Meine größte Schwäche liegt tief in mir verborgen. Ich bin, wie vielleicht auch viele von ihnen, ein durch und durch fauler Mensch. Ich stehe zwar morgens sehr früh auf, so diszipliniert bin ich, aber nur, weil mein Wecker außerhalb meiner Armlänge liegt. Das hat finanzielle Gründe! Wenn ich ihn morgens zu greifen bekäme, würde er mit Sicherheit den Aufschlag an der Wand nicht heil überstehen. Und da mein Wecker Bestandteil meines Smartphones ist und somit zu meinem wertvollsten, weil teuerstem Besitz zählt, kann ich mir nicht jeden Tag ein neues Statussymbol leisten. Ignorieren des ‹nervigsten Klingelton ever›, ist quasi unmöglich. 

Mein müder und träger Körper würde sich ja noch auf stur stellen lassen, doch mein empfindsames Nervenkostüm ist sofort angespannt und entwickelt sich sekündlich in einen mordlüsternen Elektronikschrott verzehrenden Kannibalen.
Nur der wöchentlich ausbleibende Lotto-Gewinn hindert mich daran, dem Smartphone den gar aus zu machen, da ich mich pekuniär nicht in der Lage sehe, mir täglich ein neues Folterinstrument mit Telefonfunktion zu kaufen. Ähnlich sieht es übrigens auch meine Bank, wie sie mir regelmäßig mitteilt. Inzwischen sind deren Briefe weniger Mitteilung, sondern haben sich mehr in den Zustand einer offenen Drohung weiterentwickelt.
Also verhalte ich mich auch dementsprechend. Ich betrachte sie so, wie richtige Männer mit Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt umgehen. Sie werden als überflüssig betrachtet. Das geht auch eine ganze Weile ganz gut. Dann kommen entweder die Schmerzen oder der Gerichtsvollzieher. Ich war vom Glück besonders umschmeichelt worden und bekam gleich die doppelte Dröhnung. Auf Anraten eines seit Tagen verstopften Darms, entschied ich mich, gegen besseres Wissen, einen Arzt meines Vertrauens aufzusuchen. Einen solchen zu finden, ist für einen echten Mann, der sich noch als ‹Jäger und Sammler› versteht, nicht so einfach. Er kennt nämlich keine Ärzte und vertrauen tut er nur sich selbst. Normalerweise würde jetzt die Ehefrau einschreiten, ein Füllhorn guter Ratschläge über ihm ergießen.
Wohl dem, der Solo ist. Wozu braucht man eine Frau, wenn man Liebschaften haben kann. Meine Liebschaften sind da auch eher zeitlich eingegrenzt. Ich leiste sie mir zwei mal im Monat und jeweils für eine Stunde. Mehr ist finanziell nicht drin und wie mir soeben der Gerichtsvollzieher mitteilt, auf eine sehr höfliche und angenehme Art, könnte ich mir dies zukünftig auch nicht mehr erlauben und ich würde mir besser eine kostengünstigere, noch besser eine kostenlose Alternative überlegen. Zwei Nackenschläge an einem Tag! Halleluja!
Verstopft und Pleite sitze ich nun da. Zunächst sage ich meiner Herrin Marie ab, dann kaufe ich mir von dem gesammelten Kleingeld Stuhlweichmacher in Form von Pflaumen.
Die Kassiererin an der Kasse staunt nicht schlecht, als ich ihr die zwei und fünf Cent Stücke vorzähle. Und hier zeigt sich dann die ‹Servicewüste Deutschland› at its best! Wenn alte Omas zu Hyänen werden. Als hätten gerade die nicht alle Zeit der Welt. Ich lasse mich, im Gegensatz zu der Kassiererin nicht aus der Ruhe bringen.
»Mehr als fünfzig Münzen darf ich nicht annehmen!«, mault die dralle dreiste unter dem Jubel der Schlange, die inzwischen beim Obst angekommen ist. Auf dem Laufband liegen die Pflaumen und eine Schachtel Zigaretten, die für mein Nervenkostüm unabdingbar sind. Auf keines der beiden Grundnahrungsmittel will und kann ich verzichten.
