Der Dichter Novalis träumt im gleichnamigen Gedicht von einer Welt, in der Gefühle und Leidenschaft zu mehr Freiheit führen. Küsse und Gesang erreichen mehr Wertschätzung als die gelehrte Analyse der Welt, so dass die Magie das „verkehrte Wesen“ vertreibt.
Man könnte meinen, dass unsere moderne Gesellschaft genau den Geschmack der romantisierenden Schriftsteller*innen trifft, wenn Fakten über Bord geworfen werden und jede sachliche Diskussion in einer hitzigen Debatte endet, da die Menschen ihren Emotionen mehr Platz einräumen, als sie sollten.
Nehmen wir die aktuelle Diskussion um das Tempolimit. Während in den vergangenen Zeiten die Beschränkung der Geschwindigkeit auf u.a. Autobahnen mehrheitlich abgelehnt wurde, stimmten 2021 in einer Umfrage des ADAC 50 % dafür, das Tempolimit einzuführen. Da 5 % keine Angaben gemacht haben, stehen die ablehnenden 45 % einer Pluralität gegenüber.
Armin Laschet, Kanzlerkandidat der seit 16 Jahren regierenden Union, scheint dennoch ein großer Freund der Idee, Zahlen keine Beachtung zu schenken. Er bezeichnet das Limit als Symbol und schiebt es damit in die Ecke der Nutzlosigkeit und ignoriert gekonnt den Willen der Mehrheit. Dass tatsächlich CO2 gespart wird (siehe ADAC-Artikel) und man mit weniger Verkehrstoten rechnet, interessiert dabei den Mann aus NRW überhaupt nicht. Er spielt hier eindeutig die Gefühlskarte, indem er konkrete Zahlen außen vorlässt und stattdessen auf die emotionale Ebene des Verzichts, der Verbote und Identität der Deutschen als Land der Autofahrer anspricht.
Nicht nur am konkreten Beispiel des Tempolimits verzichten Teile der politischen Klasse auf die wissenschaftlichen Grundlagen in der Entscheidungsfindung. Im Jahr 2019 gaben lächerliche 18 % an, dass die Bundesregierung ausreichend für den Umweltschutz leiste. Nicht einmal jeder 5. ist demnach mit der Leistung der Regierung in diesem Feld zufrieden und dennoch lehnt vor allem die CDU strenge, zielführende Maßnahmen ab und beweist damit erneut, dass unumstößliche Zahlen als Handlungsanweisung nicht ausreichen.
Im Zusammenhang mit der katastrophalen Ignoranz der Union bei eklatanten Krisen unserer Zeit finden wir auch den Jubel des Wirtschaftsministers Peter Altmaier, der die Ablehnung seines eigenen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als wichtig und richtig einschätzt – das Fähnchen im Wind dreht und dreht sich.
Leider müssen wir auch feststellen, dass nicht nur die dauerhaft stolpernde Union Zahlen und Werte ausblendet, da die SPD-Führung ähnliche Fehler begeht. Nach einem deutlichen Votum für eine linke Spitze der Partei wurde kurzerhand ein konservativer Genosse (mitverantwortlich für die Agenda 2010, im CumEx-Skandal involviert und schlechte Figur beim G20-Gipfel vor einigen Jahren) zum Kanzlerkandidaten bestimmt. Auch hier wird auf die Gefühlsebene eingegangen, so dass sich ja niemand ausgeschlossen fühlt, auch wenn dadurch monatelange Prozesse komplett über den Haufen geworfen werden. Ich frage mich aufrichtig, warum nicht auf die Menschen gehört wird. Und dann finde ich die Antwort:
Logik und Kohärenz werden aus dem Fenster geworfen, um der eigentlichen Triebfeder unseres Systems zu dienen: Machterhalt.
Die Ignoranz der Bedürfnisse (Umweltschutz, Soziale Absicherung und Digitalisierung) beweist, dass unsere Repräsentanten im Bundestag nicht mehr uns vertreten, sondern die Interessen Weniger bedienen – denn bei aller Scheu vor eindeutigen Handlungen, die auf Zahlen aus der Bevölkerung basieren, eine Zahl ist immer von Bedeutung:
Parteispenden. Der politische Zeiger schlägt nämlich dann besonders aus, wenn das Geld fließt. Medien und Personen im Bundestag fühlen sich von dieser Unterstellung persönlich angegriffen, doch getroffene Hunde bellen am lautesten.
Die schäbigen Maskendeals, günstigere Kredite für Häuser, zig Termine mit Lobbyfirmen, die einseitige Positionen vertreten, Drehtür-Effekt und die Bequemlichkeit als politische Figur im Fernsehen aufzutreten und sein Gesicht in allen Medien zu finden – es gibt genügend Gründe moralischen Bankrott zu erklären, um in dieser Gesellschaft, die in den Dreck gefahren wird, das bestmögliche Leben auszukosten.
Schockierend deutlich wird das an der Tatsache, dass niemand, der für die Rolle als Regierungschef*in kandidiert wirklich etwas Inhaltliches bewegen will. Armin Laschet will die Macht. Annalena Baerbock will die Macht. Olaf Scholz will die Macht.
Ich bin sicher, dass Novalis in seinem Gedicht nicht sagen will, dass Menschen in Verantwortung Zahlen und Tabellen ignorieren, um sich selbst in die Tasche zu wirtschaften, denn im Kern der romantischen Epoche steht die Flucht in die Selbstverwirklichung unseres Wesens – eine Chance, die uns derzeit von egoistischen Kräften in den Entscheidungsprozessen gestohlen wird.
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