Wie beginnt man über das Ende zu schreiben? Des Lebens überdrüssig, den selbstbestimmten Abgang planend, aber dennoch einen positiven Eindruck hinterlassend.
Da schreit es geradezu nach einem erklärenden Abschiedsbrief. Er soll rühren, mahnen und für Verständnis werben. Gerade letzte Worte dürfen nicht dazu führen, Fragen aufzuwerfen, da Nachfragen schwierig sind. Deshalb rate ich auch dringend, Abschiedsbriefe nicht handschriftlich zu verfassen, da nicht jeder eine fremde Handschrift lesen kann. Schon ein nicht zu identifizierbares Wort und es kann zu Missverständnissen führen.
Oder man ist gezwungen sich an einen Grafologen zu wenden, was hohe finanzielle Auswirkungen hat. Dem möchte ich entgegenwirken, denn meine Hinterbliebenen müssen ja ohnehin schon für die Bestattung aufkommen, zu der sie der Staat zwingt. Von dem was ich hinterlasse, könnte man nicht einmal einen Hund begraben. Ich lebe von dem, was ich habe, was ohnehin kaum dafür ausreicht. Soll ich für den Tod sparen, von dem ich dann nichts habe? Da kaufe ich mir lieber ein schickes Abschiedshemd. Ich möchte ja einen guten Eindruck hinterlassen. Ansonsten wird mein Ende kostengünstig sein. Den Strick habe ich bereits bei eBay ersteigert. Ich habe dabei großen Wert auf Nachhaltigkeit gelegt und einen gefunden, der bereits erfolgreich in Ausübung seiner Pflicht war. Ein Gebrauchter, aber Erfahrener ist mir wichtiger als ein Neuprodukt.
Er muss nur reißfest sein und einen angenehmen Tragekomfort besitzen. Einen passenden Ort habe ich schon gefunden und dank eines befreundeten Försters, einen schönen Baum gefunden, der noch nicht reserviert wurde. Ich möchte alleine hängen und nicht mit Wildfremden einen Baum benutzen. Er riet mir zu einer Eiche. Die ist stabil und auch typisch deutsch. Er brachte mich an eine Lichtung, in deren Mitte eine einzelne Eiche steht, die so einen Rundumblick bietet. Sofort verliebte ich mich in den Ort und den Baum, mit dem ich sofort eine untrennbare Verbindung aufbauen konnte. Er hatte auch, Jahreszeiten bedingt, nur wenig Blattwerk, welches Besuchern besser ermöglichte, einen schönen Blick auf mich zu genießen.
Ich hämmerte ein Reserviertschild an die Eiche, damit ihn mir niemand wegschnappt. Ein solcher Altersruhesitz im Gründen ist heiß begehrt. Da muss man schnell zuschlagen. Ich zahlte die Pacht im Voraus und sowohl der Förster, als auch ich, waren sehr zufrieden mit dem Geschäft. Ich wollte schon immer eine Immobilie, wenn auch die Anreise mit dem Bus etwas umständlich ist. Aber ich muss ja nur hin und nicht wieder zurück. Und die Luft ist auch sehr gut. Andere mögen sich von betonierten Häuserschluchten, in die versmogten Straßen der Stadt stürzen, ich bin da, schon aus politischer Überzeugung, ein Verfechter ökologischer Werte. Wegen mir soll kein Baum gefällt werden. Ich werde nicht nur so da hängen, nein es soll auch ein Statement sein. Raus aus den Städten und hinein in die Natur. Das Schöne an der Lichtung ist auch, man kann dort ausgezeichnet picknicken und sich der Natur erfreuen. Wer sich aus dem 23. Stock eines Wolkenkratzers stürzt, der muss auch damit rechnen, optisch darunter zu leiden. Die Gravitation ist nicht zu unterschätzen. Ich habe mal eine überfahrene taube auf einem Zebrastreifen gesehen. Das sah nicht gut aus. Ich habe mein ganzes Leben lang, meine Innereien nicht öffentlich gezeigt, auch aus Scham und möchte das am Schluss auch nicht. Es gibt Dinge, die muss man einfach seiner Fantasie überlassen.
