thema wird identitätspolitisch aufgeladen, wenn es irgendwem in die Agenda passt. Der eigentliche Gegenstand ist dafür vollkommen egal. Hauptsache, man kann kritisieren. Auch die Frage, ob ein Leopard 2 nun eine Offensiv- oder Defensivwaffe ist und ab wie vielen alten Bundeswehrpanzern eine imaginäre Eskalationsschwelle überschritten wird, eigenete sich hervorragend für emotionale Aufladung. Warum sollten da ausgerechnet Wärmepumpen, die den absoluten Nahbereich des Menschen betreffen, eine Ausnahme sein? Wie viel emotionaler als "ich werde gezwungen, mein Haus zu renovieren und zehntausende von Euro auszugeben" soll es denn werden? Ganz ungeachtet der sachlichen Rechtfertigung der ganzen Thematik.

Resterampe

a) Dianne Feinstein and the Cult of Indispensability. Siehe auch: Why Dianne Feinstein Might Actually Have To Resign.

b) Will Tucker Carlson Become Alex Jones?

c) The Trump-Biden Rematch Is Inevitable.

d) Beitrag in der FT zu den Kommunikationsproblemen der britischen Politik.

e) Röttgen-Interview zur deutschen China-Politik. Außenpolitisch ist eine Röttgen-Baerbock-Regierung irgendwie schon das Nonplusultra.

f) Bernd Ulrich hat ein absolut brutales Porträt Olaf Scholz' geschrieben.

g) Weil angesichts der Rezension zu Jonas Schaibles "Demokratie im Feuer" angezweifelt wurde, dass die Zukunftsszenarien realistisch sein könnten: die SZ hat was zu Wasserknappheit in Deutschland und den resultierenden Verteilungskämpfen.

h) Der Supreme Court ist gerade in einer ganzen Reihe von Korruptionsskandalen um seine rechten Richter gefangen. Accountability: zero. Siehe auch Adam Serwer.

i) Kurzer Greive-Kommentar zur Viessmann-Übernahme.

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