Gerade las ich einen Artikel von Stefan Schulz in den Blättern für deutsche und internationale Politik, in dem es um die veränderte Demografie in Deutschland geht. Da fand sich durchaus einiges Interessantes, aber was mir vor allem auffiel: Der Autor betrachtet die Veränderung des Altersschnitts unserer Gesellschaft und deren Auswirkungen so, als wenn alles andere dann auch genauso bleiben würde, wie es zurzeit ist.
Dabei will ich Schulz mit Sicherheit keine mangelnde Kompetenz vorwerfen, denn als Soziologe und Journalist hat er sich bestimmt gut in das Thema eingearbeitet. Und zudem sind die Blätter ja auch dafür bekannt, dass dort fundierte Artikel erscheinen. Und zweifelsohne hat Schulz auch sehr recht damit, wenn er beschreibt, wie sehr sich die Altersstruktur unserer Gesellschaft verändert und dass dies auch zu veränderten Rahmenbedingungen führt, auf die politisch reagiert werden muss. Auch die Zahlen, die er liefert, zeugen nicht nur von gründlicher Recherche, sondern sind auch recht beeindruckend, um diesen gesellschaftlichen Wandel zu unterstreichen.
Was mir fehlt, ist der Blick über den Tellerrand, das Zurücktreten, um dieses Phänomen dann umfassend in Bezug zu anderen Entwicklungen zu setzen. Zudem wird nicht berücksichtig, dass unsere Welt insgesamt immer weniger vorhersehbar wird, sodass durchaus Ereignisse eintreten können, durch welche die Bevölkerungsstruktur mächtig durcheinandergewürfelt wird.
So kommt Schulz vor allem zu naheliegenden Schlüssen: Migration kann helfen, die auf dem Arbeitsmarkt entstehenden Lücken zu schließen, ältere Arbeitnehmer müssen bessere Möglichkeiten bekommen, wieder eine Arbeitsstelle antreten zu können, wenn sie ihre verloren haben, vielleicht muss auch das Renteneintrittsalter etwas erhöht werden, und dann sollten Überlegungen angestellt werden, was mit den Ortschaften geschieht, die aufgrund der fehlenden jungen Menschen allmählich zu einer Art Geisterstädten mutieren. Dabei beruft sich Schulz dann auch auf andere Autoren, die sich mit dieser Problematik befasst haben – wie gesagt, er hat sich schon sehr intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt für sein Buch „Die Altenrepublik“, auf dem dieser Artikel basiert.
Nun kommt allerdings von meiner Seite aus noch das eine oder andere große Aber.
Zunächst einmal finde ich es generell nicht schlecht, wenn die Bevölkerung in unserem Land abnimmt, denn schließlich ist es ja nicht so, dass zu wenige Menschen auf unserem Planeten leben. Und wenn gerade in einem Land wie Deutschland, dessen Einwohner einen wesentlich größeren CO2-Fußabdruck und damit auch negativeren Einfluss auf das Klima haben als die meisten Menschen im globalen Süden, weniger Menschen leben, dann ist das im Hinblick auf die Klimakatastrophe für mich erst mal keine schlechte Nachricht.
Auch finde ich es immer etwas schräg, wenn davon gesprochen wird, dass wir unbedingt mehr Menschen bräuchten, die hier arbeiten, wenn wir doch ein paar Millionen Menschen haben, die gern eine Arbeit hätten oder mehr arbeiten würden. Das würde dann nämlich auch die Sozialkassen besser auffüllen, als wenn viele Leute in Minijobs oder Teilzeitstellen beschäftigt sind.
Natürlich ist die Demografie schon wichtig dafür, wie es mit den Renten aussieht, denn die Menge der Rentenbezieher beeinflusst da natürlich genauso die Situation wie die Menge derjenigen, die arbeitend in die Kassen einzahlen. Allerdings ist das meiner Meinung nach etwas zu einfach gedacht, denn es werden zwei Dinge dabei außer Acht gelassen.
