Vögelchen flieg!

Bei Wind und Wetter ist er da. Die meisten die an ihm vorbeikommen, gehen weiter, ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken.
Ich kann ihn von meinem Schreibtisch aus den ganzen Tag beobachten. Vorausgesetzt ich stelle meine Arbeit ein und konzentriere mich nur auf ihn. So gerne ich dies auch tun würde. Aber mein Chef bringt dafür wenig Verständnis auf. Er ist ein gnadenloser und rücksichtsloser Kapitalist, der nur seinen finanziellen Vorteil sieht und mich eigens dafür eingestellt hat, um sein Vermögen ins unermessliche zu steigern, dank meiner Arbeit. Ich hingegen bin ein Tagträumer, der gerne neugierig seinen Gedanken nachhängt. Während er täglich mit dem Auto, natürlich dem neuesten Modell einer führenden Automarke, in die Firma kommt, habe ich zwei gute durchtrainierte Beine, die einen täglichen Kampf gegen den Asphalt auszufechten haben. Kein Hundehaufen, mit dem ich nicht schon einmal Bekanntschaft gemacht habe, durch meine fortwährende Gedankenabschweifung, auf dem täglichen Weg zu meiner verhassten und langweiligen, monotonen Arbeit, die lediglich meinem Überleben, aber nicht meiner Lebensfreude dient. Jeden morgen erwartet mich mein Chef, mit dem Blick auf die Uhr, die ihm verrät, um wie viele Minuten ich mich heute wieder verspätet habe. Dabei interessiert es ihn in keiner Weise, ob ich vielleicht einer alten Oma über die Straße geholfen oder einem aus dem Nest gefallenen Vögelchen beigestanden habe. Er besteht auf Pünktlichkeit!
Es ist geradezu eine Marotte von ihm. Und das lässt er mich täglich, mit großer Freude spüren. Und dabei ist er dann nicht wirklich diskret und behält seinen Unmut für sich. Nein, jeden morgen sieht er mich kopfschüttelnd an und äußert sich dann auch noch verbal.
„Na, wieder mal ein Vögelchen gerettet?“
Und in seinen Worten schwingt unterschwellig etwas Vogelhassendes mit. So etwas spüre ich sofort, denn ich bin sehr sensibel. Aber sensible Menschen haben es in unserer heutigen Gesellschaft nicht leicht. Ich interessiere mich für meine Umwelt und meine Mitmenschen. Und wenn ein kleines Vögelchen meiner Hilfe bedarf, dann ist es doch selbstverständlich, dass ich auf den Baum steige, damit das kleine Vögelchen wieder in sein Nest findet. Wenn dabei Teile meiner Hose auf der Strecke bleiben, dann ist es eben von Gott so gewollt. Mein Chef hat, für solche Ausflüchte, wie er es immer nennt, wenig, um nicht zu sagen überhaupt kein Verständnis. Inzwischen habe ich, um ihm meinen guten Willen zu zeigen, eine Ersatzhose in meiner Schreibtischschublade liegen, denn jeden Morgen dieses Gezeter, das haut ja den kleinsten sensiblen Mitarbeiter um. Ich arbeite zwar nicht gerne bei ihm, doch lässt es sich wegen unserer familiären Vermögenssituation nicht ändern. Zwar spiele ich seit Jahren Lotto, doch scheinen Fortuna meine Glückszahlen nicht sonderlich zu inspirieren. Geradezu ignorant werden meine Zahlen behandelt, genauso wie ich von meinem Chef. Er redet den ganzen Tag nur das Nötigste mit mir. Dabei dreht es sich immer nur um Umsatz und Gewinnoptimierung. Für das Vögelchen hat er sich noch nie interessiert. Als die Stadt den Baum fällen wollte, damit dort Parkplätze entstehen konnten, hat er als erster eine Petition unterschrieben, die diesen Vorschlag unterstützte. Mir hat er eine Abmahnung zukommen lassen, weil ich drei Tage unentschuldigt