Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
Der Kommentar von Olaf Gersemann stellt die weitverbreitete Forderung nach einem weiteren Ausbau der Kita-Infrastruktur infrage. Zwar sei der Ruf nach mehr Kitas populär und in der Politik weitgehend unstrittig, doch werde dieser als vermeintliche Lösung für sinkende Arbeitsstunden fehlinterpretiert. Der Autor betont, dass die Beschäftigung in Kitas seit 2006 um 113 Prozent gestiegen sei, der tatsächliche Nutzen jedoch fraglich bleibe. Zwar sei das frühere Missverhältnis von Angebot und Nachfrage reduziert worden, zugleich sinke die Zahl der betreuungsbedürftigen Kinder. Statt von einem zu geringen Angebot auszugehen, müsse man hinterfragen, ob weitere Investitionen in diesem Bereich angesichts des hohen Staatsausgabenanteils sinnvoll seien. Außerdem fehle es an überzeugender Evidenz, dass mehr Kita-Plätze die Erwerbstätigkeit substanziell erhöhen, da viele Paare ihre Arbeitszeit ohnehin als Haushaltsmodell flexibel aufeinander abstimmen. Gersemann kritisiert daher den „Mehr-Kita“-Diskurs als kostspieliges Ablenkungsmanöver, das gesellschaftspolitisch kaum wirksam sei, aber personelle und finanzielle Ressourcen binde, die andernorts dringender gebraucht würden. (Olaf Gersemann, Welt)
Hier werden gleich mehrere Probleme in der Debatte sichtbar. Erstens, wo ist die Empirie? Warum zur Hölle macht nicht irgendeine Familienministerin mal eine vernünftige Studie? Dann könnten wir uns rein auf Folgenargumenten (weil A folgt B) sparen. Die sind für beide Seiten grundsätzlich plausibel, aber abgesehen von der ständigen Wiederholung ändert sich nichts - außer den gesellschaftlichen Normen, die sich gerade wieder in Richtung Konservatismus verschieben. Und das ist der zweite Punkt: Gersemann argumentiert hier in vielen Worten einfach dafür, dass Frauen die Care-Arbeit übernehmen sollen; bei ihm heißt das halt "pragmatisches Begreifen als Wirtschaftseinheit". Denn darauf läuft das raus. Das widerspricht aber total der "alle sollen mehr Arbeiten"-Philosophie und beschreibt das konservative Familienpolitikdilemma seit Merkels Regierungsantritt 2005: die wirtschaftlich liberale Forderung, möglichst breiten Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, steht in direktem Konflikt zur konservativen Forderung, traditionelle Familienmodelle zu haben. Dieser Widerspruch wurde unter Merkel nie aufgelöst, und auch unter Merz wird er vor allem dadurch behandelt, dass man beide Forderungen einfach mit mehr Verve erhebt. Arbeitet mehr! Schickt eure Kinder nicht in die Kita! Quadriert den Kreis!
2) Prien will Pflichtbesuch in KZ-Gedenkstätten im Lehrplan
80 Jahre nach Kriegsende fordert Bildungsministerin Karin Prien verpflichtende KZ-Gedenkstättenbesuche für Schüler*innen. Lehrpläne müssten dies künftig vorsehen, so Prien, da solche Orte durch „die Beschäftigung mit Einzelschicksalen“ Empathie fördern könnten. Der bloße Besuch reiche aber nicht aus – entscheidend sei die Einbettung in fundierten Unterricht, der deutlich mache, „wie so etwas entstehen konnte“. Es gehe darum, die Entwicklung der NS-Herrschaft – von Entrechtung bis zum Völkermord – nachvollziehbar zu machen. Zudem plädierte Prien dafür, dass Jugendliche sich verstärkt mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen. Weil Zeitzeugen zunehmend fehlten, könnten Begegnungen mit Nachfahren von Opfern, auch aus Mittel- und Osteuropa, eine alternative Form der Erinnerungskultur darstellen. Die Ministerin betonte, dass ein Gedenkstättenbesuch allein keine „Demokraten“ mache, sondern es pädagogischer Qualität bedürfe, um historisches Bewusstsein und Haltung zu fördern. (NTV)
Alle Jahre wieder kommt dieser Vorschlag aus der Mottenkiste, quasi das erinnerungspolitische Sommerlochpendant zum 17. Bundesland Mallorca. Es ist und bleibt Unsinn. Was mich daran die Wände hochtreibt ist, dass Prien in ihrer Begründung eigentlich alles Notwendige bereits sagt. Das Relevante ist nicht ein Besuch in der Gedenkstätte; der alleine tut nichts. Das Relevante ist der vernünftige Unterricht, in dem das Ganze vorbereitet wird und in dem das eigentliche Verständnis entsteht. Eine Gedenkstätte kann da eine zusätzliche, emotionale Ebene schaffen, aber von sich aus tut sie wenig. Dazu kommt etwas, das Prien gar nicht erwähnt: sowohl der Unterricht als auch der Gedenkstättenbesuch erfordern eine grundsätzliche Offenheit. Weder mit einem Rechtsradikalen noch mit einem Pro-Hamas-Judenhasser wird das eine oder das andere etwas nützen. Gedenkstätten sind keine magischen Orte, an deren Eintritt ein Bewusstsein entsteht. Dafür braucht es auch eine geistige Offenheit, die niemals alle haben werden. Als letztes wäre da ein logistisches Problem: die Gedenkstätten könnten so viele Besucher*innen gar nicht aufnehmen. Auschwitz etwa ist bereits jetzt überlastet. Jährlich Millionen Schüler*innen zusätzlich können die gar nicht verkraften. Deswegen bleibt die Forderung letztlich leere Symbolpolitik.
