Gregor fassste sich an die Brust. Für einen Moment stützte er sich mit der Schulter am Haus ab. Er kannte den Mann, der gerade den schmalen, steilen Pfad hinaufkam. Er ließ den Spaten, den er in seiner Linken hielt, fallen und trat hinter die Ecke. Aus dem Nichts wusste er, dass dieser Mann sein Bruder war. Wie konnte das sein? Er zitterte am ganzen Körper. War das hier ein Traum? Eine Parallelwelt, aus der er in diesem Moment erwachte?

"Hallo?", hörte er seine Stimme. Gregor sah durch das Hollundergebüsch, dass Elia auf die Bank neben dem Haus zusteuerte. Dort ruhte sich manch ein Wanderer aus, bevor sie die letzte steile Etappe zum Pass antraten. Er kramte in seinem Rucksack und zog eine Blechflasche hervor. Jede Bewegung dieses Mannes kam ihm vertraut vor. Aber sie hatten sich lange Zeit nicht gesehen. Auch diese Information tauchte plötzlich in seinem Kopf auf. Genau wie das Bild einer Postkarte aus Spanien ...

Suchend um sich blickend kam Elia auf die Eingangstür zu. "Hallo?"  

Gregor drohten die Beine zu versagen. Der Impuls seinen Bruder in die Arme zu schließen war mächtig, gleichzeitig traute er sich nicht. Wenn er doch nicht einmal wusste, wer er war? Ihm war, als röche er das  Shampoo, das sie als Kinder benutzten und sah vor sich die blaue Flasche und den durchsichtigen Duschvorhang. Kurzentschlossen zog er die Kapuze seines Sweatshirts tief in die Stirn und trat zwischen Gebüsch und Hausecke hervor, bemüht beiläufig zu erscheinen, als habe er nicht schon zuvor im Gebüsch gelauert.

Der andere wurde blass wie ein Leintuch, als er ihn erblickte und im selben Moment war Gregor klar: Elia erkannte ihn.

"Greg?" Die Flasche machte ein dumpfes Geräusch, als sie auf die Wiese fiel.

Gregor zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht ... ", begann er.

"Du weißt nicht was?" Elia tastete ohne den Blick von ihm zu wenden nach der Bank und ließ sich darauf sinken.

Gregor setzte sich zu ihm. Zwischen ihnen der größtmöglichste Abstand. "Bin ich Gregor?"

"Willst du mich verarschen?"

"Ich weiß nichts, ich weiß nicht einmal meinen Nachnamen und meinen Vornamen hat mir ein alter Mann gesagt.

"Du willst sagen, dass du nicht weißt, was passiert ist? Wie bist du hierhergekommen? Halb Europa hat  nach dir gesucht. Sie haben mich aus Spanien geholt. Wir konnten es alle nicht glauben ... du? Verwickelt in ein mysteriöses Gewaltverbrechen? Flüchtig? Spurlos verschwunden? " Elia schnappte nach Luft.

"Ich weiß nichts. Nur, dass ich in einer fremden Wohnung aufgewacht bin und gelaufen bin. Immer weiter. Geld habe ich gehabt. Viel. Ich fand es in der Jackentasche."

"Und du kannst dich an nichts erinnern? Nichts?"

"Rein gar nichts. Wie lange ... ?"

"Seit sechs Monaten, sie haben die Suche eingestellt."

"Greg, hast du nie das Bedürfnis gehabt rauszufinden, was da passiert ist? Eine Frau wird vermisst, man hat weder sie noch ihre Leiche gefunden. Hast du etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?"

Gregor schüttelte den Kopf, Tränen füllten seine Augen. "Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht ... ich habe nur ein paar Bruchstücke ... aber ich kann es nicht sagen. Ob ich ein Mörder bin."

Elia verschränkte die Arme.

Gregor wusste, dass er sein Bruder war. Er fühlte es, aber es kamen keine weiteren Erinnerungen. Als ob eine Kamera nur dieses eine Gesicht auf einem Foto scharfgestellt hätte und der Rest im verschwommenen Nebel blieb. Den wiederkehrenden Traum  von den zerspringenden Lippen behielt er für sich. Weshalb, konnte er nicht sagen.