Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) A Simple Law Is Doing the Impossible. It’s Making the Online Porn Industry Retreat.
Der Artikel berichtet über eine neue Gesetzgebung in den USA, die die Online-Pornoindustrie betrifft. Die Gesetzgebung erfordert, dass Nutzer staatlich ausgestellte Ausweisdokumente vorlegen, um auf pornografische Websites zugreifen zu können. Der Artikel beschreibt, wie die Gesetzgebung von der Gesetzgeberin Laurie Schlegel in Louisiana eingebracht wurde und seitdem in mehreren anderen Bundesstaaten, darunter Arkansas, Montana, Mississippi, Utah, Virginia und Texas, verabschiedet wurde. Die Gesetzgebung hat dazu geführt, dass einige große Pornoseiten aus den betroffenen Staaten zurückgezogen haben, während andere sich entschieden haben, den Betrieb einzustellen. Es wird darauf hingewiesen, dass die Gesetzgebung von einigen als verfassungswidrig angesehen wird und möglicherweise rechtliche Herausforderungen von Interessenvertretern der Pornoindustrie sowie der ACLU auslösen könnte. Die Debatte konzentriert sich auf die Auswirkungen von Online-Pornografie auf Minderjährige und die Schwierigkeiten bei der Regulierung dieser Industrie. (Marc Novikoff, Politico)
Abgesehen vom Humor, der praktisch sämtliche Berührungspunkte zwischen Politik und Pornoindustrie zwangsläufig umgibt, ist die Episode vor allem deswegen interessant für mich, weil sie zeigt, wie häufig die Vorstellung, dass ein bestimmter Bereich einfach nicht regulierbar ist oder dass bestimmte politische Kontrollen schlicht unmöglich durchzusetzen sind, häufig nicht der Realität entsprechen. Bereits ein winziges Gesetz, niedrigschwellig angesetzt, reichte aus, um ein komplettes Geschäftsmodell zu torpedieren. Wenn man Probleme bedenkt, wie das wir seit mittlerweile weit über 10 Jahren ein theoretisches Alterslimit für Whatsapp von 16 Jahren haben, das zu nicht viel mehr als einem schlechten Scherz taugt, oder einem theoretischen Limit von 13 Jahren für die Anmeldung auf Facebook (nicht, dass das bei diesem Boomerportal noch relevant wäre) kann man erahnen, wo tatsächlich Möglichkeitsräume bestehen würden. Von solchen Themen wie der Besteuerung der Techriesen oder der Vermeidung von Steuerflucht gar nicht erst angefangen.
Der Autor Robert Misik reflektiert über den Westen und seine Ambivalenz. Er beobachtet Demonstranten, die russische Fahnen schwenken und zum Einsatz von Atomwaffen aufrufen, vergleicht dies mit extremistischen Gruppen und betont die Komplexität des Westens, der Freiheit, Selbstverleugnung, Überheblichkeit und Verlogenheit verkörpert. Er diskutiert die wechselnde Bedeutung des Westens im Laufe der Geschichte, von Demokratie bis Kapitalismus, und betrachtet die Spannung zwischen Aufklärung und "White Supremacy". Misik kritisiert den westlichen Selbsthass und betont die Vielfalt des "Blicks des Globalen Südens". Er fordert dazu auf, kritische Perspektiven aus verschiedenen Teilen der Welt zu berücksichtigen und den Dialog zu suchen. (Robert Misik, taz)
Ich stimme Misik in seiner Analyse vollkommen zu. Tatsächlich gibt es eine Art Epidemie der apokalyptischen Untergangsvisionen des Westens, die vermutlich letztlich ungebrochen seit Oswald Spengler durch die westlichen Diskurse wabert. Ich fühle mich allerdings am deutlichsten an die 1970er Jahre erinnert, als der Westen und alles für das er stand und steht zum letzten Mal dergestalt Krisengeschüttelt schien. Damals erwies er sich als wesentlich stärker und reformfähiger, als dies selbst seine engagierten Verteidiger*innen für möglich erachtet hätten. Ich gehe davon aus, dass sich das wiederholen und das liberale Modell seine Überlegenheit gegenüber anderen Ansätzen noch einmal unter Beweis stellen wird.
