„Climate Justice Now!“ – wer im Prä-Corona-Zeitalter die Proteste der Klimaaktivisten verfolgt hat, wird auch auf den einprägsamen Begriff der „Klimagerechtigkeit“ gestoßen sein. Weniger bekannt ist, dass der Ausdruck nicht erst im Windschatten von Fridays for Future geformt wurde, sondern auch den Namen eines 2007 gegründeten Zusammenschlusses von Nichtregierungsorganisationen ziert. Und selbst auf höchster Ebene ist er fest verankert, nämlich im Pariser Abkommen von 2015.
Verbunden wird mit „Klimagerechtigkeit“ die ebenso latente wie diffuse Hoffnung auf eine ökologische, nachhaltige und ethisch vetretbare Ökonomie für zehn Milliarden Menschen. Der Klimawandel wird nicht nur als technisches, sondern vor allem als soziales Problem begriffen. Insofern ließe sich Klimagerechtigkeit als ein „ganzheitliches“ Verständnis des Klimawandels verkaufen. Klingt alles toll, oder nicht?
Bei näherer Betrachtung zeigen sich aber entscheidende Probleme, die nur darum nicht sofort auffallen, weil sie der Klimadebatte selbst inhärent sind. Diese Probleme resultieren daraus, dass ständig so getan wird, als ob „Klimaschutz“ synonym mit „Naturschutz“ überhaupt sei. Das ist natürlich nicht der Fall: Plastik in den Weltmeeren hat zum Beispiel mit dem Treibhauseffekt herzlich wenig zu tun. Wenn man begrifflich kohärent sein will – was von jedem sachlichen Diskurs zu fordern wäre –, dann kann die Entmüllung der Weltmeere nicht als „Klimaschutz“ gelten, und auch „Klimagerechtigkeit“ hätte sich nicht für sie zu interessieren. Nationen der „Dritten Welt“ hätten wir vor dem Klimawandel zu beschützen, aber als Müllkippe könnten wir sie ruhig weiter benutzen.
Der Klimawandel ist ein ökologisches Problem unserer Zeit. Er ist nicht das einzige. Das Bequeme am Standardnarrativ zum Klimawandel ist, dass es die Illusion vermittelt, der Zustand von Natur und Erde ließe sich an einer einzigen Zahl festmachen, der „CO2-Bilanz“ (welche alle anderen Treibhausgase in Form von „CO2-Äquivlanten“ einschließt). Wer so denkt, denkt aber gerade nicht „ökologisch“ oder „systemisch“, sondern „mechanistisch“ und „reduktionistisch“: Er betrachtet die Atmosphäre, als sei sie eine riesige Klimaanlage, bei der wir nur den Temperaturregler richtig einstellen müssten, und alles wäre wieder gut. Diese Einstellung dürfte aber eher zum Problem gehören als zu dessen Lösung.
„Klimagerechtigkeit“ erweist sich so als ein widersprüchliches Konstrukt: Zum einen beansprucht man, mit der Betonung von „Gerechtigkeit“ das mechanistische Denken zu überwinden und die Debatte auf eine zwischenmenschliche statt nur technische Weise zu führen, wogegen erst einmal nichts einzuwenden ist. Zum anderen steht „Klima“ heute aber für kaum noch etwas anderes als „CO2“ und seine kleinen Geschwister – wie Methan, Lachgas oder Schwefelhexafluorid. Alle ökonomischen und ökologischen Faktoren, die sich nicht einfach durch das Nadelöhr des global gemittelten Treibhauseffektes quetschen lassen, bleiben dadurch außer Acht. Gäbe es andererseits den Treibhauseffekt nicht, gäbe es wohl auch keinen Grund, dem „Klima“ diesen Vorrang gegenüber „Bodenökologie“, „Wasser“ oder „Bienen“ einzuräumen. Dieser Reduktionismus ist nicht nur unproduktiv, sondern erweist sich nicht selten als kontraproduktiv.
Beispiel Bangladesch: Bangladeschs ausgeprägte Deltaregion ist platt wie Ostfriesland und zunehmend vom Vordringen des Meereswassers ins Inland betroffen. Die Klimaaktivistin von heute weiß sofort Bescheid: „Aha! Das ist der Anstieg der Meeresspiegels, bedingt durch das Abschmelzen der Polarkappen! Wir müssen unsere Emissionen reduzieren!“ Tatsächlich gibt es aber viele weitere und unmittelbarere Gründe für die Problematik: Durch das Abholzen von Mangrovenwäldern geht ein wichtiger Schutz vor Sturmfluten und Stürmen verloren. Durch die schon seit 1975 operierende Farraka-Talsperre des Ganges ist der Süßwasserfluss Richtung Meer verringert, was zu mehr Brackwasser im Inland führt. Das Brackwasser führt zwar auch zur Versalzung von Böden, aber einstmalige Reisbauern fluten ihre Felder auch absichtlich mit Salzwasser, um Garnelen zu züchten, andere Felder erfahren diese Behandlung wiederum im Rahmen kriminellen Landraubs.