gefehlt habe. Dabei hat er genau gesehen, wie ich angekettet auf dem Baum gesessen habe und mich für das Vogelnest eingesetzt habe. Er stand sogar dabei, als der Baum gegen eine Motorsäge sich gestemmt hatte. In den folgenden zwei Wochen, die ich im Krankenhaus zugebracht habe, fand er keine Zeit, mich zu besuchen. Stattdessen hat er mir die Hälfte meines Urlaubsanspruchs gestrichen. Mein Chef ist kein netter Mann! Seine sadistische Ader geht sogar so weit, dass er sich den, durch den Wegfall des Baumes, entstandenen Parkplatz, anmietete. Ich muss jetzt einmal die Woche dort sein Auto waschen, mit einer Zahnbürste. Das ist für einen sehr sensiblen Menschen wie ich, kein leichtes Unterfangen. Bevor der Baum und ich gefällt wurden, konnte ich noch sehen, wie das Vögelchen seine Flügel ausbreitete und fortflog. Das machte mir das Herz froh und mein gebrochenes Bein tat mir auch nicht mehr so weh. Als ich dann, mit Krücken bestückt, wieder auf der Arbeit erschien, kam in meiner Mittagspause ein Vögelchen angeflogen, setzte sich zu mir auf die Fensterbank und wir teilten uns mein Pausenbrot. Bis zum Winter hin, kam es jeden Tag gegen Zwölf und wir unterhielten uns angeregt. Und das beste daran war, immer wenn mein Chef hereinkam, war das Vögelchen verschwunden. Sonst hätte er mich auch sicher noch in meiner Mittagspause angeschnauzt. Irgendeinen Grund hätte er schon gefunden. Doch eines Dezembertages wartete ich vergebens auf das Vögelchen. Es war wohl mit seiner Familie nach Süden geflogen, da wo es wärmer ist. Dabei habe ich ihm so viel Wärme und Liebe geschenkt - und immer die Hälfte meines Sonnenblumenkernleberwurstpausenbrotes. Inzwischen bin ich wieder auf Weizenmischbrot umgestiegen. Das ist billiger und die Sonnenblumenkerne haben mir immer Stuhlprobleme bereitet. Den harten Stuhl habe ich gerne für das Vögelchen auf mich genommen, doch solange es im Süden zu Besuch ist, erfreue ich mich an einem weichen Stuhl. Aber ich denke täglich an meinen gefiederten Freund.
Wenige Tage, nachdem ich meine Ernährung erfolgreich umgestellt hatte, entdeckte ich zum ersten mal den Mann, der gegenüber vor der Hauptpost kniete.
„Ob er wohl betet?“, ging es mir durch den Kopf. Es musste ihm warm sein, obwohl draußen bereits Dezember war, hatte er seinen Hut vor sich auf dem Bürgersteig abgelegt. Es musste ein sehr langes Gebet gewesen sein, denn als ich Feierabend machen durfte, kniete er immer noch da.
Als ich am nächsten morgen zur Arbeit kam, saß mein Chef auf meinem Platz und sah auf seine Uhr. Das ich noch schnell einer jungen Mutter den Kinderwagen in den dritten Stock hoch getragen hatte, ließ ihn völlig kalt. Er ließ wieder einmal seinen Pünktlichkeitswahn an mir aus. Das hatte im Laufe der Jahre schon pathologische Züge angenommen. Inzwischen machte ich mir schon ernsthafte Sorgen um ihn. Ich zog sogar meine Hausärztin ins Vertrauen, nachdem ich mir versichert hatte, das ich auf ihre ärztliche Schweigepflicht vertrauen könnte. Nachdem ich ihr, bis ins kleinste Detail, das Krankheitsbild meines Chefs geschildert hatte, gab sie mir einen sehr ungewöhnlichen Rat. Ich versicherte mich durch mehrfaches Nachfragen, ob ihre Diagnose auch sicher richtig sei, was sie jedes mal bejahte. Schweren Herzens, aber der Autorität meiner Ärztin folgend, erschien ich am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit.
