Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Wer schweigt, trägt eine Mitschuld

In den kommenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen bereitet die starke Präsenz der AfD vielen Sorgen, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Große Unternehmen fordern vehement verbesserte wirtschaftliche Bedingungen von der Politik, schweigen jedoch zu demokratischen Werten. Das deutsche Wirtschaftssystem, eng mit der Politik verflochten, reagierte schnell in der Pandemie, um Unternehmen zu schützen. Trotzdem beklagen Firmen heute verschlechterte Rahmenbedingungen, darunter Fachkräftemangel und globaler Wettbewerbsdruck. Analysen zeigen, dass ein Wahlsieg der AfD gravierende wirtschaftliche Schäden verursachen würde. Der Verlust von Fachkräften droht durch Abschottungspolitik, und die europafeindliche Haltung gefährdet deutsche Unternehmen, die vom offenen Markt abhängen. Die AfD-Klimapolitik könnte die Zukunft der deutschen Industrie gefährden, während ihre Finanzpolitik zu erheblichen staatlichen Finanzlücken führen würde. Unternehmen tragen eine Verantwortung, die über Arbeitsplatzschaffung und Steuerzahlung hinausgeht. Einige bekennen sich klar zu demokratischen Werten, während andere auffällig schweigen. Der Autor appelliert an Unternehmen, nicht nur bessere wirtschaftliche Bedingungen zu fordern, sondern sich auch zu den grundlegenden demokratischen Werten zu bekennen, die diese Rahmenbedingungen unterstützen. (Marcel Fratzscher, ZEIT)

Das ist ein Punkt, der mir immer wieder auffällt: die eigentlichen programmatischen Forderungen der AfD werden überhaupt nicht diskutiert, das läuft alles nur auf einer Schiene von "die wollen keine Immigration", und selbst da sind die konkreten Forderungen unklar. Die AfD ist ein Vibe, keine Partei. Das erklärt glaube ich auch viel von ihrem aktuellen Erfolg; nicht nur dieser und seine Ursachen sind eine Art Rorschach-Test, wie ich das schon einmal beschrieben habe, sondern auch die Partei selbst. Sie ist ein Spiegel, in dem jede*r sieht, was auch immer er oder sie sehen will. Die Wirtschaftspolitik der Partei, wenn man das Amalgam an Unsinn überhaupt als eine solche bezeichnen will, ist genauso quatschig wie die Sozialpolitik oder irgendetwas anderes, was da verlautbart wird. Es wäre echt mal an der Zeit, sich mit der Partei ernsthaft auseinanderzusetzen und sie auf Basis ihrer eigentlichen Positionen zu bekämpfen. Alles andere klappt gerade offensichtlich sowieso nicht. Und ja, vielleicht sollten die Wirtschaftsführer*innen da auch mal genauer hinschauen, was da eigentlich auf sie zukommt, wenn die Rechtsextremisten wieder an die Regierung kommen. Das hat sie das letzte Mal ja auch kalt überrascht.

2) Die Kriege und wir

Die Autorin beschreibt seinen Besuch im Hamburger Schauspielhaus, wo die estnische Premierministerin Kaja Kallas den Marion-Dönhoff-Preis erhält. Er reflektiert über die Herausforderung, zwei Kriegen, dem in der Ukraine und dem Nahostkonflikt, gleichermaßen gerecht zu werden und wie schwierig es ist, mit all den anderen globalen Katastrophen umzugehen. Die Premierministerin betont, dass man nicht müde werden dürfe, da Putin darauf setze, dass die Welt ermüde. Beyer gesteht, den Krieg in der Ukraine in den letzten Monaten vernachlässigt zu haben, weil sein Kopf im Nahostkonflikt stecke. Sie diskutiert auch das Phänomen der "News Avoidance", bei dem Menschen bewusst entscheiden, sich den Nachrichten zu entziehen, um dem Weltschmerz zu entkommen. Obwohl das Reuters Institute vorschlägt, mehr über positive Entwicklungen zu berichten, betont sie, dass es eine Bürgerpflicht sei, sich mit aktuellen Nachrichten zu beschäftigen, um Demokratien mitzugestalten. Der Text schließt mit der Idee, sich den tieferen Ursachen der globalen Krisen zuzuwenden, um Lösungen zu finden und sich von der Ohnmacht zu befreien. (Susanne Beyer, Spiegel)

Die Idee, dass der Journalismus mehr positive Nachrichten bringen müsste, gehört zu den Evergreens der Medienkritik. Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, dass das eine taugliche Lösung wäre. Nachrichten funktionieren nach Angebot und Nachfrage, und ja, wenn Beyer darauf hinweist, dass es nun einmal Interesse an aktuellen Geschehnissen gäbe, trifft das natürlich zu; wichtiger ist für mich aber, dass ich glaube, dass die meisten Leute keine positiven Nachrichten lesen wollen. Ein großer Punkt am Lesen von Nachrichten ist, dass man danach mit anderen meckern kann. "Hast du schon gelesen, dass...?", gefolgt von irgendeinem Aufreger, ist ein Dauerkonversationspunkt an allen Stamm- und sonstigen Tischen. Da können Leute noch so oft was anderes behaupten.