Zum einen ist es ja nicht nur so, dass ältere Menschen von den Arbeitenden mitfinanziert werden müssen, sondern das gilt genauso für jüngere: Kindergeld, Kita-Plätze, Schulen, Universitäten – das sind alles Sachen, die bei uns zum Glück (zumindest zu einem großen Teil) von der öffentlichen Hand getragen werden. Wenn nun weniger junge Menschen nachkommen, sinken die Kosten, die deren Aufwachsen und Ausbildung verursachen, eben auch.
Zum anderen ist da die Tatsache, dass die Produktivität mindestens genauso entscheidend ist wie die Anzahl der Arbeitenden. Wenn die Produktivität steigt aufgrund von beispielsweise technischem Fortschritt, dann stellt es kein Problem dar, wenn die dafür notwendige Arbeit dann durch weniger Arbeitsstunden erbracht wird. Diese Arbeitsstunden müssten dann nur entsprechend sinnvoll so verteilt werden, dass möglichst viele Menschen daran teilhaben – was wiederum bedeutet, dass die Arbeitszeit pro Arbeitendem sinken muss. Und dass ein möglichst großer Teil dessen, was die Arbeitenden so an Wert schaffen, dann auch bei ihnen selbst ankommt und ihnen nicht vorenthalten wird, um die immer größeren Renditen derjenigen, deren leistungslose Vermögen stetig absurdere Ausmaße annehmen, zu bedienen.
Wenn nur allerdings immer mehr Geld aus dem realwirtschaftlichen Geschehen abgezogen und in das Casino der Finanzindustrie wandert, dann kann ein Sozialsystem wie die Rente nicht mehr funktionieren. Und das ist m. E. ein deutlich wichtigerer Aspekt als die Veränderung der Demografie.
Was noch hinzukommt: Es gibt ja haufenweise Jobs, die nicht wirklich sinnvoll sind. Das sind nicht nur die sogenannten Bullshit-Jobs, beispielsweise im Management, die keine gesellschaftlich sinnvolle Funktion haben, sondern auch Arbeitsplätze, durch welche die Klimakatastrophe schneller vorangebracht wird. Dazu zählt für mich nicht nur Offensichtliches wie der Kohleabbau, sondern auch die Autoindustrie. Durch die notwendige Verkehrswende hin zu besserem öffentlichem Verkehr würden nämlich viele der dortigen Arbeitsplätze wegfallen, was insgesamt gesehen auch sinnvoll wäre. Da es in genügend anderen Branchen einen Mangel an Arbeitskräften gibt, wären hier Umschulungen zielführend, Damit einhergehen sollten gesamtvolkswirtschaftlich angestellte Überlegungen, welche Arbeitsplätze denn überhaupt sinnvoll sind, sodass diese entsprechend über Aus- und Fortbildung sowie gute Bezahlung attraktiv gemacht und gefördert werden sollten.
Eine Umgestaltung des Arbeitsmarktes und die eben schon angesprochene Verkehrswende wären dann auch wirksam, um dem Aussterben bzw. der Vergreisung von Orten, die Schulz anspricht, entgegenzuwirken. Zurzeit ziehen ja die Menschen vor allem in die Ballungsräume, weil es dort Arbeit gibt und sie keine Lust haben, jeden Tag viele Stunden auf dem Weg zum Job zu verbringen.
