Der Krieg in der Ukraine, der auch vor zivil genutzen Atomanlagen nicht Halt macht, die explodierenden Energiepreise und der Schrecken aller Schrecken, ein atomarer Weltkrieg, senden widersprüchliche Signale zur künftigen zivilen Nutzung der Atomkraft. Für die Energiewende bleibt sie von geringer Relevanz.
Die Beschiessung und Besetzung des grössten Atomkraftwerkes in Europa in Saporischschje im Südosten der Ukraine durch russische Truppen zeigt, wie verletzlich ein jeder Staat ist, der Atomkraftwerke betreibt. Es muss noch nicht einmal der Wahnsinn eines Angreifers sein, der eine AKW mutwillig zerstört und damit einen Super-Gau mit unabsehbaren Folgen verursacht, es kann schon genügen, wie in Tschernobyl, die dortige, 211-köpfige Bedienungsmannschaft zu Zwangsarbeitern zu machen, sie bis zur totalen Erschöpfung und darüber hinaus zu treiben. Inzwischen werden Reparaturen nicht mehr durchgeführt. Auch Erschöpfung kann katastrophale Folgen haben.
Während in der Ukraine die Energiehähne von den Besatzern zunehmend zugedreht werden, explodieren die Energiepreise weltweit. Fuhrunternehmen sehen sich in ihrer Existenz bedroht, Detailhändler beginnen, erste Produkte zu rationieren, Pendler ächzen über die Spritpreise, die sich im Rekordtempo erhöhen. Tatsächlich bewegen sich diese inzwischen auf einem Niveau, das, nimmt man etwa die für einen Liter Benzin aufzuwenden Arbeitsminuten als Massstab, sich den historischen HöchstständenAnfangs der 1980er- und Ende der 2000er-Jahre annähert.
Nimmt man das Wort vom gerechten Krieg in den Mund, dann wäre ein Eingreifen der Nato oder von UNO-Friedenstruppen, für die es allerdings die Zustimmung Russlands braucht, in der Ukraine gerechtfertigt. Denn in diesem Krieg geht es nicht nur um das Völkerrecht, das die Souveränität der Staaten in ihren Landesgrenzen ausdrücklich respektiert, sondern, wie etwa der deutsche Aussenpolitiker Jürgen Trittin von den Grünen betont, auch um das demokratische Europa. Es sei das «Rechtsstaatsmodell Europa und nicht die Bedrohung durch die NATO», die Putin zu militärischen Mitteln habe greifen lassen. Anderseits sei es «moralisch gut begründet», dass eben diese Nato nicht eingreife, schlicht, weil sich die Zahl der Opfer dann «vervielfachen» würde. Trittin meint den atomaren Weltkrieg, der, sollten die NATO und Russland aneinandergeraten, nicht mehr auszuschliessen wäre. Die Welt stünde am Abgrund. Russland mag wirtschaftlich kaum mehr den Status einer Mittelmacht erreichen, mit rund 5000 Atombomben ist und bleibt das Land eine Weltmacht. Das Wettrüsten hat dabei auf allen Seiten schon länger wieder eingesetzt. Die Atomwaffenarsenale werden modernisiert, und es werden Waffensysteme entwickelt, die den berüchtigten Erstschlag wieder als denkbar erscheinen lassen. Ein nuklearer Weltkrieg wäre schon wegen der totalen Zerstörung zahlreicher Grossstädte und der Strahlenbelastung verheerend, doch nochmals weit schlimmer wäre der nukleare Winter, verursacht durch eine gigantische Staubwolke, die, einem Vulkanausbruch gleich, die Atmosphäre über Jahre verdunkeln würde. Um bis zu dreissig Grad könnten die Durchschnittstemperaturen sinken. In vielen Teilen der Welt würde die Landwirtschaft zusammenbrechen. Milliarden Menschen hätten nichts mehr zu essen. Für die Ukraine bleibt vor diesem Hintergrund einer drohenden weltweiten Verheerung nur die Hoffnung, dass zumindest der westliche Teil des Landes seine Unabhängigkeit bewahrt, als neutraler Staat und künftiges EU-Mitglied, während der östliche Teil unter die eiserne Faust der Diktatur Putins fällt – sofern dessen Regime nicht zusammenbricht.
