Ich wurde kürzlich gefragt, warum ich für "Zerocovid" bin, also für drastische Maßnahmen zum Erreichen einer Niedrigstinzidenz des SARS-COV2-Virus.
Die Antwort ist recht einfach, aber lang. Denn es gibt verdammt viele gute Gründe dafür.

1. Wir haben aktuell deutlich über 1000 Tote pro Tag. Morgens nach dem Aufstehen achtet man beim Hören der Nachrichten inzwischen auf Todeszahlen des Vortages fast wie sonst auf den Wetterbericht: "Das RKI meldet 1000 + x Tote". In welcher Geschwindigkeit man sich an diese Meldungen gewöhnt hat, ist wirklich erschreckend. Eine Gesellschaft scheint sehr verroht zu sein, wenn Zahlen dieser Dimension schulterzuckend akzeptiert werden.

2. Gesund ist nicht gesund. Alle Personen, die innerhalb von 14 Tagen nach Infektion nicht verstorben oder hospitalisiert sind, werden als "genesen" gemeldet. Hierbei fallen nicht nur viele unter den Tisch, die mit einem Rückfall wieder hospitalisiert werden oder gar versterben. Zudem gibt es keine Statistik von Long- Covid und Post-Covid Erkrankungen, mit denen allerdings wirklich nicht zu spaßen ist. Laut einer aktuellen Lancet-Studie haben 3/4 der Erkrankten noch ein halbes Jahr später mit unterschiedlichen Folgen der Erkrankung zu kämpfen.

3. Die Kapazitäten der Krankenhäuser sind erschöpft. Damit meine ich die Kernabteilungen Notfallmedizin, Anästhesie, Innere. Ja, ggf. hat der Handchirurg Langeweile und selektive OPs fallen aus. Aber keine Sorge, der Chirurg lernt jetzt learning by doing, wie man beatmet... Die Regelversorgung im Krankenhaus ist nicht mehr gewährleistet. Krebstherapien werden nicht mehr durchgeführt, Palliativstationen zugunsten Covid-Stationen geschlossen. Es wird regelmäßig triagiert. Krankenhäuser müssen aufgrund von Kapazitätsproblemen Aufnahmen ablehnen. Wir versorgen im ambulanten Bereich Erkrankungen, die wir unter normalen Bedingungen stationär eingewiesen hätten. Was einen erhöhten Zeitaufwand bei schlechterer medizinischer Versorgung mit sich bringt.

4. Die Impfungen sind da, aber es wird sehr lange dauern, bis eine Herdenimmunität erreicht sein wird. Erst ca 1% der Bevölkerung hat bisher die 1. Dosis erhalten. Es wird mit mehr zugelassenen Impfstoffen schneller gehen. Aber mit neuen, viurlenteren Mutationen wie B117 benötigen wir eine höhere Impfquote als anfangs angenommen.

5. Die Patienten in Pflegeheimen können wir de facto nicht suffizient schützen, wenn wir so hohe Inzidenzen haben. Selbst mit den besten Schutzkonzepten, Abschirmung, Masken und täglichen Schnelltests. Es ist einfach unrealistisch und die aktuelle Situation in den Heimen beweist es Tag für Tag. Ein Großteil der Ü70 wohnt übrigens daheim. Sie schützt nur Zerocovid.

6. Es gibt viel mehr Risikopersonen, als diesen überhaupt selbst bewusst ist! Alleine die Erkrankungen, die mit Übergewicht in Verbindung stehen, wie z.B. hoher Blutdruck, Blutzuckerprobleme, aber auch Gerinnungsstörungen, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen... Diese sind in allen Altersgruppen, auch in jüngeren, verbreitet. Ein Alter ab 45 aufwärts ist zunehmend mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf verbunden.

