Gedanken eines Aussteigers

Wenn ich mal tot bin, mache ich nur noch, was ich will. Dann lasse ich mir von niemanden mehr etwas vorschreiben. Schon im Säuglingsalter durfte ich nichts selber entscheiden. Ob oder in welche Schule ich zu gehen hatte, wurde ich nicht nach gefragt. Ständige Bevormundungen und Gängelei waren an der Tagesordnung. Besonders meine Eltern, die beiderlei Geschlechts waren, bestimmten, wann ich ins Bett musste, wann ich aufzustehen hatte und auch essen musste, was auf den Tisch kam. Meine später diagnostizierte Spinatphobie erkannten sie nicht. Egal was ich wollte, dann hieß es immer: „Solange deine Füße unter meinem Tisch sind ....“. Ich war kurz davor mir einen eigenen Tisch zu kaufen und autark zu leben. Lieder war mein Taschengeld ständig sanktioniert wegen der Häufung von hohen Zahlen auf den Zeugnissen. Selbst meine Noten durfte ich nicht frei wählen. Und was war das für eine Aufregung, als ich einmal das Familienauto borgen wollte, wegen einer gesellschaftlichen Verpflichtung in der Dorfdisco. Da meinte unser Ernährer: „Du bist vierzehn und morgen ist Schule!“
Kaum war meine Schullaufbahn endlich beendet und ich mich frei fühlte und mich auf eine Weltreise freute, hatte meine Mutter schon eine Lehrstelle für mich organisiert. Nach zehn Jahren mühevollen Lernens hatte ich gerade einmal eine Woche Zeit und ich musste in einer Firma arbeiten. Ganz unten in der Hierarchie. Das war vielleicht demütigend. Und von meinem kargen Lohn wollte Mutter auch noch die Hälfte für Kost und Logis. „Aha“, dachte ich, „Jetzt holen die sich alles wieder zurück, was sie in mich reingesteckt haben.“ Ich war also nur eine Investition und nun holen sie sich ihre Dividende. Meine erste Freundin musste ich vor der Haustüre verabschieden, weil sie nicht rein durfte, weil meine Eltern, die von ihr nicht mochten. Im Winter haben wir uns getrennt, weil es einfach zu kalt wurde. Wenn ich mich ihr zärtlich nähern wollte, klopfte meine Mutter oben an der Fensterscheibe und unterbot, was noch gar nicht richtig begonnen hatte. So wurde ich erotisch kurzgehalten. Man hatte mich so konditioniert, dass ich niemals über eine rote Ampel gegangen wäre. Noch heute bleibe ich nachts um vier, ob es regnet, hagelt oder schneit, stehen, selbst wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist. Sogar wenn eine Ampel mal defekt ist oder ausgeschaltet, warte ich brav, bis sie wieder funktioniert und wenn es Tage dauert.
Doch eines Tages habe ich mich von allem befreit. Ich beschloss, fortan selbst zu entscheiden. Als erstes entschied ich, meine Eltern kommen in ein Heim. Vater nach Bulgarien und Mutter nach Finnland, weil sie so gerne putzt. Ich meine, wegen der vielen Lappen dort.
Jetzt endlich war ich frei. Leider war es nur von kurzer Dauer, denn ich lernte meine zukünftige Frau kennen. Ab da war wieder alles wie früher. Sie bestimmte und ich folgte willig. Liebe macht eben blind. Und doof. Hatte ich aber erst gemerkt, als ich schon „Ja“ gesagt hatte. Drei Jahre hielt ich durch, dann wurde sie von einem Geisterfahrer in einer Einbahnstraße umgefahren. Zum Glück konnte man mir nichts nachweisen, außer vielleicht, das ich ein begründetes Interesse gehabt habe. Endlich konnte ich den Atem der Freiheit genießen. Bedauerlich war nur, sie hatte vor ihrem Ende nicht mehr für Kinder gesorgt, denen ich sonst jetzt hätte sagen dürfen, was sie zu machen haben. Aber man kann eben nicht alles haben.
