Über das vergangene Wochenende hat ein Videoausschnitt von der Bundespressekonferenz für Heiterkeit gesorgt, in dem das Bundesverkehrsministerium nicht in der Lage war, ein einziges Argument gegen die Einführung eines Tempolimits zu nennen:

Video: Warum das Bundesverkehrsministerium gegen ein #Tempolimit ist, will das FDP-Haus nicht verraten. Argumente hat man keine mehr. Skurril: Das Bundesumweltministerium hält direkt danach mit Pro-Argumenten dagegen: CO2-Einsparung, Erhöhung der Verkehrssicherheit & Öleinsparung pic.twitter.com/mGgt8qxsGo

— Tilo Jung (@TiloJung) April 1, 2022


Dieses Unvermögen lässt sich aber recht leicht erklären, wenn man im Deutschunterricht richtig aufgepasst hat. Konkret geht es um die Erörterung, aus deren Fundus ich ja schon einmal nützliche Erklärungen für Diskursmechaniken gezogen habe. Da liegt es doch nahe, sich die Lehrerkappe noch einmal aufzuziehen und näher zu betrachten, was eigentlich ein Argument genau ausmacht.

In seiner Grundstruktur, die in der täglichen Praxis natürlich nur selten eingehalten wird, enthält ein Argument drei Bestandteile: eine Behauptung, eine Begründung und einen Beleg. Wir nennen das aus nachvollziehbaren Gründen die 3B. Ein primitives Beispiel dafür: Wenn du aus großer Höhe fällst, stirbst du (Behauptung), weil dein Körper die Energien, die beim Aufprall auf den Boden freiwerden, nicht aushalten kann (Begründung); wir sehen das etwa an den Selbstmörder*innen, die von Wolkenkratzern springen und die das nie überleben (Beleg). Je offensichtlicher etwas ist, desto eher können wir auf Begründung und Beleg verzichten (weil die Zuhörenden aus der Behauptung den Rest erschließen); manchmal nennen wir auch nur einen Beleg und verlassen uns darauf, dass sich unsere Zuhörenden die zugehörige Behauptung und Begründung schon erschließen können.

So weit, so banal. Spannender sind die verschiedenen Arten von Argumenten. Argumente müssen von den Zuhörenden anerkannt werden, damit sie in der Debatte wirken können. Anerkennung heißt hier nicht Zustimmung; es heißt nur, dass es als legitimes Argument anerkannt wird. Dazu kommt: Nicht jedes Argument ist gleich; wir räumen manchen Arten wesentlich höhere Bedeutung ein als anderen. Sehen wir uns die Familie kurz an:

Da wäre das Berufen auf Erfahrung. "Mein Erlebnis - oder das einer bekannten Person - ist X, daher Y." Dieses Argument gehört zu den schwächsten, und wenn es in der Diskussion auftaucht, ist die Stimmung meist bereits erhitzt - ein todsicheres Zeichen dafür, dass wir den Rahmen rationalen Debattierens verlassen haben und auf einen ausgewachsenen Streit zuschlittern. "Ich fahre ständig bei Tempo 200 auf der Autobahn und es ist noch nie etwas passiert!" würde in diese Kategorie fallen. Es ist eine ebenso wahre wie irrelevante Aussage, weil bei rund 40 Millionen Autofahrenden ein Einzelerlebnis niemals Grundlage einer allgemeinen Regel sein kann. Deswegen werden diese Argumente zwar üblicherweise anerkannt, aber ihnen wird wenig Bedeutung beigemessen.

Sehr beliebt ist auch der Hinweis auf Folgen. "Wenn wir X machen, dann passiert Y." Zentrale Eigenschaft dieses Arguments ist, dass es nicht überprüfbar ist. "Wenn wir ein Tempolimit einführen, wird die Zahl der Verkehrstoten sinken" ist zwar eine plausible, aber keine erwiesene Annahme. Dieses Argument wird von den Zuhörenden üblicherweise anerkannt, wenn die Plausibilität gegeben ist ("Das Tempolimit wird dafür sorgen, dass keine Unfälle mehr passieren" wäre unplausibel). Fast immer wird auf einen Hinweis auf Folgen ein gegenteiliger Hinweis auf Folgen entgegnet. Das Argument wird auch gerne mit dem Autoritätsargument kombiniert ("Laut X passiert Y, wenn wir Z machen"), dazu mehr weiter unten.