7. Die Mär von den Kindern, die sich nicht infizieren und das Virus nicht weitergeben, ist inzwischen widerlegt. Selbst bei asymptomatisch oder nur leicht symptomatisch erkrankten Kindern wurden in Studien Veränderungen der Niere und des Gehirns, vorallem der Gefäße, beobachtet. Zum Schutz der Kinder und aller, die mit ihnen Kontakt haben, sollte man jegliche Infektionen vermeiden. Zumal Kinder nicht in der Lage sind Hygienemaßnahmen in dem Ausmaß einzuhalten und es zunächst keine Impfung für U16 geben wird.

8. Die hohe Viruszirkulation ermöglicht zunehmend Mutationen. Im Fall von B117 in GB sieht man, dass diese zu einer massiven Zunahme des Infektionsgeschehens führen können. Sollten wir B117 durch die Bevölkerung "durchlaufen" lassen, dann erhöhen sich auch unter jüngeren Patienten die dramatischen und tödlichen Fälle. Denn wir haben das Limit der Intensivmedizin erreicht! Es wird bereits triagiert. Auch unter 50-Jährigen. Ich überlasse es der Fantasie von jedem, wie gut man wohl noch versorgt wird, wenn die Fälle so explodieren, dass den Krankenhäusern der Sauerstoff ausgeht, oder die Rettungswagen 8h vor den Krankenhäusern warten müssen, wie in London passiert. Die Letalität wird rasant steigen.

9. Ein Hangeln von Pseudo-Lockdown zu Pseudo-Lockdown ist für die Wirtschaft schlecht. Das Ganze in die Länge zu ziehen, um einzelne Geschäfte kurzfristig über Wasser zu halten, um diese dann doch im nächsten Lockdown untergehen zu lassen, ist nicht sinnvoll! Die Gastronomie z.B. war die erste, die dicht gemacht wurde und sie wird die letzte sein, die geöffnet wird. Zusammen mit Kulturstätten. Ein solidarischer, harter Mega-Lockdown würde das raschere und breitere Öffnen auch von kleinen Läden, Restaurants und Theatern ermöglichen.

10. Die psychische Belastung durch "Social Distancing", aber auch durch die Bedrohung durch das Virus, nehmen viele wahr. Uns alle belastet die Situation. Je kürzer wir einschränkende Maßnahmen aufrecht erhalten müssen, umso besser.

11. Noch immer weiß ein Großteil der Bevölkerung nicht, was genau Covid ist und wie es übertragen wird. Pflichtbewusst mit Halskratzen oder leichtem Schnupfen zur Arbeit zu gehen, ist nett gemeint. Aber eben zur Zeit ggf. fatal. Auf die Eigenverantwortung können wir nicht setzen. Dies sollte nach all den Appellen an eben jene klar sein.

12. Im ÖPNV und an der Arbeit ist eine Übertragung kaum zu verhindern, wenn man dicht auf dicht steht oder sitzt. Jegliche Konzepte von Firmen oder auch Schulen werden ad absurdum geführt, wenn man auf dem Hin- oder Rückweg nicht ein Mindestmaß an Abstand einhalten kann. Zudem wird in vielen Büros die Maske abgenommen. Wieder eher aus Unkenntnis, dass man nicht selbst beurteilen kann, ob man infiziert ist oder nicht.

Ich denke, ich könnte so ewig weiter schreiben. Fakt ist, dass ein echter, harter Lockdown analog zu den von Yaneer Bar-Yam und anderen geäußerten Vorschlägen uns viel schneller wieder in eine Art Normalität befördert, als alles andere. Er rettet unzählige Leben und ermöglicht einen schnelleren wirtschaftlichen Aufschwung.

Wir alle sind es leid. Keiner ist gerne alleine und in seinem Bewegungsradius eingeschränkt. Aber wenn wir alle zusammen mal die Arschbacken zusammenkneifen, wird viel geschafft sein. Und übersetzt für Kollege Gassen (Kassenärztliche Bundesvereinigung), aber auch für alle anderen Zweifler an der Effektivität der aktuellen Maßnahmen: Wenn Sie ein Bein amputieren wollen, aber nicht fest genug sägen, dann sollten Sie nicht an der Prozedur, sondern vielleicht an sich und an der Intensität Ihres Vorgehens zweifeln. Denn was ab muss, muss ab.