Jetzt freue ich mich schon auf meinen Tod, den ich völlig zwanglos gestalten kann. Gerade Anfang dreißig, aber ich wusste, was ich wollte. Mein erklärtes Ziel war es, vor meinen Eltern zu gehen, dann kann mich keiner zwingen auf deren zu gehen. Das war meine Rache für die jahrelangen Drangsalierungen. Von Frauen und Erotik ließ ich auch die Finger. Einmal mit meiner Verblichenen und auch nur auf ihr Drängen, hat mir gereicht fürs ganze Leben. Nochmal will ich das nicht durchmachen. Da dusche ich lieber dreimal am Tag kalt. Das ist auch besser für den Kreislauf. Und ich will ja schließlich gesund sterben. Ich will körperlich durchtrainiert sterben und nahtlos braun. Sollen alle sehen, wie ich in Form bin. Ich brauch auch keinen Sarg. Ich will eine Luftmatratze, als läge ich gerade am FKK Strand und schlafe. So wie ich gekommen bin, so will ich auch gehen. Mein Anblick soll allen in ewiger Erinnerung bleiben. Und dann möchte ich neben meinem Lieblingscafé, da steht ein schöner Baum, drunter beerdigt werden. Im Stehen. Senkrecht in ein Loch herabgelassen. Bei zu langem Liegen kriegt man sonst leicht eine Thrombose. Wenn ich mal tot bin, will ich meine Ruhe und keine Schmerzen. Im Sommer stehen da immer Tische und dann können meine Freunde auf ein Schwätzchen vorbeikommen und ich bin dann schon da. Ist doch praktisch. Muss man nicht erst einen Termin machen. Ich bin ja ständig da. Stehe da und warte bis einer kommt. Auch eine große Trauerfeier brauche ich nicht. Kein Rumgesülze und Rumgeheule. Ich werde mir selbst eine Rede schreiben und aufnehmen. Die können sie dann abspielen und hinterher gibt es zur Feier eine Runde Sekt für alle. Auf den anschließenden Tanz habe ich verzichtet. Ich tanze ja nicht so gerne. Das alles dann in der Mittagspause, dann müssen meine Leute sich nicht extra einen halben Tag frei nehmen. So stelle ich mir das vor. Kurz und geschmackvoll. Blumengestecke und Kränze brauch ich auch nicht. Seh die ja dann eh nicht mehr. Wenn einer unbedingt will, kann er ja einen Frankfurter Kranz backen. Da freuen sich die Leute mehr. An den Baum nur ein kleines Holztäfelchen, mit dem Hinweis: „Hier ist kein Hundeklo!“
So stelle ich mir meinen Abschied vor. Jetzt muss ich nur noch gucken wann. Ich habe schon einmal unter meinen Leuten nachgefragt. Gar nicht so einfach sich auf ein Datum zu einigen. Mal hat der was, mal der andere. Im Winter ist vielen zu kalt. Im Sommer im Urlaub. Wir haben uns jetzt mal grob auf Ende September geeinigt. Nur das Jahr haben wir noch offengelassen. Aber in jedem Fall in einem Jahr wo keine Fußballweltmeisterschaft und Olympia stattfinden. Das grenzt es natürlich etwas ein. Ich für meinen Teil möchte vor achtzig, aber nicht vor meinem fünfzigsten. Dazwischen ist es mir eigentlich egal. Sonntag nachmittags wäre am günstigsten. Ich denke so zwischen zwei und drei Uhr. Da ist noch Sonne und hell. Die Einladungen sind auch schon gedruckt. Muss ich nur noch den Termin reinsetzen. Im Prinzip ist alle geplant. Jedenfalls an mir wird das nicht scheitern dann. Ich habe alles im Griff. Die einzige kleine Ungewissheit ist, wie und woran ich sterbe. Gesund zu sterben ist ja eine Herausforderung. Also ich meine ein Schnupfen oder so, das ist noch ok. Abgebrochener Fingernagel beunruhigt mich jetzt auch noch nicht. Also am liebsten wäre es mir, wenn ich so ein bis zwei Tage vorher wüsste, da kommt was Ernstes auf mich zu. Das könnte eventuell langfristig zum Tode führen, dann komm ich dem zuvor. Über das WIE muss ich mir noch ein paar Gedanken machen. Ist ja schließlich eine Entscheidung, die man nicht jeden Tag trifft. Da ist Sorgfalt angesagt. Nur klar ist für mich, jemanden dabei zu belästigen, dass widerstrebt mir. Ich habe so oft in der Bahn gehört, wegen Personenschaden werden wir verspätet ankommen. Da hat sich dann irgend ein Selbstdarsteller vor die Gleise geschmissen. Und im Zug sind alle Leute dann sauer. Und der arme Zugführer kann einem ja auch leidtun. Ich finde so ein Verhalten unsolidarisch. Da wollte sich so ein Egomane wichtig tun und die Leute kommen zu spät zur Arbeit. Das ist doch keine Art. Man hängt sich zuhause still und leise im Keller auf. So macht man das. Dann stört man auch keinen. Unsensible gehen dafür in den Wald. Da kommt dann so eine nette Familie mit den Kindern vorbei. Will picknicken und da hängt da so ein Typ, mit heraushängender Zunge. Da kann das Hähnchenschenkel doch nicht mehr schmecken. Und wie erklärt man den Kindern das.
„Das ist zur Abschreckung. Damit das Wildschwein nicht die Baumrinde abnagt.“
Nein, ich möchte nicht das wegen mir traumatisierte Kinder herumlaufen und später womöglich zu Massenmördern werden, bloß weil sie mich gesehen haben. Aufgehängt, tot und nackt.