Hätte ich vorher gewusst, wie er darauf reagieren würde, dann wäre mir vieles erspart geblieben. Aber so sind Männer nun einmal. Sie gehen erst nach viel zu langem Zögern zu ihrer Ärztin, selbst wenn diese noch so attraktiv ist. Zukünftig werde ich nicht mehr so lange warten und beim kleinsten Problem, die Ärztin meines Vertrauens aufsuchen. Eine Stunde vor Dienstbeginn saß ich bereits an meinem Schreibtisch, in froher Erwartung meines kranken Chefs. Ich war extra so früh von zuhause weggegangen, für den Fall, unterwegs würde meine Hilfe gebraucht. Womöglich wäre ich dann nicht rechtzeitig zur Arbeit erschienen und der ärztliche Therapieansatz wäre dahin gewesen. Aber der Weg zur Arbeit, der sonst mit Problemen, Hilfeanfragen oder anderen Unwägbarkeiten gepflastert ist, zeigte sich heute von seiner besten Seite. Und so blieb mir sogar noch ausreichend Zeit, für meinen Chef Kaffee zu kochen. Ein Novum! Gerade als ich aus dem Fenster sah, kam auch schon der gläubige Mann, der sich wieder vor der Hauptpost hinkniete und gesenkten Hauptes, seiner religiösen Tätigkeit nachzugehen, nicht jedoch, ohne vorher seinen Hut vor sich abzulegen. Kaum hatte er sich als „Denkmal des Glaubens“ eingerichtet, als auch schon mein Chef vorfuhr und seinen Wagen auf die „Baumgedenkstädte“ zu parkieren. Schnell richtete ich Tasse, Untertasse, Löffel, zu einem kleinen Gedeck zusammen. Dann hörte ich, wie unten die Haustüre aufgesperrt wurde. Das gab mir noch genügend Zeit, um zwei Zuckerwürfel in die Tasse zu werfen. Das Knarren der alten Holztreppe, die unter seinem Gewicht aufstöhnte, veranlasste mich, den frisch aufgebrühten Kaffee, über die Zuckerwürfel zu gießen, zum Zwecke deren Auflösens, was sich auf die Süße des Kaffees auswirkte. Das schwere Stöhnen, ein mir bekanntes Anzeichen seiner dekadenten Lebensführung, die eine Fettleibigkeit als Ausdruck seines Reichtums zur Folge hatte, war vor meiner Bürotür deutlich hörbar. Zur Abrundung meiner ärztlich verordneten Pünktlichkeit erlaubte ich mir, ein selbständiges Lächeln mir ins Gesicht zu installieren. Wie ein Butler, aus einem viktorianischen Sittengemälde des 19. Jahrhunderts, stand ich da, um zu sehen, welche sofortige Heilung bei ihm eintreten würde. Zuvor hatte ich noch das Licht gelöscht, damit die Überraschung noch größer ist. Den Atem anhaltend stand ich da, mit dem Begrüßungskaffee, der herrlich duftend, seinen Dampf nach oben sandte und meine Nickelbrille anhauchte, die sich daraufhin als Beschlagen geschlagen geben musste. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt und die Tür wurde geöffnet. Dann hörte ich das Tasten, dem Suchen nach dem Lichtschalter. Plötzlich wurde es taghell im Zimmer und mein Chef stand vor mir. War es nun der Kaffee oder doch die Überraschung meines lächelnden Antlitzes? Diese Frage hat mich noch lange beschäftigt. Laut der Autopsie wurde eine angeborene Herzschwäche als Ursache seiner ungewöhnlichen Reaktion auf mich ausgemacht. Jedenfalls wurde ich von jeglichem Vorwurf freigesprochen und entging so einem drohenden Justizirrtum. Die Witwe dankte mir ausdrücklich für mein vorbildliches Verhalten und beförderte mich zum