Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) The historical traumas driving South Korea’s political turmoil
Der Artikel beschreibt die politische Krise in Südkorea nach dem Versuch von Präsident Yoon Suk Yeol, das Kriegsrecht einzuführen, was zu massiven Protesten führte. Yoons Schritt wurde als Angriff auf die Demokratie gewertet, erinnert an die Militärdiktaturen der Vergangenheit und die traumatischen Ereignisse wie das Gwangju-Massaker von 1980. Bürger und Opposition reagierten schnell, inspiriert von ihrer Erfahrung im Kampf für Demokratie in den 1980er Jahren. Obwohl Yoon die Maßnahme nach sechs Stunden aufhob, wird er wegen Hochverrats untersucht. Der Vorfall verstärkt die Spannungen zwischen Konservativen und progressiven Kräften im Land. Während einige Yoon als autoritär kritisieren, werfen konservative Stimmen den linken Parteien vor, die Geschichte zu instrumentalisieren, um Macht zu gewinnen. Die Krise hat das demokratische Bewusstsein in Südkorea neu entfacht, mit Demonstrationen und Forderungen nach Yoons Rücktritt. Der Konflikt verdeutlicht die anhaltenden Herausforderungen der südkoreanischen Demokratie, die durch historische Traumata und politische Polarisierung geprägt ist. (Christian Davies, Song Jung-a, Edward White and Kang Buseong)
Ein zentraler Satz für mich: "The older generation cannot forget those days, while the younger generation are taught about them — not only what Chun did, but the fact that he and his co-conspirators would later be convicted of treason and go down in history as villains,” says Kim". Das zeigt einmal mehr die Bedeutung von Vergangenheitspolitik und wie wichtig Auseinandersetzungen über die Inhalte des Geschichtsunterrichts sind. In Russland oder China ist ein Lernen aus der Vergangenheit bewusst unmöglich gemacht worden, indem den Schüler*innen im Besonderen und den Bürger*innen im Allgemeinen nur Propaganda statt Geschichte zugänglich gemacht wird. Das ist der Zustand, den die AfD in Deutschland auch unbedingt erreichen will, weswegen sie ja besonders Geschichts- und Politiklehrkräfte ins Visier nehmen, Meldeportale erstellen und versuchen, auf die Bildungspläne Einfluss zu nehmen.
2) Was Springer, Schäffler, Spahn und Wagenknecht gemeinsam haben
Die Kolumne von Christian Stöcker thematisiert Strategien zur Verzögerung wirksamer Klimapolitik in Deutschland, die vor allem von Akteuren wie der FDP, der CDU, Axel Springer und Sahra Wagenknecht vertreten werden. Stöcker benennt vier Kategorien solcher Taktiken: Kapitulation vor der Herausforderung, das Abwälzen von Verantwortung, das Hervorheben von Nachteilen sowie das forcierte Bewerben unrealistischer Lösungen wie Wasserstoffheizungen oder Fusionskraftwerke. Diese Argumente, oft mit Halbwahrheiten vermischt, dienen laut Stöcker primär dazu, Klimaschutzmaßnahmen zu blockieren. Er kritisiert prominente Beispiele wie Friedrich Merz’ und Jens Spahns Aussagen zu CO₂-Technologien, die unrealistische Hoffnungen schüren, oder die FDP, die sich zwar für den Markt ausspricht, aber wenig aktiv handelt. Auch die Allianz zwischen Sahra Wagenknecht und der „Bild“-Zeitung wird als Verzögerungstaktik analysiert, hinter der oft wirtschaftliche Interessen der fossilen Industrie stehen. Stöcker fordert schnelle und transformative Maßnahmen, da Verzögerungstaktiken den technologischen Fortschritt und Deutschlands Verantwortung bei der Bekämpfung der Klimakrise gefährden. (Christian Stöcker, Spiegel)
Ich finde, diese Narrative von "die sind alle nur gekauft" sind immer viel zu einseitig, egal, wie beliebt sie sind. Zu oft übersehen die auch, dass die Leute eine Nähe zu den Lobbyisten haben, weil da ein ideologischer Überlapp besteht. Wenn ich Solarpanele fördern will, werde ich auch eher Grünen-Politiker*innen im digitalen Rolodex haben. Das heißt nicht, dass die Grünen von der Solarbranche gekauft sind. Die teilen Ziele. Das Narrativ der Korruption verdeckt auch die Handlungsfähigkeit und Souveränität der Akteure. Merz und Spahn, Wagenknecht und Lindner (pars pro toto) können ihre dummen Ideen auch von alleine haben und dafür dann von anderen Leuten mit den gleichen dummen Ideen gefördert werden. Ich glaube sofort, dass in den spezifischen Details dann Zuwendungen etc. schon eine Rolle spielen. Wenn es etwa um konkrete Grenzwerte geht, spezifische Regulierungen und so weiter. Aber als ob Merz nicht für Verbrenner eintreten würde, wenn nicht Parteispenden an die CDU flössen! Das ist in Ideologie und Identität angelegt. Das wird ja im umgekehrten Fall noch viel deutlicher: die Gewerkschaften haben der SPD keine Riesensummen anzubieten, die Sozialverbände der LINKEn noch viel weniger, und dennoch gibt es da massive Verbindungen und Verflechtungen. Warum wohl?
