Von Karoline Döring und Kristin Eichhorn

Die Wissenschaft ist in Deutschland – mindestens bis zur oft erst mit Mitte/Ende 40 erreichten Professur auf Lebenszeit – von prekären Arbeitsbedingungen geprägt: Wissenschaftliche Karrieren sind in Deutschland nicht planbar, was Menschen mit familiären Verpflichtungen und ohne finanzielle Rücklagen häufig zum ungewollten Berufswechsel zwingt; Dauerbefristung und die Umgehung von Tarifverträgen durch Teilzeitverträge mit unbezahlter Mehrarbeit sind die Regel; Forschung wird über kurzfristige Gelder und sogar über Arbeitslosengeld oder Hartz IV ‚zwischenfinanziert‘. Dies ist in der Twitter-Aktion #95vsWissZeitVG im Herbst 2020 sehr anschaulich zusammengetragen worden.

Dafür, wie diesen gerade für den öffentlichen Dienst skandalösen Zuständen abgeholfen werden kann, gibt es zahlreiche Vorschläge. Deutschlandweit plädieren das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und ver.di in der gemeinsamen Kampagne „Frist ist Frust“ für die Schaffung ausschließlich unbefristeter Stellen aus den Mitteln des verstetigten Hochschulpakts. Nach dem Templiner Manifest der GEW aus dem Jahr 2010 liegen inzwischen mit ihrem aktuellen Reformvorschlag „Wissenschaft als Beruf“, dem Personalmodellepapier von NGAWiss und dem Debattenbeitrag der Jungen Akademie für die Einrichtung von Departments anstelle von Lehrstühlen mehrere jüngere Vorschläge vor, wie das bestehende System reformiert und die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft auf Dauer verbessert werden können.

Somit sind zahlreiche Probleme der wissenschaftlichen Beschäftigten benannt, die weit über die Problematik der (Ketten-)Befristung hinausgehen. Denn es zeichnet sich ab, dass eine Entfristung beispielsweise auch mit einer Erhöhung des Lehrdeputats einhergehen kann, die selbst in stark standardisierten Lehrveranstaltungstypen nicht ansatzweise in der vereinbarten regulären Arbeitszeit von 39,5 bzw. 40 Stunden zu leisten ist und damit eine dauerhafte Überlastung der Arbeitnehmer*innen zur Folge hat. Es bedarf also nicht nur einer nachhaltigen und umfassenden Analyse des Problems. Vielmehr sollten Hochschulen gezielt motiviert werden, sich als Arbeitgeber besonders um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ihres Personals zu bemühen. Dies ist in Ergänzung zum bestehenden Kodex-Check der GEW am effektivsten durch ein Siegel zu erreichen, das, ähnlich wie dies auch bereits im Hinblick auf Familienfreundlichkeit oder transparente Berufungsverfahren geschieht, als Auszeichnung verliehen wird. Auf diese Weise wird die Sichtbarkeit fairer Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft erhöht und neben der bereits bundes- und landespolitisch geförderten nachhaltigen Personalentwicklung, zum Beispiel im Tenure-Track-Programm des BMBF oder in der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder, für die Hochschulen ein weiterer Anreiz geschaffen, die vorhandenen Missstände auch unabhängig von der Bundes- oder Landesgesetzgebung durch eigene Initiativen zu beseitigen.

Um ein solches Sigel zu erarbeiten, hat sich im März 2020 in einem von der Schader Stiftung geförderten Workshop eine Arbeitsgruppe gegründet. Sie hat erste einschlägige Kriterien erarbeitet:

a)    Transparente planbare Karrierewege (in der Wissenschaft)

Wissenschaftliche Einrichtungen sollten klar darlegen, welche Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Karriere nötig sind, und sicherstellen, dass Personen, die diese erfüllen, auch auf Dauer beschäftigt werden können.

b)    Zukunftsorientiertes  Personalentwicklungskonzept

Hochschulen sollten echte Personalentwicklungskonzepte besitzen, die strukturelle auf die Institution bezogene Pläne zum Aufbau planbarer Karrierewege aufweist, die über reine Beratungsangebote für Einzelne zur beruflichen Neuorientierung nach dem Ausscheiden aus der Wissenschaft hinausgehen. Es sollte konkretisiert werden, welche Stellenprofile in den nächsten Jahren geplant werden bzw. wie die aktuelle Stellenstruktur der Institution umorganisiert bzw. fortgeführt werden soll.

c)     Transparente Personalrekrutierung

Personalrekrutierung sollte auf allen Ebenen in schlanken, transparenten Verfahren ohne Befangenheiten erfolgen. Dies gilt sowohl für Berufungsverfahren als auch für Angestelltenverhältnisse.

d)    Aufklärung über alternative Karriereoptionen

Da nicht alle in der Wissenschaft tätigen Personen an den Hochschulen auf Dauer verbleiben können, muss frühzeitig eine systematische Aufklärung über andere Karrierewege stattfinden. Dies gilt insbesondere für Fachbereiche, in denen sich diese für Absolvent*innen nicht automatisch ergibt, weil enge Firmenkooperationen etc. bestehen. Vorgesetzte können dies oft nicht leisten, weil ihnen die außeruniversitäre Erfahrung fehlt. Hier sollten Universitäten Konzepte entwickeln, die nachweislich wirken und die entsprechende Zielgruppe sicher erreichen.