3) What fires burned at Auschwitz? On the place of the Holocaust in uneven and combined development.
Der Essay setzt sich kritisch mit der weitverbreiteten Vorstellung auseinander, der Holocaust sei ein genuines Produkt industrieller Moderne gewesen – ein „Todesfabrik-System“ im Stil moderner Produktion. Der Autor betont, dass diese Deutung inzwischen zur inhaltlich entleerten Routine geworden sei – ein „Klischee“, das durch Assoziationen mit Bahngleisen, Fahrplänen, Fabriken, Schlachthöfen oder dem Bild von Seife aus Menschenfett bedient werde. Diese symbolhaften Deutungen, etwa bei Anselm Kiefer oder Hannah Arendt, hielten Distanz zum eigentlichen Geschehen und seien oft analytisch vage. Der Text plädiert für einen anderen Zugang: Statt die Vernichtung metaphorisch zu überhöhen, solle man sich mit der konkreten technischen, logistischen und materiellen Realität des Holocaust befassen – zum Beispiel mit Transportkapazitäten, Ofenleistung, Lüftungsanlagen oder dem vergleichsweise geringen Ressourceneinsatz für die Massenvernichtung. Die NS-Mordmaschinerie sei technisch gesehen ein „ramshackle“ – also bruchstückhaftes – System gewesen, weder wirtschaftlich prioritär noch technisch hochentwickelt. Das Fazit: Der Holocaust war kein Höhepunkt industrieller Rationalität, sondern ein politisch motivierter, ideologisch aufgeladener Zivilisationsbruch mit banalen Mitteln. Wer das industrielle Bild unhinterfragt übernimmt, verharmlost gerade das historisch Einzigartige – nämlich die brutale Gleichzeitigkeit von modernem Verwaltungsapparat und primitiver Vernichtungstechnologie. (Adam Tooze, Chartbook)
Es sind Artikel wie diese, die mich nur gequält auflachen lassen, wenn mal wieder jemand die vermutlich unvermeidliche Frage stellt, ob es denn bei einem so bekannten Thema wie dem Holocaust noch neue Dinge zu entdecken gäbe. Ich wäre jetzt auch nicht eben auf die Idee gekommen, die Industrialität des Holocaust derart in Frage zu stellen, wie Tooze das hier tut, von den beeindruckenden Resultaten dieser Untersuchung einmal abgesehen. Die Perversität dieser Untersuchung, die Tooze ja auch offen anspricht und zugibt, steht dabei einem Erkenntnisgewinn nicht im Wege. Denn den Holocaust auf eine Art Podest zu stellen und ihn im wahrsten Sinne des Wortes unbegreifbar zu machen, ihn der eigentlichen Beschäftigung und Debatte zu entheben und stattdessen zunehmend sinnentleerte Gedenkrituale an seine Stelle zu packen, ist wahrlich nicht hilfreich, schon gleich dreimal nicht, wenn man den nicht enden wollenden Angriff der radikalen Rechten auf die Erinnerungskultur bedenkt, wie er leider dank der AfD mittlerweile hoffähig geworden ist. Ähnliche Einsichten wie die, die Tooze hier für die Vernichtungslager formuliert, waren ja durch neuere Untersuchungen der Massenerschießungen (man denke etwa an Snyders Forschung) bereits verbreitet worden und hatten das ikonografische Bild von Auschwitz (eigentlich ja: Birkenau) relativiert. Weitere Relativierungen werden folgen und unser Verständnis des Holocaust weiter schärfen - denn nur dann kann der Anspruch des "Nie wieder" auch eingehalten werden.
