Lassen Sie sich mitnehmen auf ein kleines Gedankenexperiment!

(1) Sie fahren täglich zu Ihrer Arbeit, immer um die gleiche Zeit. Sie haben drei Wege zur Auswahl (A), (B) oder (C). Sie haben sich dafür entschieden Weg (B) zu nehmen. Da sind sie in der Regel am schnellsten, die Fahrt ist nicht sonderlich anstrengend, das Verkehrsaufkommen ist im Vergleich zu den anderen Varianten geringer, es gibt wenig gefährliche Stellen, an denen Sie bspw. auf Radfahrer aufpassen müssen. Hin und wieder testen Sie mal (A) oder (C), um weiter festzustellen, dass (B) doch am geeignesten ist. Heute ist aber ein Unfall auf Ihrem Weg, Sie brauchen eine Stunde länger und posten in einem Sozialen Netzwerk etwas entnervt "Mist, heute eine Stunde länger gebraucht." Und vielleicht bekommen Sie, von jemandem aus einer ganz anderen Stadt, der sich das ganze nur mal kurz auf Google Maps angesehen hat, den "freundlichen" Hinweis. "Variante A ist doch viel besser."

(2) Sie sind Trainer einer Fußballmannschaft und stehen vor der Wahl Spieler A oder B einzustellen. Spieler A ist nicht ganz fit, außerdem haben sie erkannt, dass der Gegner nicht ganz so kopfballstark ist und dass in diesem Bereich Spieler B besser als A ist. Also stellen Sie Spieler B auf. Schon vor dem Spiel kommt natürlich von vielen Kneipenbänken die Kritik "Er/Sie muss doch A aufstellen, so haben wir keine Chance. - Der Trainer ist ja beratungsresistent." Wohlgemerkt vor dem Spiel.

(3) Sie sind Teil eines Planungsteams für eine neue Bahnstrecke. Sie haben die letzten Jahre damit verbracht, Verkehrsströme zu modellieren, Bauleistungen auf ihre Machbarkeit zu bewerten, Kalkulationen durchgeführt und waren mit ihren Präsentationen wieder und wieder in Lenkungskreisen, Projektgruppen oder beim Vorstand und mussten sehr oft neu berechnen, neue Alternativen analysieren und wieder und wieder plausibilisieren. Nachdem jetzt alles steht und die Streckenführung veröffentlicht wurde, lesen Sie direkt im Netz "So ein Mist, wie kann man so eine Fehlplanung hinlegen? Weiß doch jeder, dass die Strecke viel weiter nördlich hin muss."

Gerne können Sie auch ein Beispiel aus Ihrem eigenen beruflichen Umfeld ergänzen. Was haben alle diese Beispiele gemeinsam? Die Akteure haben ihre Entscheidung erstmal überlegt getroffen und sich intensiv Gedanken gemacht. Ob das vollumfänglich war, Aspekte nicht beachtet haben oder die falschen Schlüsse getroffen haben, sei mal dahingestellt. Nicht abstreiten kann man aber, dass man die Entscheidung nicht einfach so getroffen hat. Das ignoriert diese einfache Kritik und lässt so den Akteur/die Akteurin einigermaßen entnervt zurück. Wenn Sie an Ihr eigenes privates Beispiel, können Sie sich vielleicht vorstellen, was ein Virologe oder eine Virologin bei Äußerungen eines Absolventen der "YouTube-Universität" denken muss. Es ist bei Kritik immer sinnvoll, zu beachten, dass sich der oder die Kritisierte meist mehr Gedanken gemacht hat, als die Kritiker:innen.

Also doch nicht auf irgendjemanden hören, sondern auf "Experten" bzw. jemand der im Thema drin steckt und sich auch viele Gedanken macht? Aber bitte fachbezogen! Wenn etwa der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, im Dezember 2020 forderte mehr Busse und Bahnen einzusetzen, um Menschenansammlungen zu entzerren, mag das zwar aus Infektionsexpertensicht eine gute Idee sein, der Verkehrsexperte, auf den es hier ankommt, würde sagen: In den Hauptverkehrszeiten, da wo der Andrang am Größten ist, habe ich jedes Fahrzeug im Einsatz und selbst bei genügend Fahrzeugen nicht genügend Personal. (Mir persönlich immer noch ein Rätsel, warum solche Äußerungen von den Medien kommentarlos weiterverarbeitet werden.) Es sollte also schon der richtige Experte sein. Vielmehr können fachfremde merkwürdige Äußerungen natürlich auch dazu führen, dass dies auch negativ auf die Kompetenz im eigenen Fachgebiet abfärbt (Herrn Gassen nehme ich seit dem anders wahr).

Doch was ist der richtige Experte? Der Nachbar, der in Beispiel (1), der die gleiche Strecke fährt, aber eine Stunde später und der keine Angst, vor gefährlichen Straßenkreuzungen hat? In Beispiel (2) der Extrainer im Fußballstammtisch, der zwar Ahnung von Taktik hat, aber den Trainingseindruck von Spieler B nicht kennt? Oder in Beispiel (3) das Ein-Mann-Verkehrsplanungsbüro oder die Zwei-Mann-Bürgerinitiative, die tausend Gründe für eine alternative Trassenführung gefunden hat, der es aber verständlicherweise nur darum geht, dass der neue Oberleitungsmasten nicht direkt am eigenen Garten steht? Das sollte man immer im Hinterkopf behalten, wenn es darum geht, wen man - insbesondere in Medien - als Experten auftreten lässt. Der Bürgerinitiative geht es primär nicht darum, für eine volkswirtschaftlich bessere Lösung einzutreten. Sie sucht sich Bewertungskriterien und Argumente so aus, dass die Lösung, die verhindert werden soll raus fliegt. Klassische Entscheidungsfindung geht andersherum. Vom Fußball-Experten im Studio wird auch erwartet, dass er etwas provokantes sagt, eine Äußerung wie "Jo, der Gegner war besser. Hätte auch nichts besser machen können.", würde auch auf riesige Kritik stoßen.

Also denken Sie daran, wenn Sie Kritik äußern, lesen oder von solcher betroffen sind, dass der Kritisierte vielleicht doch nicht alles falsch gemacht hat. Und wenn jemand Kritik äußert, sollte man sich immer die Frage stellen "Hat er wirklich Expertise oder vielleicht auch eigene Interessen?"

Pointe: Wie unschwer zu erahnen, hat der Autor persönliche Verbindungen in die Verkehrsbranche. Ob er selber ein Experte ist, bezweifelt er.