Auch werde ich nur ein leichtes Tages Make-up auflegen, damit das Blau nicht so dominant durchscheint. Geduscht und deodoriert ist inzwischen für mich eine Selbstverständlichkeit. Nur ein gut vorbereiteter Tod ist ein guter Tod. Ich möchte mir ja nicht nachsagen lassen, ich würde mich gehenlassen. Daran hängt schließlich mein guter Ruf.
Schlimm wäre es ja, wenn die Leute sagen: „Na der lässt sich ganz schön hängen.“
Man hat ja auch eine Vorbildfunktion.
Frische Wäsche ist raus gelegt. Thermoskanne mit Kaffee und ein kleines Vesper sind angedacht und werden vor Abreise aufgefüllt, beziehungsweise die Brote herzhaft belegt. Eier sind schon gekocht. Denn nichts ist schlimmer als mit leerem Magen eine Reise anzutreten. Ohne anständiges Frühstück bin ich miesepetrig. Ich hake Punkt für Punkt ab, was auf meiner „Checkliste des Todes“ steht. Fehlt mir nur noch der obligatorische Abschiedsbrief, der alles schön abrunden soll. Darüber brüte ich schon zwei geschlagene Stunden und die bisherigen Ergebnisse sind eher suboptimal. Es geht mir nicht so leicht von der Hand, wie ich ursprünglich geglaubt habe. Ich tröste mich jedoch mit dem Gedanken, es ist ja der erste Brief, dieser Art.
Aller Anfang ist eben schwer, wie schon ein begnadeter Philosoph einmal geschrieben hat, dessen Namen mir entfallen ist. Eben fällt mir noch ein und sofort ergänze ich die Checkliste. „Sonnenmilch nicht vergessen!“ Denn in den nächsten Tagen, wo das Event terminiert ist, besteht erhöhte UV-Strahlung. Sonnenbrandgefahr. Besonders im Nackenbereich neige ich zu Hitzepickeln.
Ich beginne, mangels eigener Ideen, im Internet nach Abschiedsbriefen zu recherchieren. Da wird es ja wohl die ein oder andere Inspiration geben, wie ich hoffe.
Ich gebe „Abschiedsbrief, Tod“ ein und bin doch sehr überrascht. Sechshundert dreiundvierzig Einträge meldet mir Google. „Bis ich die alle gelesen habe, bin ich ja längst tot.“, seufze ich laut und vernehmlich, was niemanden stört, denn ich bin ja, wie gewöhnlich alleine. Nicht das mich die Einsamkeit stört, nur alleine macht sie wenig Spaß. Mir immer wieder Dinge zu erzählen, die ich längst weiß, sind kein Quell der Freude. Das ist ein guter Punkt, den ich unbedingt in dem Brief thematisieren sollte. Man muss eben nur mal in sich hineinhören und schon sprudeln die Ideen. Die ersten, von Google beworbenen Abschiedsbriefe sind hingegen eine Enttäuschung. Abschiedsbriefe an Lehrer, Abschiedsbriefe von Kita Kindern an ihre Kindergärtnerin, Abschiedsbriefe an eine verlorene Liebe. Die bringen mich irgendwie nicht weiter. Aber auch das, was ehemalige Lebende so schreiben, trieft nur so von Schmalz. So ein Brief muss nüchtern, sachlich und rational sein, sonst heulen sich die Brieffinder nur die Augen aus. Da finden sich Sätze wie: „Wenn du das liest, wird mein Tod nicht umsonst gewesen sein!“
Ach und bloß weil irgend ein Dödel das liest, ist der Tote jetzt glücklicher tot? Ich lese weitere Texte und bin erstaunt, welch ein Unsinn jemand in einem letzten Brief so alles schreibt. Wenig Fakten, dafür umso mehr tränen treibende Gefühle.