Schon in dem Buch „Die Globalisierungsfalle“ von Hans-Peter Martin und Harald Schumann aus dem Jahr 1996 wird von einem Treffen recht illustrer Personen im September 1995 im Fairmont-Hotel in San Francisco berichtet. Michail Gorbatschow, George Bush, Margaret Thatcher und weitere Politgrößen trafen auf Topmanager, um sich dort in Form eines „globalen Braintrusts“ auszutauschen. Schließlich kam man darauf zu sprechen, dass in vielen Konzernen ein Großteil der Mitarbeiter eigentlich nicht mehr benötigt wird. Ich zitiere aus dem Buch:
Kein Raunen geht durch den Raum, den Anwesenden ist der Ausblick auf bisher ungeahnte Arbeitslosenheere eine Selbstverständlichkeit. Keiner der hochbezahlten Karrieremanager aus den Zukunftsbranchen und Zukunftsländern glaubt noch an ausreichend neue, ordentlich bezahlte Jobs auf technologisch aufwendigen Wachstumsmärkten in den bisherigen Wohlstandländern – egal, in welchem Bereich.
Die Zukunft verkürzen die Pragmatiker im Fairmont auf ein Zahlenpaar und einen Begriff: „20 zu 80“ und „tittytainment“.
20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. „Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht“, meint Magnat Washington SyChip. Ein Fünftel aller Arbeitssuchenden werde genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgemeinschaft leisten könne. Diese 20 Prozent werden damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen – egal, in welchem Land. Das eine oder andere Prozent, so räumen die Diskutanten ein, mag noch hinzukommen, etwa durch wohlhabende Erben.
Doch sonst? 80 Prozent der Arbeitswilligen ohne Job? „Sicher“, sagt der US-Autor Jerry Rifkin, Verfasser des Buchs „Das Ende der Arbeit“, „die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme bekommen.“ Sun-Manager Gage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig, „to have lunch or be lunch“, zu essen haben oder gefressen werden.
In der Folge beschäftigt sich der hochkarätige Diskussionskreis zur „Zukunft der Arbeit“ lediglich mit jenen, die keine Arbeit mehr haben werden. Dazu, so die feste Überzeugung der Runde, werden weltweit Dutzende Millionen Menschen zählen, die sich bislang dem wohligen Alltag in San Franciscos Bay Area näher fühlen dürften als dem Überlebenskampf ohne sicherer Job. Im Fairmont wird eine neue Gesellschaftsordnung skizziert: reiche Länder ohne nennenswerte Mittelstand – und niemand widerspricht.
Vielmehr macht der Ausdruck „tittytainment“ Karriere, den der alte Haudegen Zbigniew Brzezinski ins Spiel bringt. Der gebürtige Pole war vier Jahrelang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. „Tittytainment“, so Brzezinski, sei eine Kombination von „entertainment“ und „tits“, dem amerikanischen Slangwort für Busen. Brzezinski denkt dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden.
Ganz schön starker Tobak, oder? Und irgendwie scheint das erheblich größeren Einfluss auf unsere Sozialsysteme zu haben als eine veränderte Altersstruktur. Zumal: Wenn tatsächlich nur noch 20 Prozent der arbeitenden Menschen benötigt würden, um den ganzen Laden am Laufen zu halten, dann bräuchten wir uns wirklich nur noch Gedanken um die Umverteilung von deren Produktivitätsgewinnen machen zu müssen, und alles wäre gut. Dann wäre es komplett egal, ob nun die Boomergeneration in Rente geht oder nicht.
Da heute, 25 Jahre später, schon einiges von dem, was in dem oben zitierten Abschnitt beschrieben wird, eingetreten ist, inklusive Alimentierung von immer mehr Menschen mit unnützen Jobs, finde ich es dann doch etwas fahrlässig, diesen Aspekt bei einer Betrachtung unserer Arbeitswelt, wie Schulz sie ja anstellt, außen vor zu lassen.
Natürlich ist es sinnvoll, sich Gedanken über die demografische Entwicklung einer Gesellschaft zu machen, allerdings sollten dann eben auch alle anderen Parameter, die sich ebenfalls massiv ändern können oder bereits geändert haben, auch mitberücksichtigt werden. Und dann ergeben sich nämlich auch ganz andere Schlüsse, wie mit der veränderten Altersstruktur umzugehen sei, als wenn man diese nur in einer ansonsten statischen gesamtgesellschaftlichen Situation betrachtet.
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