Im Mund eine undefinierbare Masse. Feuchter Sand mit Steinchen, das Bild zumindst erschien vor seinem inneren Auge. Er begann zu husten und auszuspucken, sprang auf und rannte ins Badezimmer. Da war nichts in seinem Mund, nur Galle.

Zitternd stand er am Waschbecken und hob den Blick in den Spiegel, über den sich ein Riss zog. Der Typ, der ihm entgegen blickte, war das er? Er hob die Hand zu seinem linken Auge. Es war zugeschwollen und schmerzte bei jedem Wimpernschlag. Er presste seine Hand auf den Magen und musste erneut würgen. Keuchend wartete er ein paar Atemzüge bis die Schmerzwelle abgeklungen war. Ein dunkler Bartschatten überzog die untere Hälfte seines eingefallenen, grauen Gesichts. Unter den Augen lagen tiefe Schatten. Ein getrockneter Bluttropfen ragte unter seinem Haaransatz hervor. Vorsichtig hob er die Haare an: Ein verkrusteter Schnitt prangte auf der Anhöhe einer dicken Beule. Wieder sammelte sich Speichel in seinem Mund und er schluckte, atmete, schluckte nochmals. Am Hals war ebenfalls ein verkrusteter Schnitt.

Was um Himmels willen war passiert? Warum? Wer war das? Aber vor allem, wer war der Typ, der ihm im Spiegel entgegensah? War das etwa er? Es kamen keine Erinnerungen, kein Gefühl,  nur ein vager Schatten zog durch sein Bewusstsein.

Ein Fleck auf den Kacheln hinter ihm zog seinen Blick auf sich. Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er schloss die Augen und das Bild verschwand, bevor er es fassen konnte. Es war zu schrecklich, um es nochmal betrachten zu wollen. Ein Lachen klang in seinen Ohren. Ein sinnlicher, rotgeschminkter Frauenmund erschien in seiner Erinnerung, wieder dieses Lachen. Perlend und kehlig zugleich. Und dann zersprang der Mund, das Lippenstiftrot wurde zu Blut.

Keuchend drehte er sich um und nahm die Kacheln genauer in Augenschein. Um so genauer er hinsah, desto mehr Reste von Blutspuren entdeckte er. Wie in größter Eile weggewischt und in den Ecken übersehen.

Ich muss hier weg!, schoss es ihm durch den Kopf. Der erste klare Gedanke. Er wiederholte ihn laut: "Ich muss hier weg!", die Stimme klang fremd. Er ging ins Zimmer zurück. Es muss meine Wohung sein. Ist das meine Wohnung? Offenbar kannte er sich aus, wusste, was sich im Kleiderschrank befand, da er Jogginghose und T-Shirt hervornahm, Socken in der Schublade fand. Der Schmerz in seinem Kopf explodierte, als er das Shirt überzog. Der süßliche Geruch von Weichspüler stach ihm in die Nase. Wie in Zeitlupe zog er die Jogginghose von Nike über die karierten Boxershorts. Kurz dachte er daran, eine frische aus dem Schrank zu nehmen, verwarf ihn aber wieder bei dem Gedanken an die Anstrengung, die es ihn kosten würde. Das Anziehen der Socken war eine Qual. Nachdem er die erste Socke angezogen hatte, richtete er sich auf und atmete ein paarmal durch, sonst hätte er sich wieder übergeben müssen. Schließlich tappte er, an die Wand abgestützt, den Flur entlang. Schuhe, er brauchte noch Schuhe. Am Ende des Flurs glaubte er weiße Sportschuhe zu sehen.

In der Küche standen Gläser und Flaschen auf dem Designertisch. Die futuristischen Stühle waren umgekippt. Es roch scharf nach verschüttetem Schnaps und Bier. Ein Aschenbecher in der Mitter quoll über von Zigarettenkippen. Rauchte er? Er wusste es nicht, nur, dass der Geruch des kalten Rauchs ihm Übelkeit verursachte.  Sein Kopf drohte zu zerspringen. Nur das Summen des Kühlschranks war zu hören. Ein vorüberfahrendes Auto. Kein Hinweis auf einen anderen Menschen hier drin.

Weg, weg, weg. Du musst hier weg!, flüsterte die Stimme in ihm. Sie kam ihm vertraut vor.  Sie werden es Dir anhängen, fügte sie noch hinzu.

"Mach, dass du Land gewinnst!", sagte er  mit schwerer Zunge, es war ein Krächzen. Er schlüpfte in die Schuhe, deren Schnürsenkel zu waren. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, sie über seine Ferse zu ziehen und nahm den Kapuzenpulli vom Haken. Er öffnete die Wohnungstür, schloss sie und lauschte ins Treppenhaus. Stille. Als hätte er etwas vergessen, drehte er sich nochmal zur Tür um und las auf dem Klingelschild "René Keller" Er war René Keller. War er René Keller? Er las es, wusste es, doch er fühlte es nicht. Grauen ergriff ihn.

Fröstelnd zog er die Schultern nach oben und die Kapuze über und lief die vier Stockwerke nach unten, öffnete die Tür, durchquerte den Hof und lief los. Folgte der dichtbeparkten Straße, entlang der alten Mietskasernen. Etwas in ihm kannte den Weg. Doch sein Verstand fühlte sich ziellos. Aus der Ferne waren Martinshörner zu hören, die immer lauter wurden. Als er an eine starkbefahrene Straße kam, rauschten zwei Polizeiwägen und ein Krankenwagen an ihm vorbei. Er glaubte sein Kopf explodierte. Erst, als er weitergelaufen war, den bohrenden Schmerz ignorierend, ab und zu im Laufen ausspuckend, sickerte der Gedanke in sein Bewusstsein, dass diese Polizeiwägen auf dem Weg zu ihm gewesen waren. Zur Wohnung von René Keller. Keuchend kam er durch ein stilles Wohngebiet mit neuen, kleinen Einfamilienhäusern, die an Kaninchenställe erinnerten. Und er lief weiter bis zum Feldrand, überquerte es, nunmehr nur noch schnell gehend und erreichte den Wald.  Offenbar war dies sein Ziel.

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stefanie d. seiler

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