3) The Treason of the Intellectuals

Der Artikel analysiert die politische Entwicklung in der amerikanischen Hochschullandschaft und zieht Parallelen zu der Situation in Deutschland vor und während der Nazi-Ära. Der Autor argumentiert, dass amerikanische Universitäten einen ähnlichen Weg eingeschlagen haben wie deutsche Hochschulen, indem sie politische Agenden vor die wissenschaftliche Unabhängigkeit gestellt haben. Der Vergleich betont die Rolle von Intellektuellen in der Politik und verweist auf den "Verrat der Kleriker" des französischen Philosophen Julien Benda von 1927, der die Beteiligung europäischer Intellektueller an extremem Nationalismus und Rassismus verurteilte. Der Autor zeigt besondere Besorgnis über den zunehmenden Antisemitismus und die politische Einflussnahme an amerikanischen Universitäten. Dabei werden konkrete Beispiele von feindseligen Vorfällen gegenüber jüdischen Studenten angeführt und Kritik an Universitätsleitern, die sich auf politisch korrekte Antworten beschränken, geübt. Der Artikel endet mit dem Appell an amerikanische Universitäten, die Trennung von Wissenschaft und Politik wiederherzustellen, um eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland zu vermeiden. (Niall Ferguson, The Free Press)

Niall Ferguson dreht echt völlig ab. So relevant und spannend der "Verrat der Intellektuellen" als Thema ist, so ist nicht nur der Vergleich, sondern die aktive Gleichsetzung der linken Akademia (bei all ihren Irrungen) mit den nationalsozialistischen Massenmördern ist einfach so abseitig - mir ist unklar, wie ein studierter Historiker, der einmal so kluge Bücher geschrieben hat wie Ferguson, sich derart verrennen konnte. Generell sehe ich gerade eine massive Zunahme an bescheuerten Nazi-Vergleichen, und zwar auf allen Seiten des Spektrums. Das neue CDU-Grundsatzprogramm wurde mir etwa in meiner Timeline schon mit dem Anfang der Judendiskriminierung verglichen. Was ist mit den Leuten los?!

4) Bildungsministerin Stark-Watzinger dringt auf Grundgesetzänderung

Nach den enttäuschenden Pisa-Studienergebnissen deutscher Schülerinnen und Schüler erwägt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger eine Änderung des Grundgesetzes für eine Kooperation zwischen Bund und Bundesländern, um schneller Bildungsprojekte anzustoßen. Die Pisa-Studie zeigte, dass deutsche 15-/16-Jährige die schwächsten Leistungen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften erreichten. Die Ministerin betont, dass schnelles Handeln erforderlich sei und eine Zusammenarbeit zwischen dem Bund und ausgewählten Bundesländern, eine "Koalition der Willigen", ermöglicht werden solle. Schulische Bildung liegt derzeit in der Verantwortung der Bundesländer, was die Umsetzung von Förderprogrammen erschwert. Stark-Watzinger schlägt auch vor, die Zuständigkeit für Kitas von Familien- auf Kultusministerien zu verlagern. Sie betont die Notwendigkeit einer offenen Debatte über Bildungspolitik in einem Einwanderungsland und hebt das Startchancen-Programm hervor, das benachteiligte Schulen stärken soll, insbesondere in Bezug auf Sprachkompetenzen. (Spiegel)

Wir stehen in immer mehr Bereichen an einem Kipppunkt. Ob beim Klimaschutz, der Bundeswehr, dem Bildungssystem - überall wird deutlich, dass es eine grundlegende Kursänderung braucht, die in den bestehenden Strukturen nicht möglich ist, und all diese Anforderungen (von liberaler Seite kann man sicherlich noch den Sozialstaat, von konservativer die Zuwanderungspolitik in den Topf werfen) zerren in unterschiedliche Richtungen, schließen sich gegenseitig aus.

Was die konkrete Forderung angeht: Stark-Watzinger ist damit nicht allein, auch SPD-Chefin Saskia Esken schlägt so etwas vor. Ich denke, die Idee, dass der Bildungsföderalismus irgendwie zu positiven Gesamtergebnissen führt, kann mittlerweile endgültig zu den Akten gelegt werden. Da die Länder und Kommunen keinerlei finanzielle Spielräume haben, sind sie grundsätzlich nicht in der Lage, den notwendigen Kurswechsel durchzuführen. Die missratene Konstruktion der Föderalismusreform verbietet aber Hilfen des Bunds. Man sehe nur das Drama um das drohende Aus des Digitalpakts an, um zu sehen, wohin dieser Unfug führt.