3) Wie soll mit diesen Kandidaten ein Neustart gelingen?
Die Kolumne analysiert die politische Lage in Deutschland nach der verlorenen Vertrauensfrage von Kanzler Olaf Scholz und den bevorstehenden Neuwahlen. Scholz habe bewusst diesen Schritt gewählt, da seine Regierung nach dem Bruch der Ampelkoalition keine Mehrheit mehr habe und handlungsunfähig sei. Die Bevölkerung habe der Ampelregierung schon lange das Vertrauen entzogen, da wirtschaftliche Probleme, Inflation und andere Krisen ungelöst blieben. Die Analyse zeigt jedoch Skepsis gegenüber einem möglichen Neustart: Scholz und sein Kabinett stünden für das Scheitern der Ampel, während Kandidaten wie Friedrich Merz zwar einen Politikwechsel versprechen, aber wenig überzeugende Pläne vorlegen. Merz’ Programm sei unklar, insbesondere hinsichtlich der Finanzierung von Steuerentlastungen und Investitionen, während die Union hauptsächlich beim Thema Migration einen deutlichen Wechsel verspreche. Auch FDP und Grüne kämpfen mit geschwächten Spitzenkandidaten wie Habeck und Lindner, deren Glaubwürdigkeit durch das Scheitern der Ampel stark beschädigt sei. Es wird befürchtet, dass die Wahl zu einem „Ausschlussverfahren“ werde, bei dem das geringste Übel gewählt werde, was Frust und Politikverdrossenheit fördere. Letztlich fordert der Artikel Transparenz und Selbstkritik von den bisherigen Regierungsparteien und einen klareren Plan von der Union, um wirklich einen Aufbruch zu schaffen. (Maria Fiedler, Spiegel)
Wieder mal eine dieser Kolumnen, die mich etwas genervt zurücklassen. Es ist das typische Raumschiff-Berlin-Gejammere. Erstens: die meisten Deutschen wollen überhaupt keinen "Neustart". Das ist Wahlkampfrhetorik. Ich darf daran erinnern, dass wir dasselbe Narrativ 2021 hatten, und dann wurde Scholz Kanzler. Knapp vor Laschet. Auch Merz steht für keinen "Neustart". Keine Partei kann das. Der Kritikpunkt, dass das Spitzenpersonal aus den vorherigen Regierungen kommt, ist auch albern. Woher denn sonst? Du kannst doch nicht die komplette Spitze auswechseln. Gegen wen denn? Irgendwo müssen die Leute ja Profil und Erfahrung gewinnen. Das würde ja auch gelten, wenn man wen aus den Bundesländern holt. Hendrik Wüst oder Markus Söder sind ja jetzt auch keine großen Neustarter. Aber erneut, das wollen die Wählenden ja auch gar nicht. Und die Parteien wissen das auch und machen entsprechend Wahlkampf - und tun gut daran, solche Kolumnen zu ignorieren.
4) Norwegen zeigt, wie man E-Autos richtig fördert
Der Artikel vergleicht die deutsche und norwegische Politik zur Förderung der Elektromobilität und zeigt die Unterschiede auf. Während Deutschland mit kurzfristigen Maßnahmen wie Prämien für den Kauf von E-Autos agiert, setzt Norwegen seit Jahrzehnten auf eine langfristige und konsistente Strategie. Bereits seit den 1990er-Jahren werden in Norwegen E-Autos systematisch bevorzugt: Steuererleichterungen, Wegfall von Parkgebühren, Nutzung von Busspuren und kostenfreie Fähren sind einige der Maßnahmen, die dazu führten, dass 2022 fast 80 Prozent der Neuzulassungen elektrisch waren. Ab 2025 sind nur noch Nullemissionsfahrzeuge erlaubt. Im Gegensatz dazu wirkt die deutsche Politik inkonsequent. Zwar plant Wirtschaftsminister Habeck neue Subventionen, wie kostenlose Ladestrom-Guthaben oder Hilfen für E-Auto-Leasing, doch solche kurzfristigen Ansätze verzerren den Markt und lösen das Grundproblem nicht. Der Autor lobt Norwegens Ansatz als pragmatisch und visionär, während Deutschland durch inkonsequente Politik den Übergang zur Elektromobilität verzögere. (Alan Posener, Welt)
Wir werden die Debatte um norwegische eAutos so schnell nicht los, wie es scheint (siehe auch Resterampe a)). Poseners Kritik ist eine, die ich auch schon öfter formuliert habe; zuletzt im Podcast mit Marco Herack: das Hauptproblem der deutschen Wirtschaftspolitik ist nicht ihre Ausrichtung, sondern das Fehlen einer solchen. Aber dazu ist hierzulande keine Partei bereit. Die Grünen bekennen sich zwar rhetorisch dazu, scheuen aber vor einer Ausformulierung (oder gar Umsetzung) zurück. Die FDP hat eine Omerta über das Thema gelegt. Die CDU und SPD beschwören Schlagworte ohne großen Inhalt, die in beiden Fällen reichlich unseriös sind. Von der AfD brauchen wir erst gar nicht anfangen, und LINKE und BSW...the less said, the better. Ich bin zwar ziemlich überzeugt, dass das Gras in Norwegen auch nicht ganz so grün ist, wie das aus der deutschen Perspektive hier scheint, aber wir legen die Latte schon arg niedrig an.