All das und noch vieles Weitere bleibt vom Treibhaus-Narrativ unberücksichtigt: Die Talsperre enthält kein Wasserkraftwerk, aber würde sie dies tun, würde dies wohl als lobenswert gefeiert, schließlich handelte es sich um „erneuerbare Energie“. Garnelen werden nur dann als problematisch erkannt, wenn sie eine schlechte CO2-Bilanz aufweisen, aber Landraub und die Versalzung von Böden bleiben außer Acht. Angesichts der ökologischen wie humanitären Krise in Bangladesch wäre es fahrlässig, hierzulande nur von der Energiewende zu faseln und in dieser die einzige Zukunftsperspektive zu sehen. Selbst, wenn sich diese verwirklichen ließe, dürfte das nur geringe Auswirkungen auf die Situation vor Ort haben. Andererseits haben Ethik und Gerechtigkeitsaspekte mit dem Klima nicht mehr zu tun als mit anderen Faktoren auch, weshalb der Ausdruck „Klimagerechtigkeit“ hier irreführend ausfällt. Vielmehr wäre von einer allgemeinen „ökologischen“, „ökonomischen“ oder „sozialen Gerechtigkeit“ zu reden. Diese klingt natürlich altmodischer und bietet nicht die epistemische Schein-Sicherheit der CO2-Bilanz.
„Klimagerechtigkeit“ birgt ein weiteres Problem: Im Zuge des Klimawandels wird von den Menschen verlangt, auf „die Wissenschaft“ zu hören. „Klima“ steht aktuell nicht nur für „CO2“, sondern auch für „die Wissenschaft“. Länder und Gemeinden, die noch eher tradierte Wirtschaftsweisen anwenden, in denen wissenschaftliche Methodik also nicht so stark institutionalisiert ist wie im Westen, erfahren dadurch eine strukturelle Ausgrenzung. Bereits die Dreiteilung in „Industrienationen“, „Schwellenländer“ und „Entwicklungsländer“ zeichnet die Nationalstaaten als Teilnehmer an einem Fortschritts-Wettrennen, in welchem die dürftigen Entwicklungsländer den grandiosen Industrienationen hoffnungslos hinterhertrotten. Diese Diskriminierung widerspricht der erklärten Absicht der Klimagerechtigkeit, gerade traditionelle und indigene Kommunen vor den negativen Folgen westlicher Industrialisierung bewahren zu wollen. Als „die unbequemste Wahrheit von allen“ wurde das Problem bezeichnet, dass indigene Völker nicht nur unter dem Klimawandel selbst am stärksten zu leiden haben, sondern auch unter den Maßnahmen, die angeblich gegen ihn ergriffen werden. „Noch unbequemer“ könnte allerdings die Einsicht ausfallen, dass ein rein wissenschaftliches Denken dem der Betroffenen nur bedingt entsprechen kann. Dabei geht es weniger um religiöse Fragen als um das Verhältnis von Theorie und Praxis sowie den Umstand, dass die Natur nun einmal weder eine Computersimulation noch ein Gewächshaus noch eine große Klimaanlage ist. „Klimaschutz“ ist in diesem Sinne ein „kolonialistisches“ Konzept: Er beansprucht die von westlichen Idealen geprägte Deutungshoheit über das Weltgeschehen, was sich in der Praxis entsprechend widerspiegelt. Klimaschutz, so ließe sich sagen, erfordert dringend eine „Dekolonisierung“; im Zuge dessen würde er als Konzept aber vielleicht ganz von der Bildfläche verschwinden.
Es gilt, die ökologischen und ökonomischen Probleme unserer Zeit auf eine umfassende Weise zu verstehen, von welcher „der Klimawandel“ nur ein Aspekt von vielen sein kann. So lange das nicht geschieht, brauchen wir uns auch nicht darüber zu wundern, dass hier noch kein Land in Sicht ist. Durch ihre inneren Widersprüche sind Klimaaktivismus und -politik sonst von vornherein dazu verdammt, eine Farce zu bleiben. „Klima“ ist nicht gleich „Natur“.
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