„Die Welt soll um mich weinen!“
Warum sollte die Welt das, wen dich schon zu Lebzeiten keiner kannte. Und dann gleich die ganze Welt. Geht es auch eine Nummer Kleiner? Vielleicht liegt es ja daran, dass den Leuten zu lange zeit bleibt, bis Gevatter Tod zuschlägt. Da kann man ja Schoneinmal auf dumme Gedanken kommen. Dem trete ich ja entschieden entgehen. Ich habe doch keine Lust, zuhause herumzuhocken und zu warten, bis sich der Herr Tod bequemt mich endlich aufzusuchen. Ohnehin scheint mir die Auswahl, wer gerade an der Reihe ist, doch eher wahllos. Jedenfalls eine klare Strategie kann ich da nicht erkennen. Vielleicht arbeitet er ja auch mit einem Algorithmus. Aber wer weiß schon, welches Geschäftsmodell er betreibt. Er lässt einen ja da bewusst im Ungefähren. Jedenfalls habe ich mich entschlossen ihm ein Schnippchen zu schlagen. Ich entscheide, wann es mir reicht. Und sowohl Zeitpunkt, als auch die warme Jahreszeit sehe ich als günstig an. Da stehen die Bäume in voller Blüte. Das Leben pulsiert im Geäst. Da hängt man auch nicht so alleine herum und man hat auch was zum Gucken. Den Abschiedsbrief werde ich übrigens an einen Zeh binden, damit er in Augenhöhe gut lesbar ist.
Denn wer hat schon im Wald eine Trittleiter dabei, wenn er zum Picknick aufbricht. Ich finde, Besucher von mir haben ein Recht zu erfahren, wieso ich hier hänge. Nachher wirft man mir noch vor, es wäre eine politische Protestaktion, gegen das Waldsterben oder so. Dem möchte ich energisch entgegentreten. Ich sterbe ja nicht aus ideologischen Gründen oder weil ich ein militanter Baumumarmer bin. Ich entledige mich meines Lebens, weil ich denke, es ist an der Zeit. Es zwingt mich ja keiner dazu und ich bin frei in meinen Entscheidungen. Man muss ja auch nicht immer seine Vorhaben erklären. Es ist doch schön, wenn man sich einfach so vom Leben treiben lassen kann. Mich treibt es in den Tod. Mein Psychiater verliert zwar einen humorvollen Gesprächspartner, aber man kann es ja auch nicht allen Leuten recht machen. Er wird schon jemand Neues finden. Abgemeldet habe ich mich nicht bei ihm. Er wird schon merken, wenn ich nicht mehr komme, dass ich einen anderen Weg eingeschlagen habe.
Aber jetzt muss ich endlich beginnen, meinen Abschiedsbrief zu formulieren, ehe ich es mir noch anders überlege. Ich bin eben ein launischer Mensch. Meist habe ich gute Laune und nur selten zeige ich mich griesgrämig. In letzterem Fall sollte mir besser keiner begegnen. Die Idee mit dem Selbstmord ist mir gekommen, als ich las, die Kirche sei dagegen. „Jetzt erst recht!“, habe ich mir da gedacht. Es war ein gewisser Trotz, das will ich nicht leugnen. Denn wie die Geschichte uns ja gelehrt hat, sind es gerade die Sachen, die die Kirche verbietet, die Spaß machen. Gerade in puncto Sex sind die doch noch im Mittelalter. Wenn Männer keine Männer lieben dürfen, dann haben die ihren obersten Chef aber völlig missverstanden. Und selbst daran halten tun die ja auch nicht, sonst würde in vielen Priesterseminaren aber Flaute herrschen.
Wie fange ich denn nun den Brief an?
„Liebe Besucher“, ja das klingt doch freundlich und einladend.
„Ich freue mich, Sie hier zu begrüßen.“
Das klingt doch gut und lädt zum Verweilen ein.
