Aktuell sorgen geleakte Aufnahmen von massenhaft vergewaltigten Häftlingen in Russland für Entsetzen. Allerdings sind Massenvergewaltigungen von Männern weltweit ebenso verbreitet wie tabuisiert.

In einem ausführlichen Artikel berichtet die Bildzeitung heute über Dutzende Videos und Hunderte Fotos, die der russischen NGO Gulag.net von einem ehemaligen Häftling zugespielt wurden. (In der Moscow Times ist sogar von tausenden geleakten Videos die Rede.) Die Aufnahmen zeigen die Vergewaltigung von ausschließlich männlichen Gefangenen mit großen Gegenständen. Dazu kommen "erzwungene Vergewaltigungen von Gefangenen untereinander, sexuelle Erniedrigungen von ganzen Gefangenengruppen und immer wieder brutale Gewalt, gepaart mit sexualisierter Gewalt, gegen wehrlose Insassen der Gefängnisse".

Dabei sollen vergewaltigte Gefangene selbst zu Tätern gemacht worden sein, indem man sie erpresste: Wenn sie sich nicht an den Greueln beteiligten, drohte man ihnen, hätte man die Aufnahmen des sexuellen Missbrauchs in den Gefängnissen herumgezeigt, woraufhin die betreffenden Männer zum Freiwild geworden wären.

Tanja Lokschina, die von der Bildzeitung befragte Russland-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, berichtet: "Bei den Folterungen handelt es sich NICHT um isolierte Vorfälle, sondern ein in Russland weitverbreitetes Phänomen, das wir bereits seit Jahren beobachten." Dazu müsse man wissen, dass die Vergewaltigung von Männern "in Russland das Schlimmste ist, was es gibt". Die Opfer seien in den Videos jedes Mal klar zu erkennen gewesen. Wenn die Identitäten dieser Männer jetzt in den Gefängnissen bekannt würden, "werden sie zu Gesetzlosen, zu Unberührbaren, zu Sklaven ihrer Mitgefangenen".

Dabei ist Vergewaltigung hinter Gittern auch in westlichen Gesellschaften ein großes Problem, über das kaum jemand spricht. So stellte die feministische Juristin und Bürgerrechtlerin Nadine Strossen fest: In den USA werden mehr Männer als Frauen vergewaltigt, wenn man wenn man die Situation in den Gefängnissen mitzählt – ohne dass dieses Verbrechen dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit erhält. In einem Exkurs ihres Buchs zum Thema Pornographie erklärt Strossen: "Laut vorsichtigen Schätzungen sind mehr als 290.000 Männer pro Jahr in Gefängnissen und Strafanstalten sexuellen Übergriffen ausgesetzt, während das Statistische Bundesamt des Justizministeriums die Zahl der jährlich vergewaltigten Frauen mit 135.000 angibt." Da viele Männer mehrfach und durch Gruppen vergewaltigt werden, rechneten Fachleute mit bis zu 45.000 Vergewaltigungen pro Tag.

Auch in Großbritannien ist von Tausenden hinter Gittern vergewaltigten Männern pro Jahr die Rede. Was die Situation in Deutschland angeht, zeigte eine 2012 veröffentlichte Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, dass die Wahrscheinlichkeit, im Jugendvollzug innerhalb eines Monats vergewaltigt zu werden, hierzulande bei sieben Prozent liegt. "Das ist eine Horrorquote. Wir haben ja nicht nach einem Jahr gefragt", erklärte dazu Christian Pfeiffer, Leiter des Forschungsinstituts. Niedersachsens Justizminister Bernd Busemann (CDU) wird vom Tagesspiegel damit zitiert, er könne derlei Zahlen "gut akzeptieren". Ein Knast sei nun einmal keine Mädchenpension. Äußerungen wie diese sind für Politiker unproblematisch: Wie eine tiefgehende Analyse auf Youtube zeigt, dient die Erwähnung solcher Verbrechen in Serien und Filmen ohnehin nur vielfältigen Späßen, Witzen und guter Laune.