Und so wird dieser Weltkrieg mit anderen Mitteln geführt, namentlich einer erneuten Aufteilung der Welt – auch in Europa. Man muss sich die Dimension dieser Zeitenwende vor Augen führen. 1975, es war die bleierne Zeit des Kalten Krieges, unterzeichnete ein gewisser Leonid Breschnew als mächtigster Mann der Sowjetunion und des Warschauer Paktes einen Vertrag, der allen Staaten Europas zusicherte, dass es keine Gebietsansprüche mehr geben sollte, ohne dass diese friedlich geregelt werden. Es war die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Europa KSZE, deren Nachfolgeorganisation OSZE in den letzten Jahren verzweifelt versucht hatte, die Invasion der Ukraine zu verhindern.
Vor dem Hintergrund der Angst, Putin könnte die Öl-, Gas- und Kohlehähne zudrehen, wird selbst in Deutschland laut darüber nachgedacht, die drei verbliebenen Atommeiler über den geplanten Abschalttermin Ende des Jahres hinaus laufenzulassen, auch wenn sowohl Betreiber als auch Behörden betonen, dass dies schon aus technischen Gründen kurzfristig gar nicht möglich sei. Putin dürfte sich allerdings hüten, dies zu tun – er würde damit den auch stark von diesen Einnahmen abhängigen Staatshaushalt und die Finanzierung des Krieges aufs Spiel setzen. Doch es gibt, selten genug, auch gute moralische Gründe, auf die russischen Rohstoffe zu verzichten, zumal sich ja der russische Staat die Gewinne unter den Nagel reisst. Und so werden nun nahezu utopische Ziele verkündet, die russischen Erdgasimporte in die Europäische Union bis zum nächsten Winter um zwei Drittel zu reduzieren, und damit auch die Rechnung von täglich 600 auf noch 200 Millionen Euro zu reduzieren. Natürlich liesse sich, einige Selbstdisziplin und etwas Leidensbereitschaft vorausgesetzt, der Erdgasverbrauch beim Heizen deutlich reduzieren. Schon die Absenkung der Raumtemperatur um ein Grad bringt eine Einsparung von sieben Prozent. Während mit einer baldigen Erholung der Benzinpreise zu rechnen ist, weil die vorhandenen Kapazitäten weltweit durchaus ausreichen, diese auch ohne Russland zu versorgen, wird es beim Gas gerade in Europa, das die Hälfte seines Erdgases aus Russland bezieht, mit Sicherheit länger dauern. Denn im Prinzip steht als Ersatz fast ausschliesslich Flüssiggas zur Verfügung. Doch hier reichen die kurz- und mittelfristig zur Verfügung stehenden Mengen nicht aus, zumal sich die Abnehmer das meiste Flüssiggas mit langfristigen Verträgen gesichert haben.
Was soll vor diesem Hintergrund aus der zivilen Nutzung der Atomenergie werden? Diese und der Ausbau der Atomkraft in Europa spielen bei diesen Szenarien nur die zweite Geige. So wird bis nächsten Winter mit Ausnahme des finnischen AKW Olkiluoto mit Sicherheit kein zusätzlicher Atomstrom ins Netz gespiesen, die zwei AKW, die in Grossbritannien und Frankreich im Bau sind, werden erst in einigen Jahren fertig gebaut sein. Und niemand hat einen Plan in der Schublade für den Bau eines neuen AKW. Man darf, gerade in Frankreich, froh sein, wenn der bestehende AKW-Park, von dem nahezu die Hälfte derzeit stillsteht, bis zum nächsten Winter wieder zur Verfügung steht. Aktuell bezieht Frankreich Kohlestrom aus Deutschland, das einige Meiler wieder angeworfen hat – die Kohle wird aus Russland importiert. Nun rächen sich auch die verpassten Chancen der Energiewende in ganz Europa. So ist es insbesondere nicht gelungen, den Gebäudepark im nötigen Tempo zu sanieren. Drei Prozent müssten jährlich isoliert werden, um deren Heizenergiebedarf zu minimieren. Bislang ist es kaum ein Prozent. Und auch der Ausbau der neuen erneuerbaren Energien kommt bislang viel zu langsam voran. Und nun soll auch noch militärisch aufgerüstet werden. Es kommt einiges auf Europa zu.