5) Warum Sahra Wagenknechts Stern sinkt
Der Artikel analysiert den vermeintlichen Niedergang der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und ihrer Vorsitzenden. Während das BSW anfangs große mediale Aufmerksamkeit erhielt und bei Umfragen bis zu acht Prozent erreichte, sei die Zustimmung inzwischen stark gesunken. Gründe dafür seien die Abhängigkeit von Wagenknechts Person und der Mangel an programmatischer Substanz. Ihre populistischen Forderungen, wie ein Benzinpreis-Deckel oder staatlich festgelegte Preissenkungen, würden von vielen als unrealistisch angesehen. Zudem habe die Partei keine klare Position bei kontroversen Themen wie Migration. Interne Konflikte und eine restriktive Aufnahme- und Kontrollpolitik innerhalb des BSW schürten weitere Probleme. In Thüringen und Brandenburg hat die Partei Regierungsbeteiligungen angestrebt, was bei Protestwählern zu Enttäuschung führte. Der Artikel prognostiziert, dass das BSW und die Linkspartei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern könnten. Wagenknechts Partei werde möglicherweise nur als Racheprojekt gegen ehemalige Genossen in Erinnerung bleiben. (Hubertus Knabe, Welt)
Ich halte den Niedergang des BSW für kein großes Mysterium. Bereits in den vergangenen Monaten wurde immer wieder kritisiert, was für eine gigantische Bühne ihr in den Medien geboten wurde. Das war 2016/17 mit der AfD genau dasselbe. Damals tingelte Björn Höcke durch die Talkshows (erinnert sich noch jemand an den Blödsinn mit der Deutschlandflagge?) und war die Partei monatelang das Gespräch atemloser Debatten. Jetzt war es für kurze Zeit das BSW. Nur, der Ort, den das BSW besetzen will, ist schon ziemlich voll. Die Idee des "Linkskonservatismus", die Knabe mir hier arg voreilig verwirft, hatte zwar durchaus Potenzial - aber nicht so viel, dass die 5%-Hürde leicht genommen werden könnte. Denn das BSW hat Konkurrenz von der LINKEn, von der es - wie Knabe ebenso richtig wie eigentlich trivial bemerkt - eine Abspaltung ist, und von der AfD. Wir haben bereits zwei Protestparteien im Bundestag, die FDP schickt sich gerade an, wenigstens für einen Wahlkampf eine dritte zu werden. Warum sollte es auch noch eine vierte brauchen?
Die organisatorischen Probleme, die Knabe anspricht, hat die Partei zweifellos; wie stark sie allerdings zu den Umfragen beitragen, bin ich eher unsicher. Nein, Aufstieg und Niedergang des BSW lassen sich vor allem durch den medialen Aufmerksamkeitszyklus erklären. Wagenknecht hatte eine Weile mächtige Verbündete, etwa im Springer-Konzern (der nun ein wenig heuchlerisch hier in einem Gastkommentar die eigene Mechanik erklären lässt), aber wie es seit Jahrzehnten so schön heißt: wer im BILD-Fahrstuhl nach oben fährt, fährt auch schnell wieder nach unten. Christian Wulff kann da ein Liedchen davon singen.
Resterampe
a) Noch was zur Debatte um Norwegen und eAutos (Bluesky).
b) Schöne Rezension von Ulf Poschardts "Mündig" (54books).
c) Faszinierende Fakten zu der Medienpräsenz der Parteien in den USA (Prospect). Wenig überraschend gewinnen die Republicans am stärksten, wo die wenigste Medienvielfalt herrscht ("news deserts").
d) Ende der Autoindustrie absehbar? (Twitter) Finis Baden-Wuerttembergiae.
e) Kann man echt kommentarlos stehen lassen (Twitter).
f) Treffer. Versenkt. (Bluesky)
g) Donald Trump wrecked North Carolina to win an election (Kevin Drum).
h) Chartbook Reissue: Reading Grossman's "Stalingrad" and "Life and Fate". (Chartbook) Super spannend!
i) Raw data: Affirmative action at Harvard Law School (Kevin Drum). Genau dasselbe wie bei Citizens United.
Fertiggestellt am 17.12.2024
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