Am dritten Tag sank das Fieber. Mit jedem Atemzug strömte Zuversicht in ihn. Mit jedem Bissen des reichlichen und nahrhaften Essens gewann er Kraft.
Er war Gregor. Mehr wusste er nicht, freundete sich aber für den Augenblick mit diesem Zustand an. Vorerst. Die anderen Fragen stieß er zurück, schloss die Augen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Heute und vielleicht auch morgen war er zufrieden damit, überhaupt irgendjemand zu sein. Und woher auch immer der alte Mann seinen Namen wusste, so war er sich sicher, dass es sein Name war. Gregor. Den alten Mann hatte er nicht mehr gesehen. Wo auch, denn die letzten Tage hatte er sich, bis auf wenige Ausnahmen, nur in seinem Zimmer aufgehalten. Es hatte Momente gegeben, in denen er glaubte, der Mann sei ein Hirngespinst gewesen oder ein Fiebertraum.
Er strich mit dem Besteck die letzten Reste seines Rühreis mit Speck, das ihm die Wirtin serviert hatte, zusammen. Biss mit geschlossenen Augen in das dunkle, kräftige Brot und nahm einen letzten Schluck des schwarzen und stark gesüßten Kaffees. Die Wirtin, die hinter dem Tresen hantierte, lächelte ihm warm zu. Offenbar war sie zufrieden, ihn mit gutem Appetit essen zu sehen. Er lächelte zurück und hob einen Daumen. Sie verschwand in der Küche, von dort hörte er ihren leisen Gesang, der vom Klappern des Geschirrs untermalt war.
Seufzend lehnte er sich zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Die Tür öffnete sich und der Junge kam herein, rief einen Gruß in Richtung Küche, legte seinen Rucksack auf den Tresen und steuerte direkt auf ihn zu. Gregor hob fragend die Augenbrauen. Die dunklen Augen des Jungen glitzerten und alles an ihm schien in Bewegung zu sein. Vor ihm stehend wiederholte er immer wieder denselben Satz. Dabei strahlte er ihn an und untermalte seine Wörter mit auffordernden Gesten, als hätte Gregor das große Los gezogen. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Neugier zog er vorsichtig einen braunen Briefumschlag aus der Innentasche seiner Jacke und legte ihn umständlich vor Gregor. Überreichte er ihm gerade den Nobelpreis? Da er nicht einmal seinen Nachnamen wusste, erschien ihm das gar nicht so absurd. Der Junge nickte ihm zu, hob seine linke Hand und kramte mit der rechten in der anderen Tasche einen Gegenstand hervor: Zwei alte, klobige Schlüssel, deren Oberfläche mit Rost versetzt waren, zusammengefasst mit einem dicken Stück Draht. Mit Bedacht legte er sie ordentlich vor ihn hin, drehte sich um und verschwand, nachdem er beim Rausgehen wieder etwas in die Küche gerufen hatte.
Gregor blieb sitzen und starrte auf den Umschlag und die Schlüssel. Der Zettel, der sich im Umschlag befand, war vergilbt, wie aus einem sehr alten Notizbuch. In altertümlicher Schrift mit Sütterlinbögen, deren Schwünge klar und selbstbewusst waren und die davon zeugten, dass eine geübte Hand sie geschrieben hatte, stand eine Adresse. Daneben GPS Daten, die grotesk in Kombination mit der Schrift und dem Papier wirkten.
Wer bin ich?, fragte er sich in plötzlichem Erschrecken. Woher weiß ich das?
Stefanie D. Seiler stefanie_d._seiler