Geschäftsführer. Sie, die sich früher nie für die Geschäfte ihres Mannes interessierte, erschien nun täglich in der Firma und ließ sich sogar einen Schreibtisch in mein Büro stellen, direkt mir gegenüber. Dort saß sie nur und immer wenn ich von meiner Buchführung aufschaute, lächelte sie mich an. Dies führte dazu, mir diese, meine neue Chefin, etwas genauer anzusehen. Und das, was ich so sah, missfiel mir durchaus nicht. Sie war so ganz anders als ihr Vorgänger. Von Fettleibigkeit war nichts zu entdecken und falls sie doch darunter gelitten hätte, konnte sie es gut verstecken. Was aber besonders faszinierte, war nicht, dass sie mich morgens mit einem Kaffee bereits begrüßte, auch sagte sie nie einen Ton, wenn ich mich verspätete, weil wieder meine dringliche Hilfe irgendwo vonnöten war, all dies war es nicht. Es waren ihre Augen. Himmelblaue Augen! Wenn man hineinsah, glaubte man, in ein kristallklares Meer blicken zu können. Und so saßen wir oft stundenlang da, blickten uns gegenseitig in die Augen. Erst nach einigen Wochen bemerkte ich eine Veränderung an mir. Ich war seit Tagen pünktlich zur Arbeit erschienen. Ich versagte sogar einer alten Dame meinen Arm, den sie sich zur Überquerung der Straße erbeten hatte. Spätestens da, als die Reifen eines Linienbusses lautstark abbremsten, Schreie zu hören waren und die Sonne sich in ihrem Einkauftrolly widerspiegelte, der unter dem Bus hervorlugte, da erkannte ich es. Ich war verliebt. Ich lief über die Straße, hin zum Büro, begleitet nur von dem Sirenengeheul eines sich nähernden Krankenwagens. Doch nichts konnte mich aufhalten. Als ich auf Höhe der Hauptpost kam, stieß ich mit dem Fuß gegen einen Hut, den irgendwer da verbotener Weise aufgestellt hatte. Einige traurige Münzen fielen heraus und kullerten durch die Öffnung eines Kanaldeckels. Ich rannte die alte Holztreppe hinauf, riss die Bürotür auf und da saß sie, so wie jeden Tag.
„Ich liebe dich!“, schrie es förmlich aus mir heraus.
Sie lächelte mich an, wie nur sie es tun konnte. Dann öffnete sie leicht ihren Mund und tausende wunderbarer weißer Zähne kamen zum Vorschein. Ich lief zu ihr hin und schloss ihren Mund wieder - - mit meinem. Sofortiger Speichelfluss war die Folge.
Unter Umgehung einer überflüssigen Verlobungszeit standen wir bereits wenig später vor einem Standesbeamten, der uns zu Mann und Frau machte.
Nun war ich der Chef und suchte mir alsbald einen Angestellten, der meine Arbeit übernahm, damit ich mich ganz auf meine Chefposition konzentrieren konnte.
Ein unpünktlicher Kerl, der nichts als Träumereien im Kopf hatte. Aber so was zieht bei mir natürlich nicht. Samstags verdonnerte ich ihn zum Autowaschen! Eines Tages war auch der öffentliche Vorbeter verschwunden, dem der eisige Winter doch sehr zugesetzt hatte. Nun konnte man wieder aus dem Fenster schauen, der wieder einen ungestörten Blick auf die Hauptpost freigab.
Alles hätte so schön sein können, doch eine liebgewordene Freundschaft, konnte und wollte ich nicht aufgeben.
Denn eines Tages, da war das kleine Vögelchen aus seinem Urlaub heimgekehrt und die Zeit meines harten Stuhls brach wieder an.

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