Wie bereits in einem früheren Beitrag erwähnt, ist der "Heilpraktiker" ein in Deutschland offiziell anerkannter Heilberuf, der während des Dritten Reiches eingeführt wurde. Trotz der Tatsache, dass Heilpraktiker/innen keine angemessene medizinische Ausbildung durchlaufen, dürfen sie fast alle Behandlungen einsetzen, die auch ein voll ausgebildeter Arzt durchführen kann. Dadurch ist in Deutschland eine Zwei-Klassen-Medizin entstanden, die viele Experten für inakzeptabel halten. Mit deprimierender Regelmäßigkeit werden Berichte über schwere Zwischenfälle berichtet.
Kürzlich wurde bekannt, dass eine an Krebs erkrankte Frau ihre konventionelle onkologische Behandlung abbrach und sich von einer Heilpraktikerin mit Präparaten aus Schlangengift behandeln ließ. Nachdem sie an ihrer Krebserkrankung verstorben war, wurde die Heilpraktikerin dazu verurteilt, dem Sohn der Verstorbenen 30.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen. Das wurde so von einem Gericht in München in einem Grundsatzurteil entschieden. Der Vater des Jungen hatte ursprünglich 170.000 Euro gefordert.
Die verstorbene Patientin war an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, der mit einer relativ guten Prognose assoziiert ist. Sie verzichtete sodann auf die ärztlich verordnete Bestrahlung und Chemotherapie und entschied sich stattdessen für eine Therapie mit einem Präparat aus Schlangengift, die sie von ihrer Heilpraktikerin erhielt.
„Die Beklagte hat ihrer Patientin nicht aktiv zum Abbruch der lebensrettenden Strahlentherapie geraten“, befand das Gericht. „Sie ist aber ihrer sich abzeichnenden Entscheidung nicht entgegengetreten, was als Heilpraktikerin ihre Aufgabe gewesen wäre.“ Aus Sicht des Gerichts hätte sie ihrer Patientin raten müssen, die Chemotherapie wieder aufzunehmen. „Dieses über Wochen hinweg fortgesetzte Unterlassen der Beklagten war unverantwortlich und aus Sicht eines verantwortungsbewussten Heilpraktikers schlechterdings unverständlich.“ Neben Schmerzensgeld wurde die Heilpraktikerin unter anderem zur Zahlung von Schadensersatz für entgangenen Kindesunterhalt verurteilt. Eine Berufung gegen das Urteil ließ das Gericht nicht zu.
Der Fall erscheint insofern ungewöhnlich, als das Gericht die Heilpraktikerin nicht etwa wegen der Durchführung einer unsinnigen oder schädigenden Behandlung für schuldig befand (die Therapie mit Schlangengift war sicherlich Unsinn!), sondern wegen der Unterlassung einer evidenzbasierten Beratung. Dies könnte Konsequenzen für ähnlich gelagerte Rechtsfälle in der Zukunft haben.
Wenn ich es richtig verstehe, bedeutet es, dass nach deutschem Recht Behandler – also auch Ärzte - nicht nur für das verantwortlich gemacht werden können, was sie tun, sondern auch für das, was sie unterlassen, und dass sich diese Form der Unterlassung nicht nur auf Behandlungen und Verordnungen, sondern auch auf Beratungen erstreckt. Falls das so stimmt, könnte z.B. ein deutscher Homöopath, der einen Asthma-Patienten ausschließlich mit Homöopathika behandelt, verklagt werden, wenn er ihn nicht darauf hinweist, dass er auch effektive konventionelle Medikamente einnehmen sollte.
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