Rufe werden lauter! »Macht doch eine zweite Kasse auf!  Ist was passiert, ich bin Arztgattin! Wir frieren hier an der Eistruhe!  Gibt es da vorne etwas umsonst? Lassen sie doch das Kind einmal durch! Meine Fruchtblase ist geplatzt!«
»Die Artikel gehen getrennt.«, gebe ich als Information an die Kassiererin weiter. »Und beeilen sie sich doch etwas. Sehen sie denn nicht, dass sich bereits eine Schlange gebildet hat!« Statt sich erneut dem Zählvorgang zuzuwenden, beginnt sie hörbar zu schluchzen.
Ein Sturzbach ergießt sich auf die Obstwaage, die natürlich nun unbrauchbar ist.
»Warum weint denn die Frau?«, fragt ein neunmalkluges Kind, was heute offensichtlich die Schule schwänzt. Natürlich ignoriere ich das Balg. Die Schulschwänzer von heute, sind die Hartz IV Empfänger von morgen! Das ist doch eine alte Binsenweisheit. Trotzdem gelingt es diesem Clerasilabhängigen oder neudeutsch verpixelten Gör, eine ganze Polonaise zahlwilliger Kunden gegen mich aufzubringen.
Ich brauche jetzt dringend eine Zigarette und beginne nun, wohlgemerkt ich bin der Kunde, der Heulsuse in ihrem nassen weißen Kittel, die Münzen zu kleinen Türmchen aufzubauen. Nach geraumer Zeit habe ich Türmchen im Wert von fünf Euro vor ihr hingezählt.
»Jetzt nehmen sie das Geld oder ich nehme eine Stange!« Die reale Drohung blieb nicht wirkungslos. Zitternd nahm sie das Geld und schluchzend legte sie alles in die Kasse, die dann mangels Fassungsvermögen nicht mehr zuging. Technisch gesehen stand sie nun vor einem Dilemma. Solange die Kasse nicht geschlossen ist, kann kein neuer Zahlvorgang eingeleitet werden.
Dass diese neuerliche Problematik sie mehr als überforderte, muss wohl nicht extra erwähnt werden.
Nun bin ich ein sehr ausgeglichener und in sich ruhender Mann, der Problemen nie aus dem Weg geht. Und meine Hilfsbereitschaft ist in unserem Wohnblock geradezu legendär. Wenn da eine alte Oma mit zwei schweren Einkaufstüten kommt, lasse ich ihr im Treppenhaus immer den Vortritt. Wenn es auch noch so lange dauert, ich dränge sie nicht.
Und was mir die Oma im Treppenhaus, ist mir jetzt dieses Häufchen von Elend an der Kasse. Knifflige Herausforderungen sind meine Leidenschaft.  Um meine Konzentrationsfähigkeit in vollem Umfang nutzen zu können, zünde ich mir eine Zigarette an. Nach dem inhalieren zweier Züge feinster krebserregender Inhaltsstoffe, puste ich den Rauch dem Pickligen ins Gesicht, nachdem er überflüssiger weise sich unqualifiziert geäußert hatte. »Rauchen ist tödlich!«, glaubte der Eiterpickelzüchter von sich geben zu müssen. »Rauchen kann tödlich sein!«, verbesserte ich das Streuselgesicht.
»Nichtrauchen endet in jedem Fall tödlich!«, erklärte ich ihm. Wenn er schon hier rumsteht, dann soll er auch was lernen. Seine Mutter hielt sich aus allem raus. Sie haute unablässig in die Tasten ihres Smartphones, mit ihren angeklebten Fingernägeln. Sie sah nur gebannt auf ihr Display und war in einer anderen Welt. Bei dem Kind kann man das ja auch verstehen. War sicher ein Unfall, denn sie sah mir nicht aus, als könnte sie einen Mann halten. Aber meine Zeit ist zu kostbar um mich in die Niederungen einer kaputten Mutter-Sohn Beziehung zu begeben. Jetzt geht erst einmal meine Verstopfung vor.
