Unsere Gesprächskultur muss dringend erneuert werden. Die Gesellschaft kann momentan kaum konstruktiv diskutieren, so dass wir auf eigenen Positionen verharren, selbst wenn es vernünftige Argumente dagegen gibt. Dies ist keineswegs ein modernes Problem, das haben Hirnforscher nachgewiesen.
https://www.spektrum.de/news/warum-wir-nicht-glauben-was-uns-nicht-passt/1483465
Auf persönlicher Ebene verknüpfen wir Einstellung und Weltsicht mit der eigenen Identität, deshalb begreifen wir kritische Fakten auch als Kritik an uns selbst. Ich bin kein Experte für Hirnforschung und Psychologie, insofern kann ich in dieser Hinsicht nichts zur Debatte und Änderung beitragen, jedoch kann ich auf andere Probleme aufmerksam machen. Um solche psychologischen Phänomene auszunutzen, gibt es nämlich rhetorische Strategien, um sachliche Debatten kaputtzumachen.
Fachlich bezeichnet man solches Verhalten als „rabulistisch“, was etwa „wortklauberisch“ und „haarspalterisch“ bedeutet. Heute stelle ich eine Form vor, die häufig genutzt wird, um vernunftorientierte Diskussionen zu zerstören und treffenden Argumenten die Wirkung zu entziehen: „Whataboutism“.
Grundlegend ist es eine Strategie, innerhalb eines Gespräches auf ein anderes Thema zu verweisen, um die eigentlichen Argumente zu entkräften und zu verwässern. Ein Beispiel, welches in den USA häufig auftritt, ist die Variante, dass bei den millionenfachen Verfehlungen des Donald Trumps auf die vermeintlichen Fehler Clintons hingewiesen wird (Auf ihre und auf seine).
https://www.youtube.com/watch?v=1ZAPwfrtAFY
Der Schwerpunkt der Diskussion wird auf diese Art und Weise verschoben, so dass ich von mir ablenken kann und aus der Defensive in die Offensive wechsele. Ein einfaches Werkzeug der Rhetorik, das unglaubliche Kraft entfalten kann. Erst kürzlich verwies Stefan Möller auf die verfassungswidrige Beobachtung Bodo Ramelows durch den Verfassungsschutz, um von der Beobachtung der AfD abzulenken. Ramelow reagierte mit einem Mittelfinger, so dass tagelange darüber diskutierte wurde, ob die Geste akzeptabel sei oder nicht – die faschistischen Tendenzen der blauen Partei rücken in den Hintergrund. Es ist ein ideales Beispiel für die effektive Anwendung von „Whataboutism“.
Mit dieser Form füttert man zudem den psychologischen Effekt, den ich eingangs beschrieben habe, da ich besonders empfänglich für diese Art bin, da dadurch meine eigene Perspektive gestärkt wird.
Für eine sachliche und konstruktive Gesprächskultur darf ich aber nicht ablenken, sondern muss auf den Inhalt fokussiert bleiben. „Whataboutism“ lenkt jedoch nicht nur, es spielt auch keine Rolle für die Beurteilung des Sachverhalts. Wenn wir in den USA bleiben, so spielt das Sexualleben von Bill Clinton keine Rolle für die Bewertung von Donald Trump. Ist das Verhalten Clintons diskutabel? Ja, befreit das alle anderen von Strafverfolgung? Nein. Die Liste an Beispielen lässt sich beliebig fortsetzen, da alle Bereiche betroffen sind.
Der erste Schritt in der Überwindung solcher Taktiken besteht darin, sie zu erkennen. Führe ich Gespräche mit Menschen, die dauerhaft das Thema verwässern und sich herauswinden wollen, muss das rhetorische Mittel verstehen. Anschließend muss ich es auch als solches abstempeln. Das gilt in privaten, kleinen Gesprächen, aber vor allem in den Medien. Es ist die zentrale Aufgabe der Medien, rhetorische Spitzfindigkeiten zu erkennen und zu markieren, damit ungeschultere Zuschauer verstehen, dass es dann nicht mehr um den Inhalt geht. Fachliche Debatten über die Probleme in unserem Land können nur erfolgreich sein, wenn wir die Situation ansprechen und offen miteinander umgehen, daher verlange ich, dass alle Beteiligten sich hinterfragen und darauf achten, die Diskussionskultur in unserem Leben zu überdenken und zu verbessern – bevor das nicht passiert, wird ein echter Dialog zwischen politischen Positionen nicht kontinuierlich möglich sein.
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