3) Was die schweigende Mehrheit möchte
Der Begriff "Mehrheit" spielt eine zentrale Rolle in gesellschaftspolitischen Debatten. Politiker behaupten oft zu wissen, was die Mehrheit will, doch diese bleibt oft abstrakt und schweigsam. In der Vergangenheit wurde gegen die schweigende Mehrheit in Diktaturen regiert, während die Wende in der DDR zeigte, dass Menschen die Macht der Mehrheit beanspruchen können. In der Bundesrepublik regiert die Ampelkoalition dank einer vergangenen Mehrheit, obwohl ihre aktuelle Unterstützung in Umfragen gesunken ist. Einige, wie Hubert Aiwanger, fordern die schweigende Mehrheit auf, sich Gehör zu verschaffen. Doch diese Vorstellung wirkt von oben herab und entmündigend. Kritiker werfen der Ampelkoalition vor, die Bürger zu bevormunden, doch auch diese Kritiker vermitteln kein differenziertes Bild der Mehrheit. Die Idee einer schweigenden Mehrheit ist paradox – sie soll stark sein, aber sich nicht äußern. In sozialen Medien entfaltet sich oft ein lauter Streit zwischen radikalen Minderheiten. Das Konzept der schweigenden Mehrheit kann genutzt werden, um bestimmte Gruppen auszuschließen oder als Waffe im Kulturkampf einzusetzen. Die Behauptung, für die Mehrheit zu sprechen, birgt Gefahren, besonders wenn Populisten solche Ansprüche erheben und Menschen ihnen glauben. Die Rückkehr eines "gesunden Volksempfindens" als Wert kann bedenklich sein, da es oft von Hass und Vorurteilen getrieben wird. Es ist wichtig, differenzierte Ansichten zu respektieren und die Vorstellung einer schweigenden Mehrheit kritisch zu hinterfragen. (Jörg Thomann, FAZ)
Ich bin so froh, dass Thomann diesen Artikel geschrieben hat, und beinahe noch froher, dass er in der FAZ erschienen ist und somit eine gewisse Chance hat, das denkende bürgerliche Publikum zu erreichen. Die größte Zielgruppe würde sich vermutlich bei den Blättern des Springer-Verlags finden, aber so viel Selbstreflexion traue ich denen dann doch nicht zu.
Die schweigende Mehrheit ist ein Wahlkampfschlager, der mindestens auf Richard Nixon zurückzuführen ist. Er nutzte sie unter diesem Begriff im Wahlkampf 1968, um die Opposition grundsätzlich zu delegitimieren. Schon damals war es Unfug: der Ausgang der Wahl 1968 war relativ knapp bitte, trotz des Chaos, der Straßenkämpfe und der Gewalt und den Flügelkämpfen innerhalb der demokratischen Partei. Das Ganze wurde allerdings von dem durchschlagenden Erfolg nächstens bei den Wahlen 1972 überschattet. Geschwiegen allerdings hat die Mehrheit damals auch nicht.
Eine Frage hätte ich für soziologisch einschlägig gebildete Leser*innen: hat das Konzept der Schweigespirale von Noelle-Neumann je gestimmt oder war das immer schon eine gut klingende, aber letztlich nicht empirisch beweisbare These?
4) Social Groups as the Source of Political Belief Systems: Fresh Evidence on an Old Theory
Wir präsentieren neue Belege dafür, dass Einstellungen gegenüber unparteiischen sozialen Gruppen politische Glaubenssysteme strukturieren. Zunächst zeigen wir, dass die meisten Amerikaner ein fundiertes Wissen über die sozialen Gruppen haben, die Gruppen-bezogene Politik unterstützen oder ablehnen. Dieses Wissen übertrifft oft das Bewusstsein dafür, wo Demokraten und Republikaner in denselben Fragen stehen. Dann zeigen wir, dass dieses Wissen das fördert, was Philip Converse als ideologische Kohärenz bezeichnete: Amerikaner, die wissen, welche Gruppen eine Politik unterstützen oder ablehnen, neigen eher dazu, stabile politische Positionen im Laufe der Zeit zu vertreten und ihre Einstellungen in konsequent liberale oder konservative Bündel zu organisieren. Im 20. Jahrhundert rivalisierte das Wissen über die Positionen sozialer Gruppen in Sachfragen mit dem Wissen über die Positionen der Parteien hinsichtlich seiner Fähigkeit, Haltungen stabil zu halten und einzuschränken. Mit der Stärkung der Parteiidentifikation in den letzten Jahrzehnten ist jedoch das Wissen über die Positionen der Parteien zur wichtigsten Quelle der Struktur in den Glaubenssystemen der meisten Amerikaner geworden. (Elizabeth Mitchell Elder/Neil A. O'Brian, Cambridge)
Ich liebe diese Studie. Nicht nur läuft sie völlig kontra zu allen populären Annahmen über die Wählenden, was sie hat auch noch das Potential, diverse Problemstellungen zu erklären, um die sich der Diskurs seit Jahren dreht. Wenn das Wissen der breiten Bevölkerung über politische Positionen was der Parteien und der zugrundeliegenden Sachfragen das was heute tatsächlich wesentlich besser ist als das früher der Fall war, erklärt sich schnell die aktuelle Polarisierung. Denn wenn die Leute schlichtweg keine genaue Vorstellung davon haben, für was die Parteien konkret stehen, basieren ihre Wahlentscheidungen natürlich die wesentlich mehr auf Milieubindungen, als dies heutzutage der Fall ist. Bleibt eigentlich nur die Frage nach Henne und Ei: haben die Milieubindungen abgenommen und die Leute dann mehr gelernt oder haben die Leute mehr gelernt und dadurch die Milieubindungen abgenommen? Die komplette Denkrichtung jedenfalls ist ungeheuer spannend.