Das Problem war schnell analysiert. Da die vier von mir sorgsam ausgesuchten Pflaumen als lose Ware zu bezeichnen sind, müssen sie selbstverständlich gewogen werden. Durch ihre unbedachte Gefühlsregung hatte die Kassiererin die dafür vorgesehene und in der Theke eingelassene Waage unter Wasser gesetzt.
Andererseits, wäre die Waage funktionsfähig und den exakten Verkaufspreis anzeigen, könnte sie mich nicht abkassieren, da die Kasse nicht zuging. So diffizil das Problem, so einfach war die Lösung! Ich entschloss mich, meine Pflaumen, auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Zumal ich bemerkte, die eine Pflaume, die ich zur Geschmacksprobe und zum Frischetest, bereits in der Obstabteilung zu mir genommen hatte, zeigte Wirkung. Relativ zügig, verließ ich den Supermarkt unter dem Jubel aller in der Schlange stehenden. Begeistert von mir, warfen mir einige Kaufinteressenten frisches Obst und Gemüse zu. Aus den Tomaten werde ich mir eine schöne Suppe kochen.
Als ich auf dem Nachhauseweg wieder an dem Supermarkt vorbeikam, wurde die Kassiererin gerade auf einer Bahre in einen Krankenwagen geschoben. Ich vermute, die Frau war einfach nicht für den Job gemacht. Wer bei vier Pflaumen so die Fassung verliert, wie soll sie da mit einem Wocheneinkauf einer Großfamilie zurecht kommen. Wäre sie nur einen Hauch freundlicher gewesen, dann hätte ich ihr sogar den zehn Euro Schein gegeben, den ich noch in meiner Jacke gefunden habe.
*
Eine Stunde später hatte sich meine Verstopfung in Wohlgefallen aufgelöst. Wegen so einer Lappalie sitzen andere Leute stundenlang im Wartezimmer eines Arztes herum und hören sich die Horrorgeschichten anderer Patienten an. Und warten – und warten, bis der Arzt endlich vom Golfplatz kommt.
Derweil hat seine unterbezahlte Sprechstundenhilfe bereits die Rechnung geschrieben und für seine Familie den Urlaub auf die Malediven gebucht. Ich habe sechsundsiebzig Cent für die Pflaumen bezahlt. Für die Summe hätte ich keinen Arzt gefunden. Arztfrauen würden auch nie so einfache Pflaumen kaufen wie ich. Die gehen nur in Feinkostläden, um dort handpolierte und seidenpapierummantelte Pflaumen aus ökologisch-dynamischen Anbau, von den Fidschi Inseln zu erwerben. Und die lassen sie sich dann auch noch liefern. Für drei Euro das Stück, kann man ja auch etwas Service erwarten. Und da wird sie auch zuvorkommend mit ‹Frau Doktor› begrüßt, dabei hat sie eine Universität nie von innen gesehen.
Alleine ihrem Aussehen hat sie es zu verdanken, dass sie in den Geldadel aufgenommen wurde.
Und dieses Aussehen war teuer bezahlt. Heute würde sie ihre eigene Mutter kaum wiedererkennen. Im Gegensatz zu ihrer Tochter kennt die Mutter wenigstens die Uni. Schließlich putzt sie dort die Mensa.
Aber was geht mich der Arzt und seine Frau an. Ich kann mir auch so gut helfen. Ich diagnostiziere mich selbst und heile mich dann kostengünstig. Der einzige Arzt, der je Hand an mich legen darf, wird der Leichenbeschauer sein.