Häufig stellt man sich beim Thema "Vergewaltigung im Gefängnis" vor, dass dabei ein Mann von einem anderen Mann vergewaltigt wird. Die neuere Forschung zeichnet ein differenzierteres Bild. So zeigt eine Studie des US-Justizministeriums, dass zwölf Prozent aller Jugendlichen während ihrer Haft sexuell missbraucht werden – die große Mehrheit von ihnen durch Wärterinnen. Dazu heißt es in dem linksliberalen Magazin The Atlantic:

"Unter den Erwachsenen, die sexuellen Kontakt mit dem Gefängnispersonal meldeten, einschließlich einiger Kontakte, die Gefangene als 'freiwillig' bezeichneten, die aber tatsächlich oft mit Zwang zu tun haben und immer illegal sind, nannten 80 Prozent ausschließlich weibliche Täter. Bei den Jugendlichen waren es 89,3 Prozent. Homosexuelle Männer und Frauen berichteten zwei- bis dreimal häufiger über solche Fälle. 'Der unverhältnismäßige Missbrauch durch weibliche Mitarbeiter tritt nicht auf, weil mehr Frauen beim Haftpersonal tätig sind', schreiben die Autoren der Studie. 'Männer sind in Positionen, die einen direkten Kontakt mit Insassen erfordern, in einem Verhältnis von drei zu eins in der Überzahl.'"

Vergewaltigungen von Jungen und Männern hinter Gittern gehören zu den Menschenrechtsverletzungen, denen sich insbesondere die Männerrechtsbewegung annimmt. Nicht zuletzt wegen solcher politisch unerwünschten Themen werden Männerrechtler allerdings selbst immer wieder angefeindet und ausgrenzt.

Wie diese Bewegung unverdrossen aufzeigt, sind Massenergewaltigungen von Männern zwar höchst selten Teil der in den Leitmedien  geführten Geschlechterdebatte, aber nichtsdestoweniger weltweit verbreitet: Von 5000 Männern beispielsweise, die während des Bosnienkrieges in einem Sammellager bei Sarajevo gefangen gehalten wurden, berichteten 80 Prozent, sexuell missbraucht worden zu sein. In El Salvador sprachen 76 Prozent aller männlichen politischen Gefangenen von sexueller Folter. Man findet das Phänomen auch in Sri Lanka, Chile und dem Iran. Dennoch, das weiß die US-Wissenschaftlerin Professor Lara Stemple von der Universität Los Angeles, wird über diese Männer kaum gesprochen. Der Grund? "Menschen denken gerne in Stereotypen", erklärt Stemple. Und die Vorstellung von Männern als Opfern statt Täter sexueller Gewalt passt nicht in dieses Schema.

Daher gibt es beispielsweise UN-Resolutionen (Nummer 1325 und 1820) aus den Jahren 2000 und 2008, die einen besseren Schutz von Frauen in Konfliktzonen einfordern, sexuelle Gewalt gegen Männer jedoch totschweigen. Als man Dokumente von mehr als 4000 Nichtregierungsorganisationen untersuchte, die sich mit sexueller Gewalt befassen, zeigte sich: Nur drei Prozent erwähnen Männer überhaupt als Opfer und wenn überhaupt, dann nur flüchtig. So bestätigt Dr. Chris Dolan, der britische Direktor des Refugee Law Projects, zunächst, wie wenig sich die Organisationen, die sich um sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalt kümmern, mit männlichen Opfern beschäftigen: "Es wird systematisch ausgeblendet. Wenn Sie sehr, sehr viel Glück haben, dann widmen sie der Sache am Ende eines Berichts eine Randnotiz. Sie bekommen vielleicht fünf Sekunden a la ‘Ach ja, Männer können auch Opfer sexueller Gewalt sein.’ Aber keine Zahlen, keine Diskussion."