Völlig missverstanden ist das Faktenargument. Es beruft sich auf (zumindest theoretisch) objektiv nachweisbare Fakten. Ein Beispiel hierfür wäre: "Ein Auffahrunfall bei Tempo 100 ist wesentlich gefährlicher als einer bei Tempo 30." Objektiv völlig richtig, werden Faktenargumente gerne wie Totschlagargumente in Debatten eingebracht. Ich sage deswegen missverstanden, weil es in die Köpfe der Leute nicht hinein will, wie irrelevant Faktenargumente für Debatten sind. Denn relevant ist nicht das Fakt, sondern seine Interpretation. Klar ist der Unfall bei Tempo 100 gefährlicher als bei Tempo 30, aber aus diesem Fakt leitet sich nichts objektiv ab, weder eine Positionierung für noch gegen das Tempolimit. Diese folgt erst aus anderen Argumenten. Dieses Missverständnis sorgt dafür, dass eine Seite (oder, oft genug, beide) dem jeweiligen Gegner wutentbrannt vorwirft, die Fakten zu ignorieren. Das ist aber selten der Fall. Meistens werden bestimmte Fakten nur für irrelevant erklärt oder es werden andere Schlussfolgerungen gezogen.

Völlig verstanden dagegen wird das Autoritätsargument. "X sagt Y, daher ist es wahr." Auf den ersten Blick könnte man das mit dem Berufen auf Erfahrung verwechseln, aber das wäre ein Autoritäts-Trugschluss. Denn akzeptiert wird das Autoritätsargument erst, wenn die dahinterstehende Autorität als solche akzeptiert ist. Wir setzen uns kritisch mit dem Meinungsstreit von Streeck und Drosten auseinander, weil wir beide als Autoritäten akzeptieren; die Meinung von Tante Erna dagegen ist irrelevant. Autoritäten müssen dabei nicht Personen sein. Das Berufen auf (heilige) Texte (von der Bibel bis zum Kapital) ist ebenso beliebt wie das Berufen auf Studien und Statistiken. Sie alle sind Autoritätsargumente. Wir billigen ihnen vergleichsweise große Überzeugungskraft zu, weil sie im Gegensatz zu Faktenargumenten oder Hinweisen auf Folgen bereits mit einer klaren Argumentationskette verbunden sind. Fakten werden durch Autoritäten eingeordnet, Hinweise auf Folgen zu wahrscheinlichen und festen Mustern veredelt. Dementsprechend schwer ist der Widerspruch; wer keine eigenen Meriten auf dem jeweiligen Fachgebiet hat, braucht eine Gegenautorität. Glücklicherweise gibt es eine solche in pluralistischen Gesellschaften mit Meinungsfreiheit eigentlich immer; der erwähnte Streit Streeck vs. Drosten ist nur eines von unendlich vielen Beispielen.

All diese Argumente aber sind nicht sonderlich überzeugend. Ich kann sie im Gespräch im Dutzend billiger verwenden, sie berühren nie den Kern der Sache und werden in den seltensten Fällen mein Gegenüber überzeugen (wir werden so oder so in den seltensten Fällen unser Gegenüber überzeugen, aber das ist eine ganz andere Geschichte).

Die unbestrittene Königin der Argumente ist und bleibt deswegen das Wertargument oder normative Argument. Hierbei beruft man sich auf einen Wert oder eine Norm. Diese muss von den Zuhörenden als relevant eingestuft werden (ein christliches Menschenbild spielt etwa bei der Abtreibungsdebatte klar eine Rolle, beim Tempolimit eher weniger), um als gültig akzeptiert zu werden. Nichts ist uns so wichtig wie Werte. Sie sind das Fundament unserer Identität. Damit sind sie auch das Fundament unserer Argumentation. Wir sortieren unsere Fakten nach unseren Werten aus, bewerten Autoritäten nach ihrer Nähe zu unseren Normen, bewerten Erfahrungen anderer Menschen und ihre Hinweise auf Folgen danach, wie nahe sie an unseren Werten sind. Dieser Mechanismus ist unterbewusst und lässt sich nur sehr schwer unterdrücken; abschalten lässt er sich gar nicht.

In bundesdeutschen Debatten ist vor allem die Wertelinie von Freiheit vs. Sicherheit die wichtigste; auf ihr laufen mit Abstand die meisten Konflikte ab, so auch der vom Tempolimit. Aber von der Terrorismusgesetzgebung zur Zuckersteuer, von der Maskenpflicht zur Sozialgesetzgebung lassen sich die meisten Themen auf dieser Achse einordnen. Es ist die Sprache des Liberalismus, der das Wertefundament unserer liberalen Gesellschaft ist. Dieses Wertefundament, auch wenn es in Teilen harsch kritisiert wird, ist von allen relevanten Gruppen in Deutschland als Grundlage anerkannt.