5) Climate politics has entered a new phase
Das Artikel betont, dass der Übergang zur sauberen Energie, um den Klimawandel zu bewältigen, global ähnliche Herausforderungen birgt. Parallelen zwischen China und dem Vereinigten Königreich zeigen, dass die Art und Weise, wie Regierungen den Energieübergang managen, ihre Zukunft prägen wird. Angesichts des Klimawandels und steigender Temperaturen gewinnt das Jahr 2023 an Bedeutung, da es politische Führungskräfte auf unbekannte Gewässer zwingt. Im Gegensatz zu früheren Übergängen hat die Energiewende ein Zeitlimit. Der Artikel betont die Notwendigkeit, Treibhausgasemissionen drastisch zu reduzieren und fossile Brennstoffe durch saubere Energiequellen zu ersetzen. Länder, die sich rasch auf diese Transformation einstellen, werden besser gerüstet sein. Der Beitrag hebt hervor, wie China trotz einstiger Klimaskepsis zur Vorreiterin sauberer Energie wurde. Während andere Länder Maßnahmen ergreifen, bleibt das Vereinigte Königreich in seiner Reaktion auf die Herausforderungen des Klimawandels zurück, was langfristige wirtschaftliche Risiken birgt. (Pilita Clark, Financial Times)
Auch dieses Thema habe ich hier schon öfter aufgebracht: einerseits das zweischneidige Schwert China, andererseits der reale Verlust an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch ideologische Verbohrtheit. Zuerst die Chinathematik. Chinas wesentlich entschlosseneres Herangehen an die Dekarbonisierung (bei gleichzeitiger Steigerung der Emissionen, was zwar kognitive Dissonanz hervorruft, aber vor allem im rapiden Wirtschaftswachstum begründet ist) sorgt dafür, dass es sowohl von der Infrastruktur als auch von der Technologie und den Kapazitäten her wesentlich besser aufgestellt ist oder sein wird als der Westen. Gleichzeitig, und das ist die Ambivalenz, muss man immer vorsichtig sein, einerseits die Zahlen aus China für bare Münze zu nehmen und andererseits einen linearen Wachstumspfad fortzuschreiben, da der Beweis immer noch aussteht, das das Erreichen des westlichen Lebensstandards ohne eine Übernahme des liberalen Systems möglich ist. Sicher allerdings ist, dass wir ernsthafte Probleme bekommen werden, wenn wir die Transformation zu lange verzögern.
Resterampe
a) Die ZEIT hat ein Langinterview mit Habeck, das ganz interessant ist.
b) Was Frank-Walter Steinmeier sagt.
c) Die Regierung hat das nächste Sondervermögen beschlossen.
d) Nachtrag zu der Diskussion um Chinas Rolle und deutsche Außenpolitik.
e) Spannendes Profil von Vivek Ramaswamy.
f) Stimulus is never just temporary.
g) The genius of the Wall Street Journal editorial page isn’t in what it says.
h) Anti-woke is fading, but immigration is forever.
i) Wir hatten letzthin den Artikel zu Klassenfahrten diskutiert; hier ist eine Gegenrede.
j) Absolut korrekter Punkt zu Florida und René Pfister.
k) Spanien und Italien tun was gegen das Marktversagen bei den Banken.
l) Sorry, aber dieser Leaver ist einfach zu witzig.
m) "The Coming Biden Blowout" ist mir eine zu starke Formulierung, aber grundsätzlich ist die Argumentation nicht falsch.
n) Muss man immer wieder sagen.
o) Wissing macht weiter auf Scheuer.
p) Umverteilung funktioniert.g
q) Stimme Marcel Fratzscher zu.
s) Guter Kommentar zur geplanten Beitragserhöhung der ÖRR.
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