Eine Langzeitstudie der Harvard-Universität hat sich damit befasst, was Menschen wirklich glücklich macht. Und das Ergebnis ist zum einen sehr positiv, weil es dazu nur etwas braucht, was eigentlich jeder haben kann, aber auch negativ, weil genau das von unserer Lebensweise und dem daraus resultierenden Zeitgeist immer mehr unterbunden wird.
Ein Artikel im Standard berichtet über die groß angelegte Untersuchung, die immerhin schon im Jahr 1938 gestartet wurde und die Leben von über 2000 Personen mehr als 80 Jahre lang analysierte unter der Prämisse, was bei den Probanden für Wohlbefinden sorgt. Natürlich tragen dazu auch äußere Umstände bei, wie beispielsweise Gesundheit, materielle Sicherheit und Anerkennung durch andere, als zentraler Aspekt stellte sich allerdings heraus: gute Beziehungen, und zwar zu allen möglichen Menschen, also natürlich dem Lebenspartner, aber auch Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen, Nachbarn oder Zufallsbekanntschaften.
Ich hab ja vor neun Jahren schon mal einen Artikel zu dem Thema geschrieben, wie Kinder in unserer Gesellschaft im Grunde recht systematisch unglücklich gemacht werden. Wenn man nun noch hinzunimmt, was bei der Harvard-Langzeitstudie rauskam, dann ergibt sich ein recht unschönes Bild.
Der Neoliberalismus hat es nämlich sehr erfolgreich geschafft, die Idee des Individualismus, die sich seit 1968 stark verbreitet hat und ja auch durchaus etwas Positives ist, zu pervertieren, indem nämlich die Umdeutung zum Egoismus vollzogen wurde. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, „Wenn jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht“ – das sind typische neoliberale Sinnsprüche, die über verschiedene Kanäle den Menschen immer wieder eingetrichtert wurden.
Das Ziel, das meiner Meinung nach damit erreicht werden sollte: Entsolidarisierung. Der Neoliberalismus* ist so angelegt, dass eine quasi oligarchische Machtkonzentration durch Bildung immer größerer Vermögen bei zunehmender Verarmung vom Rest der Bevölkerung entsteht. Gleichzeitig muss aus Sicht der Systemapologeten ein möglicher Zusammenschluss der auf verschiedenen Ebenen Benachteiligten verhindert werden. Teile und herrsche, so heißt das Prinzip, das schon lange bekannt ist und selbst bei den antiken Römern praktiziert wurde.
Ein „Nebeneffekt“, wenn jeder immer mehr um sich selbst kreist, vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht ist und andere Menschen in erster Linie als Konkurrenten sieht: Beziehungen werden nicht nur seltener, sondern deren Qualität leidet auch. Misstrauen ist eben keine Basis für eine gesunde Beziehung zu einem anderen Menschen.
Und nun kommt noch die Digitalisierung dazu, die bewirkt, dass die Menschen sich noch mehr von anderen zurückziehen: Netflix statt Kino, Amazon statt Einzelhandel, YouTube statt Konzertbesuch, Facebook statt Leute zu treffen usw. Kann wohl jeder in seinem Umfeld und u. U. auch bei sich selbst beobachten. Und das ist wohl gerade bei jungen Menschen noch mal extremer, denn zumindest höre ich immer wieder von Freunden, die Kinder im Teenageralter haben, dass diese eigentlich nur noch vor Bildschirmen rumhängen würden.
Verschärft wird das natürlich noch mal seit der Verbreitung von Smartphones, die es Menschen ermöglichen, nun auch in Gesellschaft anderer ums eigene Ich zu kreisen. Kennt bestimmt auch jeder, diese traurigen Bilder von mehreren Menschen an einem Tisch, die nicht miteinander reden, sondern stattdessen alle in ihre Smartphones starren.
Auch kleine Begegnungen im Alltag werden zunehmend seltener, und das nicht nur aufgrund von immer mehr Online-Zeit, statt diese in der Realität mit Menschen zu verbringen. Sachbearbeiter bei Versicherungen, Banken usw. gibt es kaum noch, stattdessen landet man meistens in unpersönlichen Callcentern, wo man jedes Mal jemand anderen an der Strippe hat, wenn man dort anruft. Discounter haben eine Personalstruktur, die einen Kontakt, der über das Notwendigste zur Erledigung des Einkaufs hinausgeht, nicht zulässt. Mal eben noch ein bisschen mit Herrn Gruber oder Frau Schulz plaudern, die dort immer so nett hinter der Einkaufstheke stehen, fällt da weitgehend weg (wenngleich es so was in dörflichen Gegenden auch in Supermärkten durchaus noch in kleinem Maße geben kann). Und wenn es dann mal Zufallsbegegnungen geben könnte mit anderen Menschen, dann finden diese oft deshalb nicht statt, weil eben wieder mal lieber ins Smartphone geglotzt wird …
Und da kam dann noch die Corona-Pandemie oben drauf – mit Social Distancing, Homeoffice und einer weitgehenden Reduzierung der Sozialkontakte. Gerade für junge Menschen zwischen 15 und 20 Jahren sind diese Jahre m. E. fatal gewesen, da sie normalerweise in dieser Zeit ihre eigenen, familienunabhängigen Sozialkontakte aufbauen.
Fazit: Unser Wirtschaftssystem und die damit zusammenhängenden „Werte“ reduzieren das, was uns wirklich glücklich macht, und dann kommt noch die Digitalisierung hinzu, die zusätzlich zu einem Rückgang von persönlichen Kontakten vieler Menschen führt. Ist es da ein Wunder, dass psychische Erkrankungen immer mehr zunehmen?
Dass der Kapitalismus in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht gescheitert ist, konnte ja nun in den letzten Jahren jeder bemerken, der nicht bewusst die Augen davor verschlossen hat. Nun kommt noch hinzu, dass es in diesem System auch zunehmend erschwert wird, glücklich zu sein. Und dennoch wird uns dieses Wirtschaftssystem immer noch als „alternativlos“ verkauft.
Wäre es nicht vielleicht mal an der Zeit, sich nach etwas Neuem umzusehen?
* Und im Endeffekt auch der Kapitalismus generell, nur eben in nicht ganz so offensichtlich verschärfter Form wie durch die neoliberale Radikalisierung – s. hier.
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