„Ich möchte mich auch nicht aufdrängen und will lediglich darauf hinweisen, was hier hängt, hängt aus freien Stücken da. Bitte entfernen Sie mich nicht, damit auch noch andere ihre Freude daran haben. Bitte hinterlassen Sie den Platz so, wie sie ihn vorgefunden haben.“
Super. Fertig. Jetzt noch rasch einmal durchlesen und auf Verständlichkeit prüfen.
Irgendwas fehlt noch. Es ist noch nicht ganz rund. Ein guter Abschluss. Eine Schlusspointe. Vielleicht ein persönliches Schlusswort oder ein Fazit, damit auch Schulgruppen etwas haben, an dem sie sich abarbeiten können. Vielleicht werde ich ja Teil einer Abiturprüfung oder wenigstens einer Klassenarbeit. Dann würde ich auch in Erinnerung bleiben. Besonders bei denen, die wegen mir durchs Abitur rasseln.
Aber dann ist der Abschiedsbrief zu einfach gehalten. Er regt zu wenig zum Denken an. Ich meine, wir sprechen hier vom Abitur! Ja er ist nicht schlecht, reicht aber höchstens für einen Hauptschulabschluss oder zum Nacheifern.
Ich darf auch nicht vergessen, mir das Copyright zu sichern, sonst schlägt noch jemand Profit daraus. Persönlichkeitsrechte werden ja heute mit Füßen getreten. Auch die Bildrechte bleiben bei mir. Soll die Bildzeitung mal ordentlich blechen, wenn sie mich auf ihrer Titelseite haben wollen. Geld kann ich immer gut gebrauchen, jedenfalls mehr als Publicity. Ich gehöre ja nicht zu der Zivilisationsseuche der Influencer, die aus dem Nichts kommen und deren Lebensberechtigung nachweislich ungeklärt ist.
Ich muss also den Abschiedsbrief neu konzipieren und abiturgerecht machen. Nach einer Stunde des Entwickelns bemerke ich, gar nicht so einfach ohne Abitur.
Vielleicht sollte ich gleich, um den geplagten Lehrern es etwas zu erleichtern, den Brief bereits mit Fragen füllen. Die können dann direkt für die Prüfungen übernommen werden.
„Wieso hänge ich hier?“
Eine Frage, die sich sowohl in Geschichte, Sozialkunde und in Biologie stellen lässt. Aber sie ist auch prädestiniert für Fremdsprachen, denn er lässt sich ja übersetzen und analysieren.
„Why am I hanging here?  –  Cur hic pendeo?  – Pourquoi suis-je suspendu ici ?“
Dies lässt sich beliebig fortsetzen und in weitere Sprachen übersetzen. Daraus könnte man ein Ratespiel entwickeln, ähnlich wie Memory, nur eben ganz anders.
Dann muss aber auch die Anrede geändert werden.
„Liebe Lernende!“
Das ist gendergerecht und alle fühlen sich angesprochen.
Langsam bekomme ich Gefallen am Abschiedsbriefschreiben. Eigentlich schade, dass es bei dem einen bleiben wird.
Meine Ideen sprudeln förmlich über. Das reicht für hundert Tote. Jetzt müsste ich nur welche finden, die sich mir anschließen wollen. Ich könnte ja den Versuch starten und eine Anzeige aufgeben oder es posten. Da müsste ich natürlich meine persönlichen Interessen hinten anstellen, sonst kann ich ja potenzielle Interessierte nicht mehr kontaktieren. Die wären dann zurecht enttäuscht. Und ich finde es unfair, abzutreten, wenn andere sauer auf mich sind. Das ist eine Frage des Respekts.
Die Anzeige ist schnell geschrieben.
„Abhängen in freier Natur? Suche Mitstreiter. Hilft auch bei Rückenproblemen.“
*
Ich bin maßlos enttäuscht. Vor einer Woche erschien mein Inserat in der Rubrik: Kontaktanzeigen. Eine mickrige Antwort habe ich erhalten, von einer gewissen Eloise, die mir schöne Stunden verspricht. Wenn da mal nicht eine Nutte dahintersteckt. Und tatsächlich, als ich sie zum Kennenlernen einlade, will die hundert Euro. Unfassbar. Ich habe sie dann auf fünfzig runter gehandelt.