Ein Bericht der Vereinten Nationen vom November 2006, der einer internationalen Konferenz über sexuelle Gewalt im Osten Afrikas folgte, dient als typisches Beispiel: "Mir ist als Tatsache bekannt, dass die Leute hinter diesem Bericht darauf bestanden haben, dass die Definition der Vergewaltigung auf Frauen begrenzt bleibt", erklärt Dolan und ergänzt, dass einer der Spender des Refugee Law Projects, das Holländische Oxfam, sich weigerte, ihm jegliche Spendengelder zukommen zu lassen, bis er versprach, dass siebzig Prozent seiner Klienten weiblich sein würden. Einem Mann, dem es besonders übel ging und der an den Flüchtlingsrat der Vereinten Nationen verwiesen wurde, sagte man dort nur: Wir haben ein Programm für verwundbare Frauen, aber nicht für Männer."

Lara Stemple kann die sexistische Ausrichtung internationaler Organisationen bestätigen. Es gebe, berichtet sie, einen "konstanten Trommelwirbel, dass Frauen DIE Opfer von Vergewaltigungen sind" und ein Milieu, in dem Männer als "einheitliche Täterklasse" erscheinen. Internationale Menschenrechtsgesetze ließen Männer bei allen Maßnahmen aus, die sexuelle Gewalt angehen sollen. "Die Vergewaltigung von Männern zu ignorieren vernachlässigt aber nicht nur Männer, es schadet auch Frauen", argumentiert Stemple, "indem es eine Perspektive verstärkt, die ‘weiblich’ mit ‘Opfer’ gleichsetzt und dadurch unsere Fähigkeit behindert, Frauen als stark und machtvoll wahrzunehmen. Auf dieselbe Weise bestärkt das Schweigen über männliche Opfer ungesunde Erwartungen über Männer und ihre vermutete Unverwundbarkeit."

Punktuell immerhin wird das Tabu allmählich aufgebrochen. Eine 2010 veröffentlichte Studie über die am heftigsten umkämpften Regionen in der Demokratischen Republik Kongo ermittelte, dass 24 Prozent der Männer (und 40 Prozent der Frauen) sexuelle Gewalt erfahren hatten, aber gezielte Hilfsangebote für die männlichen Opfer fehlen. Im Bürgerkrieg Liberias zu Beginn dieses Jahrtausends wurden 42 Prozent der weiblichen und 33 Prozent der männlichen Kombattanten Opfer sexueller Gewalt.

Am 26. Februar 2013 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch den Bericht "We Will Teach You a Lesson" Sexual Violence against Tamils by Sri Lankan Security Forces, der sich mit Vergewaltigungen und anderen Formen sexueller Gewalt beschäftigt, die Mitglieder des Militärs und der Polizei an Tamilen ausüben, die von den Tätern mit der sezessionistischen Gruppe Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) in Verbindung gebracht werden. Dieser Bericht dokumentiert 75 Fälle von Vergewaltigung; die Opfer sind 31 Männer, 41 Frauen und 3 Jungen. In dem Bericht heißt es allerdings auch: "Das Thema der Vergewaltigung von Männern und sexueller Gewalt gegen Männer ist bislang nicht angegangen worden. Von Opfern wie Tätern gleichermaßen unterdrückt bleibt die Vergewaltigung von Männern ein Tabuthema, und Strategien, dieses Verbrechen zu bekämpfen, fehlen auf eklatante Weise." Es sind allerdings nicht allein die Opfer und die Täter, die dieses Thema unterdrücken. Viele Journalisten und viele Genderforscher lassen die Männerrechtsbewegung mit der Thematisierung solcher Greuel allein.

Um zu unterbinden, dass Vergewaltigung weiter als Waffe im Krieg verwendet werden kann, da jedenfalls ist sich Chris Dolan vom Refugee Law Project sicher, wäre der beste Weg, auch Männer in das Thema Geschlechtergerechtigkeit einzubinden: "Unglücklicherweise wurde das Geschlechterthema bislang allein als eine Diskussion über Frauenrechte behandelt. Und daher glauben die meisten Männer, dieses Thema hätte nichts mit ihnen zu tun."

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