Und das führt uns zum Tempolimit. Was wir in dem Ausschnitt aus der Pressekonferenz sehen konnten, ist ein Mangel an Faktenargumenten. Es gibt auch fast keine Fakten, die gegen ein Tempolimit sprechen. Das beste ist ein sehr moderater Zeitgewinn bei Nachtfahrten über die Autobahn, aber abseits davon gibt es nur sehr wenig. Die Befürworter eines Tempolimits haben dagegen extrem viel Faktenargumente auf ihrer Seite, von der Abnutzung der Fahrzeuge zur Sicherheit zum Umweltschutz zur Lärmbelastung. Nur, das ist völlig irrelevant, denn das sagt nichts über die Güte oder Relevanz dieser Argumente aus.

Vor dem 24. Februar 2022 waren die Retorten auf all diese Fakten ziemlich deutlich. Der Effekt auf den Benzinverbrauch ist ebenso überschaubar wie der auf die Emissionen. Krach machen Autobahnen auch bei 130, und einen Unfall überlebe ich zwar bei Tempo 200 mit Sicherheit nicht, aber bei Tempo 130 sind meine Chancen auch verschwindend gering. Und so weiter. Keines dieser Myriade von Faktenargumenten kann überzeugen. Dasselbe gilt für Hinweise auf Folgen, die ja meist mit den Fakten vermischt werden.

Das Problem der Schnellfahrfans ist nur der 24. Februar 2022, weil das radikale geänderte politische Klima gerade die beiden üblichen Argumentationsarten gegen das Tempolimit politisch etwas unopportun gemacht hat. Da wäre einerseits das Berufen auf die persönliche Erfahrung, womit besonders Ulf Poschardt in den letzten Monaten gerne reüssiert hat: "Mir macht es sehr viel Spaß, schnell zu fahren." Ein offensichtlich wahres Argument, dem sich nur schwer entgegnen lässt, dass dem nicht so sei.

Aber wesentlich relevanter ist das damit verbundene Wertargument, das mal mehr, mal weniger offen ausgesprochen wurde. Paraphrasiert: "In einer liberalen Gesellschaft ist es die Sache jeder einzelnen Person, eigenverantwortlich die Geschwindigkeit zu wählen, in der sie ihr Fahrzeug über die Autobahn bewegt. Diese Freiheit steht höher als die bescheidenen Gewinne an Sicherheit und Sauberkeit." Man hat diese Argumentation jahrelang beständig bemüht (im Übrigen auch erfolglos gegen die Einführung des Sicherheitsgurts oder das Rauchen in öffentlichen Verkehrsmitteln). Warum also jetzt die Sprachlosigkeit des FDP-geführten Verkehrsministeriums?

Der größte Vorwurf, der gegenüber dieser Argumentationslinie stets gebracht wurde, ist der des Egoismus. Er kann nur mit viel Freundlichkeit als Argument bezeichnet werden und ist eigentlich ein ad-hominem-Trugschluss, was sicherlich zu erklären hilft, warum die Befürworter*innen eines Tempolimits stets so erfolglos in seiner Durchsetzung waren. Nur hat die "Zeitenwende" des russischen Angriffs auf die Ukraine die eingefahrenen Argumentationsmuster zumindest vorübergehend durcheinandergebracht. "Ich will aber gerne schnell fahren" ist eine Sache, die man in früheren Zeiten problemlos mit dem Liberalismus begründen konnte; in einer Zeit, da der Verbrauch fossiler Energieträger im Geruch einer Kollaboration mit dem Feind im Kreml steht, ist diese Argumentationslinie dagegen wesentlich problematischer.

Kurzum: die alten Wertargumente sind politisch plötzlich eine Belastung, wurden von Gewinnern zu Verlieren. Daher die merkwürdige Situation, dass in einer Pressekonferenz ein Ministeriumssprecher sich mit "Weil der Koalitionsausschuss das so entschieden hat" herauszureden versucht, während sein Kollege vom Umweltministerium das zwar bestätigt, aber gleich alle Faktenargumente und Hinweise auf Folgen auflistet, die für ein Tempolimit sprechen. Konkret beruft sich die FDP auf die Autorität des Koalitionsvertrags, und es muss nicht extra erwähnt werden, dass es sich dabei um eine sehr dünne Autorität handelt.

Lange Rede, kurzer Sinn: wer in meinem Deutsch-Unterricht gut aufgepasst hat weiß, warum die Pressekonferenz so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist. Völlig ungeachtet der eigenen Haltung zur Frage eines Tempolimits.

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