Nach dieser, in jeglicher Weise, frustrierenden Erfahrung, habe ich mich entschlossen, den Letzten Weg alleine zu gehen, zumal ich auch die Statik der Eiche nicht kenne und wie viele Personen sie zu tragen in der Lage ist. Es ist ja wie bei Weihnachtsbäumen, überbordende Dekoration ist nicht mehr schön. Außerdem ist es nicht schön, wenn man so eng an eng hängt. Da bekommt man ja keine Luft mehr, besonders, wenn man wie ich unter Klaustrophobie leidet.
Eben komme ich vom Einkaufen und treffe meinen Nachbarn im Treppenhaus. Soweit so normal. Leider lässt sich dies nicht von meinem Nachbarn, dem ich einmal in einem Anflug von Nächstenliebe das DU angeboten habe. Wie sich nun herausstellt, es war eine Fehleinschätzung meinerseits, die er nun schamlos ausnutzte.
„Du hör mal!“, beginnt er in einem Tonfall, der meine Missbilligung findet.
„Hallo erst mal.“, versuche ich es im Guten.
So kurz vor meinem Start in die Selbstverwirklichung eines freien Abgangs, möchte ich nur Liebe um mich herum erleben.
„Du, die Mucke, die da dauernd bei dir läuft, die nervt.“
Ich spüre in den Worten eine gewisse versteckte Kritik.
„Das ist das Requiem von Mozart. Wolfgang Amadeus. KV626. Das steht für Köchelverzeichnis.“, erläutere ich.
„Mir egal von wem es ist, es nervt. Den ganzen Tag das Gedudel.“
„Dieses Gedudel ist eine Totenmesse. Die ist weltberühmt.“, verteidige ich Mozart.
„Rammstein lasse ich mir ja gefallen, aber dieses Deprigeheule geht gar nicht.“
„Ich bereite eine Reise vor und die Musik unterstützt mich in meinem Vorhaben.“, versuche ich sein Verständnis für die schönen Künste zu bekommen.
Doch ich stoße auf eine Mauer musikalischen Unverständnisses.
„Wenn ich die Lärmbelästigung noch einmal höre, gibt es richtig Ärger.“
Mit dieser Ankündigung lässt er mich einfach stehen und geht seiner unfreundlichen Wege.
„Das ist ein Klassiker!“, rufe ich ihm nach.
Diese Begegnung, so voll unhöflicher Worte, ohne jegliches Verständnis für seinen Mitmenschen, denen diese Musik Mut macht ihren Weg zu gehen, enttäuscht mich und darf nicht ohne Konsequenz bleiben.
Neben dem großen Gefühl der Todessehnsucht, kämpft sich nun ein Weiteres in mein Bewusstsein hinein. Das ebenso bedeutende Gefühl tief sitzenden Hasses. Und es lässt mich nicht mehr los. Es beginnt sogar mein Leben zu bestimmen und plötzlich sehe ich meinen Abschiedsbrief mit ganz anderen Augen. Warum soll ich ihn mit sinnlosen Worten füllen, wenn er sich doch trefflich dazu benutzen lässt, eine kleine Bosheit gegen meinen Nachbarn zu richten, der einen Denkzettel verdient, damit er mich nie vergisst. Ich beschließe einstimmig, einen kleinen Racheplan zu ersinnen. Leider mangelt es mir an der nötigen kriminellen Erfahrung und so bin ich auf Sekundärliteratur angewiesen. Ich besorge mir sämtliche Agatha Christie Romane. Der freundliche Buchhändler, der schwer zu finden war, denn die meisten haben eine Grundmuffigkeit, beriet mich fachkundig und meinte, Christie hätte so ziemlich jede Todesart genau beschrieben. Und wenn man sich an ihr orientiert, lassen sich Indizien so geschickt platzieren, dass jeder Unschuldige, aufgrund einer lückenlosen Indizienkette, todsicher verurteilt wird.