e)     Angemessene Arbeitsplatzausstattung

Hochschulen sollten als Arbeitgeberinnen auf die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts achten. Wenn danach ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden muss, sollte dieser den Aufgaben entsprechend ausgestattet sein und technisch auf dem laufenden Stand gehalten werden.

f)      Psychisch-physisches Gesundheitsmanagement

Insbesondere im Bereich des psychischen Gesundheitsmanagements sehen wir Ausbaubedarf, da es zwar häufig bereits Aktionstage und Vertrauenspersonen gibt. Wünschenswert wären aber auch für Mitarbeitende (nicht nur für Studierende) eine externe (!) psychologische Beratungsstelle sowie der generelle Abbau von Stigmatisierung durch diverse Maßnahmen.

g)    Konfliktmanagement und konstruktive Konfliktkultur

Professor*innen wirken für ihre Mitarbeiter*innen häufig als Betreuer*innen von Qualifikationsarbeiten und als Vorgesetzte für Dienstaufgaben. Konflikte im Forschungsbereich wirken sich folglich auf den Dienstbereich aus und umgekehrt. Hochschulen sollten angesichts dieser Abhängigkeit einen konstruktiven Umgang mit Konflikten etablieren. Dazu gehören niederschwellige Angebote, ggf. auch Mediation durch externe Stellen usw.

h)    Führungskultur

Wissenschaftliche Einrichtungen sollten sich ihrer Führungsverantwortung bewusst sein und die mit Führungsaufgaben betrauten Personen systematisch weiterbilden und unterstützen. Dies gilt sowohl für Dekan*innen als auch Professor*innen ohne Amt, die häufig nur freiwillig an entsprechenden Schulungen teilnehmen. Das bloße Vorhandensein von Schulungsangebote reicht daher nicht aus. Es sollte eine durchdachte und aktive gelebte Führungskultur erkennbar werden. Dazu gehört ggf. auch Entlastung von Führungspersonal in anderen Bereichen (z. B., aber nicht nur Lehrdeputat), wie sie zum Teil existieren, aber häufig eben auch nicht.

i)      Wertschätzung von Weiterbildung

Auf allen Ebenen sollte Weiterbildung nicht nur angeboten und von den Institutionen finanziert werden. Sie sollte in der Arbeitszeit erfolgen und von Vorgesetzten befürwortet und aktiv beworben werden. Diese Angebote können Methoden und Instrumente zur Personalführung meinen, sich aber auch auf Kompetenzen in Lehre und Wissenschaftsmanagement beziehen. Dabei sollten klare Strukturen vorhanden sein, die diese Weiterbildungsmaßnahmen implementieren und verbindliche Minimalziele festgeschrieben werden.

j)      Funktionierende Kommunikationswege

Hochschulen sollten klare, fundierte Konzept haben, welche Informationen auf welchem Weg an die verschiedenen Gruppen weitergeben werden und wie  sichergestellt werden kann, dass diese Informationen die jeweilige Zielgruppe, vor allem die stark fluktuierende, erreichen.

k) Eindeutige Dienstaufgaben

Dienstaufgaben sollten in Arbeitsverträgen nicht nur klar und eindeutig definiert sein, sondern auch praktisch umgesetzt werden. Es muss sichergestellt werden, dass z. B. keine ‚versteckte‘ Lehre erfolgt, d.h. Mitarbeitende für Professor*innen lehren, aber nicht im Vorlesungsverzeichnis auftauchen, und dass die wissenschaftliche Weiterqualifizierung als Dienstaufgabe wahrgenommen wird. Dazu gehört, dass ein fest umrissener Qualifikationsbegriff im Sinne von der Vorbereitung auf akademische Grade zu Grunde gelegt wird, der von den Weiterbildungsangeboten, die der qualitativ hochwertigen Erledigung anderer Dienstaufgaben dienen, strikt getrennt wird. Tarifliche Arbeitszeiten sind in jedem Fall einzuhalten und das Aufgabenspektrum darauf abzustimmen.

l)     Nachhaltigkeit von Know-How

Durch Befristung und Fluktuation geht den Hochschulen zur Zeit häufig sehr viel Know-How in allen Bereichen verloren: Forschung, Lehre, Verwaltung. Häufiger Personalwechsel führt zum Verlust von Wissen und Kompetenz. Gegenmaßnahmen sind vor allem mehr unbefristete Stellen für Aufgaben, die dauerhaft anfallen.

Diese Kriterien müssen weiter ausdifferenziert werden: Welche Mindeststandards sollen für das Siegel gegeben sein? Gibt es Kriterien, die wichtiger sind als andere? Sollen Einrichtungen individuelle Schwerpunkte setzen können? Wenn ja, in welchem Rahmen? Auf dieser Basis können dann im nächsten Schritt weiterführende Überlegungen zur Konzeption und Umsetzung, insbesondere zum Vergabeverfahren angestellt werden.