4) Das Schweigen über „Pfizergate“
Der Artikel beschreibt die Kontroversen um Ursula von der Leyens „Pfizergate“, bei dem die EU-Kommissionschefin während der Corona-Krise mutmaßlich per SMS einen Vertrag über rund 35 Milliarden Euro mit Pfizer-Chef Albert Bourla abgeschlossen habe. Die Details des Deals seien bis heute geheim – weder Verträge noch Textnachrichten seien öffentlich zugänglich. Ein Gericht habe kürzlich einen Verstoß gegen Transparenzregeln festgestellt, doch die Kommission behaupte, die Nachrichten seien „nicht auffindbar“. Der Skandal werde von der Kommission systematisch verdrängt: Pressekonferenzen zum Thema seien vermieden worden, und es fehle der politische Druck auf von der Leyen, um Aufklärung zu fordern. Der Artikel kritisiert, dass die Kommissionspräsidentin gerne Transparenz von anderen verlange, sich selbst aber der Rechenschaft entziehe. Dies untergrabe die Glaubwürdigkeit der EU und biete Populisten Angriffsflächen. Die Macht der Kommissionspräsidentin und die Unterstützung durch ein Netzwerk loyaler Verbündeter führten dazu, dass Kritik verebbte und der Skandal aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt werde. Die EU, die oft demokratische Werte betone, sei in diesem Fall selbst intransparent. ( Stefan Beutelsbacher, Welt)
Selbstverständlich lief da nicht alles sauber. Die EU-Länder wollten und brauchten die Impfdosen. Weltweit war der Vorrat begrenzt. Es gab keinerlei System für eine faire globale Verteilung. Das läuft ungefähr auf derselben moralischen Ebene wie Geheimdienstarbeit. Natürlich ist es intransparent, natürlich hat es nur peripher mit rechtsstaatlichen Verfahren zu tun, aber es ging um die öffentliche Sicherheit. Ich finde das ist eine ganz andere Schiene als Vorwürfe von Korruption, um die es, soweit ich das überblicke, ja nicht geht. Letztlich wird von der Leyen zum Vorwurf gemacht, dass sie für die Bürger*innen der EU das Zeug organisiert hat. Dass die Nachrichten "nicht mehr auffindbar" sind, glaube ich sofort. Ist das ein Skandal? Klar. Und natürlich ist es letztlich ein klarer Widerspruch zu den Werten, die man offen zu haben behauptet. Aber wer glaubt, dass die US-Regierung ihre Impfdosen damals in einem transparenten und offenen System erworben hat, für den hab ich einen Palast in Venedig günstig abzugeben.
5) Wo Konservative und Linke irren
Der Gastbeitrag von Claudia Diehl thematisiert die erbitterte und ideologisch geprägte Debatte über die Integration von Zugewanderten in Deutschland. Konservative argumentieren, dass kulturelle Hintergründe, insbesondere aus muslimischen Ländern, Integration erschwerten. Dies werde jedoch empirisch nicht gestützt; entscheidender seien die Bildungschancen der Eltern. Progressive wiederum sehen vor allem strukturellen Rassismus als Ursache für Integrationsprobleme, wobei Diskriminierung in Institutionen wie Schulen und Polizei kritisiert wird. Diehl hält beide Sichtweisen für unzureichend. Sie betont die Bedeutung allgemeiner sozialer Ungleichheit und die Vererbung von Chancenarmut über Generationen. Statt Antirassismus-Trainings oder Symbolpolitik sollten bestehende soziale Herausforderungen gezielt angegangen werden – etwa durch gleiche Bildungschancen, Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen und bessere Kinderbetreuung. Langfristig schreite Integration voran, sei aber ein langwieriger Prozess, der auch von der Reduzierung sozialer Ungleichheit profitiere. (Claudia Diehl, Spiegel)
Mich nervt diese Debatte zunehmend nur noch. Ich merke an mir selbst, wie ideologische Reflexe ständig zuschnappen. Da man keine Lust hat, den zu oft rassistischen Diskursen Feuer zu geben, ignoriert man gerne die Probleme oder malt ein zu rosiges Bild. Auf der Gegenseite sieht es nicht besser aus. Da wäre ein Durchbrechen der klassischen Narrative manchmal schon echt angebracht. Ich glaube zwar nicht, dass eine Konzentration auf Ungleichheit wesentlich mehrheitsfähiger wäre als die aktuellen Diskurse, aber es wäre insofern hilfreich, als dass man die mittlerweile hoffnungslos polarisierte Rassismusdebatte eventuell wirklich etwas in den Hintergrund schieben und konkrete Fortschritte erreichen könnte. Man darf ja noch hoffen.
Resterampe
a) Wohl wahr. (Twitter) Es ist so schrecklich sinnlos.
b) ICE ist echt so abgefuckt. (Twitter)
c) Zum republikanischen Haushaltsentwurf. (MSNBC)
d) "Aber Hunter Bidens Laptop!" (Pro Publica)
e) Guter Artikel zu den Attacken auf die Wissenschaftsfreiheit in Harvard. (Jan Martin Wiarda)
f) Die Welt hat was Gutes zu dieser unsäglichen Abimotto-Diskussion. (Welt)
g) Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Söder-Edition. (Spiegel)
h) Prioritäten. (Twitter)
i) LINKE und Sicherheitspolitik, zwei Welten treffen aufeinander. (Twitter)
k) Porträt von Cem Özdemir. (taz)
l) Nach den Angriffen von Berlin und Remscheid: „Es muss unterbunden werden, dass Messer zur Schule mitgebracht werden“ (News4Teachers). Und da haben wir bisher eine so liberale Messerpolitik an Schulen.
m) Mal was schönes auf Twitter. (Twitter)
n) Einfach ja. (Twitter) Siehe auch hier.
Fertiggestellt am 26.05.2025
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