Die Begeisterung, mit der er über Fehlurteile sprach, imponierte mir so sehr, dass ich mich entschloss, zusätzlich und zur Vertiefung in die Materie, auch noch sämtliche Edgar Wallace DVDs.
Durch diese unvorhergesehene Entwicklung werde ich nun meine Abreise um einige Tage verschieben müssen und kann nur hoffen, dass das Wetter beständig bleibt. Ich habe mir nämlich fest in die Hand versprochen, bei schönem Sommerwetter zu gehen. Nach zwei Wochen intensiven Studium, steht mein Plan und ich beginne damit, falsche Fährten zu legen. Zunächst brauch ich die Fingerabdrücke von ihm. Am besten auf dem Strick, den ich für mich gedacht habe. Das ist ein kniffliges Problem, aber notwendig. Denn ich habe beschlossen, meinen Selbstmord ihm in die Schuhe zu schieben. Eine perfide Idee nach der anderen kommt mir in den Sinn, wie ich an seine Abdrücke komme. Schließlich entscheide ich mich für die Mission Rammstein. Leider ist sie, mit nicht gerade unerheblichen, Kosten verbunden. Ich kaufe eine CD dieser Band und verpacke sie liebevoll als Geschenk. Bestückt mit meinem Handy und dem Strick und Einweghandschuhen, die ich mir überziehe, stehe ich vor seiner Tür und klingele.
„Ich wollte mich für den Lärm herzlichst entschuldigen.“, beginne ich sofort und überreiche ihm mein Geschenk.
Der Nachbar lächelt mich an und freut sich sichtlich darüber, dass ich meinen Fehler eingesehen habe. In dem Augenblick klingelt mein Handy. Das war natürlich vorher mit einem Freund besprochen, der zu einer ganz genau vorgesehenen Uhrzeit anrufen sollte. Ich bitte den Nachbarn doch kurz den Strick zu halten, was er in seiner Ahnungslosigkeit auch leichtsinnig tut, damit ich telefonieren kann. Und schon bin ich im Besitz seiner Fingerabdrücke auf meinem Strick. Zusätzlich spiele ich ihm vor, gerade eben hätte mich eine ortskundige Biene gestochen am Hals und er soll doch bitte nachsehen und falls der Stachel noch steckt, diesen bitte herausziehen. Welcher Nachbar, dem man soeben eine Rammstein CD geschenkt hat, könnte eine solche Bitte abschlagen. Meiner nicht und so ziert schon bald meinen Hals die schönsten Fingerabdrücke, die seine fettigen Hände aufbieten können. Zufrieden kehre ich in meine Wohnung zurück.
Die nächsten drei Tage verbringe ich damit anonyme Briefe, mittels ausgeschnittener Zeitungsbuchstaben aufzuleben und per Post an mich zu schicken.
Dann übe ich die Stimme meines Nachbarn nachzuahmen und beschwere mich beim Vermieter und einmal bei der Polizei über die laute Musik, die aus meiner Wohnung dringt. Langsam bekomme ich Vergnügen daran, falsche Fährten zu legen, und überlege, Frau Christie einen Dankesbrief zu schreiben, wegen ihrer wertvollen Tipps. Doch beim Herausfinden ihrer Adresse erfahre ich, sie sei verstorben, was ich traurig zur Kenntnis nehme. Das sollten genug Hinweise sein, die auf meinen Nachbarn zielen und ihn sicher überführen werden.
Aus seinem Hausmüll suche ich noch ein paar Zigarettenstummel, eine Wasserflasche und einen abgenagten Kotelettknochen, die ich unter die von mir ausgesuchte Eiche drapiert werden.