Aber aufhängen ist auch nicht so das richtige für mich. Schon bei zu engen Hemdkragen schnürt sich alles so unangenehm zu. Erschießen ist auch nichts. Ohne Brille seh ich nicht, ob ich getroffen habe und ich möchte nicht, dass alle wissen, dass ich eine Brille trage. Bleibt noch Gift. Ich könnte Pilze sammeln. Einfach nur die, die andere stehen lassen. Die werden es dann schon bringen. Muss ich dann nur zuhause noch putzen, anbraten und mit Weißwein ablöschen und Sahne verfeinern. Dann lege ich mich nackt auf meine Luftmatratze und esse die. Pilze sind ja ohnehin gesund, weil sie kaum Fett enthalten. Na ja, wenn das Ganze ja im September sein soll – da gibt es doch schon Pilze? Sonst muss ich mir, welche auf dem Wochenmarkt besorgen. Das ist zwar etwas teuer, aber dient ja einer guten Sache. Einmal kann man das schon machen. Vielleicht streu ich aus Sicherheit noch ein paar Schlaftabletten, zerkleinert im Mörser, drüber. Dann bin ich auf der sicheren Seite und macht auch optisch was her. Das Auge isst schließlich mit.
Eigentlich ein Wahnsinn an was man alles denken muss. Wie gut das ich rechtzeitig vorbereitet bin. Sonst artet es, wenn es so weit ist, noch in unnötigen Stress aus.
So, ich glaube, jetzt habe ich alles, was ich brauche. Muss ich nur noch die Rede schreiben. Am besten ich mache das gleich, dann habe ich es hinter mir.
Aber wie schreibt man jetzt so eine Rede über sich? Vielleicht fange ich mit einem lockeren Spruch oder einen Witz, damit gleich Stimmung aufkommt. Dann kurzer Abriss über mein Leben. Dann der Dank an diejenigen die gekommen sind. Noch einen Schlussjoke und am Ende noch einen Sinnspruch. So eine Art Quintessenz meines Lebens. Da haben sie auch was zum Reden, wenn der Sekt gereicht wird. Den habe ich schon bei dem Café bestellt und gleich bezahlt. Nicht das es hinterher heißt, ich hätte die Zeche geprellt.
So, jetzt aber mal ran an meine letzten Worte! Vielleicht sollte ich ja alles Reimen. Bei Fastnachtsvorträgen machen die das ja auch. Kommt auch immer gut an.
„Hier steh ich nun im kühlen Grab ... ach Gott, was reimt sich denn auf Grab? Ach, dann schreib ich eben Loch. Hier steh ich nun im kühlen Loch, ich bin nun Tod – so glaubt es doch!“
Ja das ist doch schön. Da lachen bestimmt ein paar.
„Jetzt pflanzt auf mich nen schönen Ginster,
hier unten ist es furchtbar – finster.
Mein Leben ging mal rauf, mal runter,
war bis zuletzt noch richtig munter.
Nun steh ich hier in Adams Kleid.
Ach Kinder was ne schöne Zeit.
Jetzt trinkt nen Sekt, so ist der Plan,
derweil klopf ich bei Petrus an.
Adieu, machts gut, die Red ist aus, zum Abschied schenkt mir noch Applaus. Am Schlusse noch ganz kurz bericht, mein Ende war ein Pilzgericht. Ich hoff, ihr hattet heute Spaß Und macht mir stets den Ginster nass. Dann sag ich tschau – bin jetzt mal fort, das wars für heut – das letzte Wort.“

Ich finde, das ist mir jetzt mal echt gut gelungen. Die Rede hat Tiefgang, Humor und gibt Hoffnung. Und ist auch mal was anderes.
Das einzige, wo ich noch ein paar Bedenken habe, ist, wo ich dann genau hinkomme.
Also Himmel wäre schon gut. Hitze vertrage ich ja nicht so gut. Aber wie das da so ist? Nix Genaues weiß man ja. Bestätigte Berichte gibt es faktisch ja kaum bis gar nicht.
Angeblich wird man ja wiedergeboren. Aber wann? Und wie? Und als was?
Kann man sich das dann aussuchen? Ist ja alles so ungewiss. Ich will eigentlich immer alles genau wissen, wenn ich eine Reise buche. Aber es gibt da halt auch keine Prospekte, wo man sich mal einlesen kann. Und von Reiserückkehrern wird ja kaum berichtet. Alles so nebulös, so vage. Irgendwie bin ich jetzt doch unsicher geworden. Vielleicht warte ich doch noch mal länger ab, bis da mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Hauptsache, der Plan steht und ich muss mir jetzt noch keine Gedanken machen. Doch momentan bin ich ja noch jung und gesund. Und nun kann ich der Zukunft entspannt entgegensehen.

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