*
Somit habe ich also das erste von zwei Problemen gelöst! Jetzt muss ich nur noch meinen pekuniären kleinen Engpass in den Griff bekommen. Das Leben sieht nämlich vor, dass der Mensch zum Überleben Geld benötigt. Jetzt könnte man natürlich vermuten, dass Leben stellt einem dies dann auch kostenfrei zur freien Verfügung. Recht früh schon musste ich jedoch feststellen, dies ist mitnichten so. Hier war ich also einem Trugschluss aufgesessen. Das hat mich in meinen Grundfesten tief erschüttert. Ich weiß von Kindern, die wurden zeitlebens von ihren Eltern finanziert. Was ich auch vollkommen in Ordnung finde. Schließlich haben sie uns ja auf die Welt gebracht, ohne uns zu fragen. Vielleicht hätte ich ja gar nicht gewollt?
Aber in dem Moment hemmungsloser Ekstase, die meiner Zeugung vorausging, jedenfalls hoffe ich das für sie, haben sie nicht an die Folgen gedacht. Ein kleiner Hinweis nur und ich hätte einem anderen Spermium den Vortritt gelassen. Da wäre mir einiges erspart geblieben.
Hätte ein anderes fröhlich heranschwimmendes Spermizid angedockt, wäre ich vielleicht ein Mädchen mit großem Naturbusen geworden. Dann hätte ich mich recht früh für den Playboy ausgezogen und wäre durch sämtliche Fernsehformate mit Trashqualitäten getingelt, würde auf jedes Event eingeladen und würde zur Absicherung meines luxuriösen Lebensstandards einen senilen überalterten Unternehmer heiraten. Der mich zwar nur als Trophäe ansieht, aber die paar Jahre lasse ich ihn im Glauben, ihn zu lieben. Um dann, wenn Gevatter Tod mich erlöst, kann ich sein Erbe in Saus und braus verjubeln! Herrliche Vorstellung! Reich, prominent und nichts können müssen!
Aber die Wirklichkeit schlug bei mir erbarmungslos zu! Mein Vater ist kein Arzt, meine Mutter kein gefeierter TV-Star. Gut bürgerlich, würde man wohl sagen. Nicht von ungefähr nennt man das so. Gaststätten sind oft gut bürgerlich. Dort gibt es dann Kotelett oder Spaghetti mit Tomatensoße. Aber kein Hummer, gegrillte Scampi oder ein simples Steak vom Koberind! Ich hatte eher eine Kotlettkindheit. Die ersten Jahre wurde ich ja noch kostenfrei durchgefüttert. Doch kaum fünfzehn, das Abschlusszeugnis war noch ganz feucht von der Tinte, da hatte Mutter eine Lehrstelle für mich und wollte dann auch gleich Kostgeld haben. Ab jenem Tag begann das Leben, was man für mich vorbereitet hatte, immer weniger Spaß zu machen. Ständig wollte irgendwer Geld von mir. Ich konnte nicht so schnell Geld verdienen, wie man es mir wieder wegnehmen wollte.
Das Leben machte mir zusehends weniger Spaß. Es deprimierte mich sogar. Freudlos stand ich morgens auf und ging schlecht gelaunt abends zu Bett. Ständig knapp bei Kasse zu sein, schlägt einem gehörig aufs Gemüt.

Jetzt, da sämtliche Geldbezugsquellen versiegt sind, sich die Familie verleugnen lässt, mein Bankberater die Straßenseite wechselt, wenn er mich sieht, Freunde den Kontakt meiden und selbst das Entzünden einer Kerze in einer mir unbekannten Kirche, keinerlei Erfolg brachte, sehe ich mich ernsthaft in Gefahr – und jetzt kommt ein ganz böses Wort – Arbeiten zu müssen! Ein grausiger Gedanke, mit dem ich mich ungern anfreunde. Ich kann nicht viel und Arbeit steht ganz oben auf der Liste! 

Heute Nacht wurde ich schweißgebadet wach und hatte die zündende Idee. Ich schreibe! Als Kind konnte ich sehr gut lesen, dann dürfte das Schreiben ein Klacks sein.
Jetzt wissen Sie Bescheid! Nun liegt es an Ihnen!

Ich bitte nun höflichst um die Preisgelder, zwecks Aufstockung meines Kontos.

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