Jetzt muss ich nur noch einen verzweifelten Abschiedsbrief schreiben, aus dem hervorgeht, unter welchen seelischen Qualen ich gestanden haben muss, um nur noch einen Ausweg zu sehen. Die Polizei soll zu dem Schluss kommen, der Abschiedsbrief wäre gefälscht, um einen vorsätzlichen Mord zu verschleiern. Leider muss ich daher auf meinen ursprünglich angedachten persönlichen Abschiedsbrief verzichten, den ich zwar fertig in der Schublade liegen habe, aber den Nachbarn entlasten könnte, was meiner Intension widerspricht. Ich bedaure dies zwar zutiefst, aber man kann eben nicht alles haben.
Dabei war ich nun gerade mit dem letzten Entwurf, meines letzten Lebenszeichens, mehr als zufrieden, aber die Zwänge zwingen mich nun darauf zu verzichten.
Bevor ich ihn nun für alle Zeiten verbrenne, damit man ihn nicht gegen mich verwenden kann, lese ich ihn noch ein letztes Mal.
„Und tschüss!“
Ich weiß, er ist in seiner Länge relativ kurz gehalten, aber er beinhaltet doch alles, was es zu sage gibt. Also geben könnte, wenn ich ihn veröffentlichen würde, was ja nun nicht geht, aus logischen Erwägungen.
Morgen ist es nun soweit. Der große Tag steht an und ich verspüre eine gewisse Vorfreude. Auch das Wetter spielt mit. Sonnig, aber nicht zu heiß. Der perfekte Tag für eine schöne Reise ohne Wiederkehr.
Nur eines trübt ein wenig die Stimmung. Ich würde ja gerne noch erleben, ob mein Plan auch aufgeht. Doch das ist leider dann nicht möglich, weil mein Tod ja teil dieses Plans ist. Das ist der Haken an der ganzen Sache. Ich suche zwar nach einer Kompromisslösung, doch komme ich zu keinem, für beide Seiten, tragfähigen Ergebnis.
Wenn ich notgedrungen auf meinen Tod verzichte, um sehen zu können wie mein Nachbar verurteilt wird, scheitert es daran, dass ich ja nicht tot bin und daher kein Mord vorliegt. Andererseits, wenn ich mich meinem Tod hingebe und ausführe, erfahre ich nie, wie er überführt wird und verurteilt. Gerade auf sein dummes Gesicht hatte ich mich schon gefreut, was er zweifelsohne machen wird, da er ja nichts davon weiß. Ich stecke massiv in einer Zwickmühle, aus der ich keinen Ausweg erkenne.
Selbst wenn ich meinen Tod durchführe und auf sein dummes Gesicht verzichte, kann ich denn sicher sein, das unsere Polizei die Indizien richtig deutet? Oder was, wenn mein Nachbar sich einen Winkeladvokaten gönnt, der ihn womöglich so gut verteidigt, dass er frei kommt? Oder irgendein versoffener Richter glaubt der Staatsanwaltschaft nicht, weil es ihr nicht gelingt mich als Zeugen aufzurufen?
Langsam ist mir die ganze Vorfreude vergangen. Warum soll ich mich erhängen und meinen Nachbarn lässt man laufen. Das wäre so ungerecht. Ich bin dann tot und bei seinem Glück bekommt er dann eine attraktive, üppig bestückte Blondine als Nachbarin, die nicht nur Single ist, sondern auch noch ein Auge auf ihn geworfen hat.
Ich würde ja im Grab rotieren. Kein Auge würde ich mehr zubekommen. Ich würde mich zu Tode ärgern.
Nein, nein, nein! Das lasse ich nicht zu. Da trete ich lieber von meiner Reise zurück.
Nur der ist wirklich groß, der eben seine Ambitionen zurücksteckt, wenn es zum Wohle aller ist.
Was ist das denn für ein ohrenbetäubender Lärm?
Rammstein! Ich hätte ihm besser eine CD von Marcel Marceau gekauft. Na ja, das passiert mir nicht noch einmal, den aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.
Oder wie hat einst ein grippekranker Opernsänger gesagt:
„Ich kann doch meine Fans nicht hängen lassen.“

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