5) Why Berlin can’t just do as Paris does on cycling and parking policy

Paris plant im Februar 2024 ein Referendum, um die Parkgebühren in Teilen der Stadt zu verdreifachen (auf 18 €/Stunde) und in einigen äußeren Teilen zu verdoppeln (auf 12 €/Stunde). Gleichzeitig gibt es Pläne zur Verbesserung der Fahrradinfrastruktur. Viele in der deutschen Verkehrsdebatte fragen sich, warum Berlin nicht dasselbe tun kann. Der Grund liegt im politischen Machtgefüge und den Unterschieden zwischen Innenstadt, Außenstadt und Vororten. In Paris kann die Bürgermeisterin Anne Hidalgo (Ville de Paris) Park- und Radfahrpolitik festlegen. In Berlin fehlt eine ähnliche politische Struktur für die Innenstadt, und die Bezirke sind zu schwach, um eigenständig Verkehrsrichtlinien festzulegen. Berlin hat zudem eine niedrigere Bevölkerungsdichte und mehr Autos pro tausend Einwohner als Paris. Diese Faktoren machen die Lösung verkehrspolitischer Probleme in Berlin komplexer und schwieriger als in Paris. (Jon Worth)

Jon Worths Analyse ist super spannend, weil sie auf die reale Machtverteilung eingeht. Das wird in allen Veränderungsbestrebungen gerne übersehen: real existierende Machtverhältnisse und institutionelle Arrangements bestimmen über Spielräume (siehe auch Fundstück 4). Es ist auch auffällig, über wie wenig offiziell-formale Macht Hidalgo eigentlich verfügt, wie groß aber gleichzeitig der echte Gestaltungsspielraum ist, weil sie die entsprechende Kompetenz hat. Auch hier ist die Verantwortungsdiffusion des deutschen föderalistischen Systems ein Hindernis bei der Umsetzung von Lösungen.

Resterampe

a) Deutsche Satire, legendär unlustig.

b) A brief history of modern Palestine. Sehe ich ähnlich.

c) In a twist that surprises actually no one: »Bündnis Sahra Wagenknecht«: BSW erhielt offenbar Spenden aus dem Ausland.

d) Eine gesetzliche Pflicht zur Klimaanpassung. Ich sag's immer wieder, da geraden Verfassungsnormen grundlegend in Konflikt.

e) The Republican worldview in one chart.

f) Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten.

g) Sicher, wir arbeiten mit Nazis zusammen, aber auf der anderen Seite verhindern wir den Bau von Windrädern!

h) A propos: Verfassungsschutz stuft AfD in Sachsen als gesichert rechtsextremistisch ein.

i) Gesucht: Straßenverkehrsrecht für die Zukunft.

j) Diese Entwicklung in der Ansicht zu LePen ist leider keine Überraschung. (Bluesky)

k) Realität und gefühlte Wirklichkeit prallen da auch aufeinander.

l) Reallöhne sind jetzt auf dem Niveau von 2015.

m) Für eine Entlastung der Spitzeverdienenden ist auch in der Haushaltskrise Geld da.

n) Ich hab nichts Relevantes zum SPD-Parteitag zu sagen, daher nur ein paar Artikel: hier, hier.

o) Als Nachtrag zu meinem Kulturkampfartikel siehe auch diese Kolumne im Spiegel.

p) Sehr guter Artikel zu Gaza in der NZZ.

q) Wie Trump versucht, mit "garbage data" die Wahl zu beeinflussen.

r) Guter Hintergrundartikel zu Elon Musks finanzieller Situation.

s) Ganz interessantes Streitgespräch.

t) FDP: Bundesvorstand leitet Basisvotum über Aus der Ampel ein. Das hat auch so Brexit-Vibes. "Oh bitte, stimmt für Remain. Bitte, bitte."

u) Bürgerforum auch dafür: G9 bringt Kretschmann zunehmend ins Schleudern. Es ist auch eine bekloppte Haltung, gerade im Hinblick auf alle anderen Bundesländer.

v) Deutsche Bahn: Empörung in der Politik über üppige Boni-Zahlungen an Bahn-Manager. Wäre gefühlt auch das erste Mal, dass Managment-Boni an Performance des Unternehmens gekoppelt wären...

w) Bret Deveraux hat was Gutes zu Kollateralschäden im Krieg, gerade im Hinblick auf Gaza.

x) Relevanter Thread zum neuen CDU-Programm.

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